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Donnerstag, 16. Juli 2015

Wir gründen eine Sekte


J.M. rief um 1 Uhr 17 an. Ich fragte ihn, ob er um diese Zeit eine Vision gehabt hat, als ich ihn später am Abend telefonisch erreiche. Er: Ich dachte, du bist der Nachtrabe von früher, was ich weder dementieren noch bestätigen wollte. Eigentlich wäre es doch an der Zeit, mit ihm eine Sekte zu gründen. Wenn die Kunst zu eng wird, wird man Sektenführer. Allerdings weiß ich noch nicht, welches Programm die Sekte haben soll und wer einfach nur Kassenwart oder die Reinheit der Lehre verkörpert, also der höchste Meister ist. Ich glaube, ich sollte J. den Weg dafür frei machen und lieber im Hintergrund arbeiten. Vielleicht als Schriftführer. Wie lautet der Name unserer Sekte? Gesellschaft zur ekstatischen Entwicklung des Menschen? Klingt gar nicht schlecht, aber zu sehr nach Gurdjieff. Auf jedem Fall sollten wir die Emblematik fernöstlicher Philosophien wie Buddhismus, Hinduismus und Tantrismus meiden. Wir haben das alles gelesen und könnten es unseren Jüngern vermitteln, in die Programmatik einstreuen, synonyme Begriffe dafür verwenden, die Scharade der Heilserwartungen in Bewegung setzen. Magie, Tantrismus, Nagualismus, Schamanismus – all das ist ein anwendbarer Teil von uns, aber nicht unser Programm, unser Etikett. Und oft ist ja bei einer Sekte das Etikett wichtiger als der Inhalt. Natürlich brauchen wir Aufmerksamkeit, ein spektakuläres Heilsversprechen. Unsterblichkeit könnte das sein. Nicht im metaphorischen sondern im tatsächlichen materiellen Sinn. Wir behaupten, dass niemand in seinem Körper zu sterben braucht, der es nicht will. Der Körper ohne Organe Artauds als Geschäftsmodell, das Theater der Grausamkeit als Bewegungstherapie. Ansonsten sollte unsere Gesellschaft etwas mit Hirnforschung und Cyberspace zu tun haben, mit John C. Lilly und den Programmen des menschlichen Biocomputers, mit Wolf Singer, C.G. Jung und William James. Natürlich auch Friedlaender, Rimbaud, William Blake, Castaneda – aber mehr „irgendwie“, auf der Trickster-Ebene. Eine Sekte als Parodie einer Sekte. Jahresgebühr: 100 € für alle freien Mitglieder.

Mittwoch, 8. Juli 2015

Fegefeuer der Gravitation

Hitler hört die VOYAGER GOLDEN RECORD

„Du sollst dir kein Bildnis machen!“, hat es einmal geheißen, aber das ist lange her. Das Bilderverbot, einst zum Schutz vor falschen Götzen ergangen, hat in der Postmoderne ausgedient. Keines der zehn Gebote, muss man wohl feststellen, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem derart eklatanten Misserfolg entwickelt wie das zweite. Jedenfalls überflutet uns der spätkapitalistische Lebensstil mit endlosen Bilderströmen, und da mutet die durchaus ansehnliche wissenschaftliche wie metaphorische Karriere von etwas prinzipiell Unsichtbaren schon erstaunlich an. Und doch hat sich eine bestimmte Klasse von ziemlich abstrakten astronomischen Objekten, deren präzise Bedeutung naturgemäß kaum ein Laie versteht, zu einem ziemlich lebendigen Teil dessen gemausert, was einmal Allgemeinbildung hieß und sich inzwischen in einen kunterbunten Fundus aus Junk-Wissen verwandelt hat, der beim Magazin-Lesen oder abendlichen TV-Zapping irgendwie hängengeblieben ist.

Die Rede ist von Schwarzen Löchern, jenen geheimnisvollen End- oder Angelpunkten der Fantasie und des Universums, deren theoretische Möglichkeit vor zweihundert Jahren erstmals von dem französischen Physiker Pierre Simon Laplace in Erwägung gezogen und zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts von dem deutschen Astronomen Karl Schwarzschild aus der einsteinschen Relativitätstheorie hergeleitet worden ist. Allerdings hat es danach noch sechs Jahrzehnte gedauert, bis 1971 der Röntgensatellit UHURU im Sternbild des Schwans ein Objekt aufgespürt hat, dessen eigenartiges Verhalten sich als indirekter Beweis für die Anwesenheit eines Schwarzen Lochs interpretieren ließ. Und genau vor zwanzig Jahren, am 9.1.1983, gaben die Amerikaner Anne Cowley und David Crampton die (freilich ebenso indirekte) Entdeckung des ersten extragalaktischen Schwarzen Lochs in der Großen Magellanschen Wolke bekannt, das seither den charmanten Namen LMC X-3 trägt.

Schwarze Löcher sind unsichtbar, aber sie sind nicht wirkungslos – im Gegenteil: Sie dominieren und verschlingen alles in ihrer Nähe, und wahrscheinlich liegt es daran, dass sie unsere Fantasie so hartnäckig in Gang setzen. Sie sind das Gespenst in der Dunkelheit oder das verdrängte Trauma, der grundlose Luftzug oder die vermeintliche Kraft aus dem Jenseits. Und wenn die Zeiten es hergeben, dann entpuppen sie sich sogar als die gefräßigen Bewohner von Staatskassen oder als populärwissenschaftliche Verkaufsschlager. Selbst im Cyberspace ist – wie eine schnelle Google-Recherche ergibt – bereits ein Schwarzes Loch ausgemacht: der Irak.

Der metaphorische Clou bei Schwarzen Löchern ist aber vielleicht weniger ihre ewige Dunkelheit, sondern vielmehr ihre naturgesetzlich garantierte Unerforschbarkeit. Darin liegt übrigens ein durchaus ernsthaftes und vieldiskutiertes theoretisches Problem: Wenn nämlich Information in Form von Licht oder Materie in ein Schwarzes Loch hineinzufallen vermag, aber prinzipiell keine Nachricht aus diesem herauszubekommen ist, dann stört diese Asymmetrie von Geben und Nehmen nicht nur das theorieästhetische Empfinden von weltbekannten Kosmologen wie Stephen Hawking, sondern auch die Gültigkeit bestimmter fundamentaler Sätze der Thermodynamik. Der einzige Ausweg aus dieser Zwickmühle besteht denn auch in der Annahme, dass überhaupt keine Information in Schwarze Löcher zu fallen vermag, sondern alles Ankommende auf deren Oberfläche abgespeichert wird, um gegebenenfalls (beim sogenannten Verdampfen der Löcher) wieder freigesetzt zu werden. 

Dies mag irgendwie verstiegen und unwahrscheinlich klingen, doch man überlege sich die Konsequenzen für unsere nicht nur von Bildern, sondern mit Unmengen von Informationen überschwemmte Zivilisation. Was, wenn am Ende der Zeiten – wie es die Theorie vom entropischen Tod des Universums voraussagt – alle Schwarzen Löcher verdampften und die von uns produzierte und auf deren Oberflächen gefangene Information, sämtliche Sportnachrichten, die „Lindenstraße“ und noch der flaueste Comedywitz, wieder freigesetzt würde, um erneut das Universum und unsere darin herumtreibenden Seelen zu überschwemmen? So unwahrscheinlich ist das vielleicht gar nicht, denn zumindest unter dem Gesichtspunkt, dass Schwarze Löcher ebenso sehr Metaphern wie astronomische Objekte sind, dürfte es eine präzisere Charakterisierung dessen, was uns einst als Fegefeuer für unsere Sünden angedroht worden ist, kaum geben.

Ulrich Woelk

(2003)

Eine neue Künstleredition von Ulrich Woelk (soeben erscheinen):

Das letzte Buch von Ulrich Woelk


Donnerstag, 2. Juli 2015

Lukas Lindenmaier / Die Pilzfreunde

CD: Von Röhren und Lamellen


In memorian Lukas Lindenmaier (1946 – 2014)

Lindenmaier war als Schlagzeuger zunächst Autodidakt, absolvierte jedoch Workshops bei Jörn Schipper, Doug Hammond und Max Roach. Seit 1983 arbeitete er mit dem „Workshop Orchestra“ von John Tchicai, mit Muneer Abdul Fataah und vor allem mit Harald Kimmig und Uwe Martin bzw. Georg Wolf als „Kxutrio“, das auch mit Gästen wie Maggie Nicols oder Irène Schweizer auftrat. Er war 1986 Stipendiat der Kunststiftung Baden-Württemberg. 1987 gründete er mit Kimmig das F-Orkestra, das auch mit Buddy Collette und mit Peter Kowald als Gastsolisten wirkte. In Formationen um Cecil Taylor trat er ab 1988 in Berlin und auf der documenta IX auf. Lindenmaier war Gründungsmitglied des „Freiburger Forums für improvisierte Musik“, komponierte und spielte Bühnenmusiken für das Freiburger Theater. 1994 trat er mit Tomasz Stańkos Rhythm Brass Four und mit Hartmut Geerken auf, am 21. März 2000 im Südwestrundfunk Freiburg „Von Röhren und Lamellen. Eine mykologisch-literarisch-musikalische Exkursion. Live-Elektronik & Performance“ (Rundfunkkonzert) mit Hartmut Geerken, Christine Engel und Frank Rühl (Die Pilzfreunde), 2001 mit dem Flötisten Nils Gerold beim „Festival Improvisationen“ in Bremen. Mit seiner Sunday Afternoon Jazz Society spielte er 2006 auf dem Gipfel du Jazz. Ab 2007 spielte er Schlagzeug bei der Freiburger Jazzgruppe La Mouche Qui Pète.

(Quelle Wikipedia: Leben und Wirken)

Komplexe Prozesse und Klangvernetzungen im Raum-Zeit-Kontinuum führten Die Pilzfreunde zusammen. Dank der günstigen Substratkomposition entwickelte das Trio schon in der frühen Saison ein außergewöhnliches velum universale, aus dem sonore Röhrlinge, pulsierende Lamellenklänge und morchelförmige Tonstrukturen hervorbrechen. Im Spannungsfeld mehrdimensionaler Myzelstrukturen und elektrifizierten Sporenflugs wachsen universell-melanospore Tuberalklänge mit dem fanalen Zentrum Pérlgard, Aosta und Sausalta. Immer wiederkehrende Formfolgen aufgrund fanaler Sklerotia und/oder rhythmischer Antibiosen faszinieren auch ein von amanitischen Chaos verunsichertes Publikum. Die Pilzfreunde lassen unter besonders günstigen Bedingungen jedenfalls unkontrollierte Hexenringe wachsen. Die Warnung des amtlichen Pilzberaters bewahrt Sie nicht vor möglichen Infektionen.

(Aus einer Selbstdarstellung der Pilzfreunde)

Soeben erschienen:


Die Pilzfreunde & Hartmut Geerken Von Röhren und Lamellen
Musik: Christine Engel, Frank Rühl, Lukas Lindenmaier und als Gast Hartmut Geerken. 
Audio-CD in der Reihe Elektronikengel. Limitierte Auflage.

Order:

Donnerstag, 25. Juni 2015

Deutsche Bahn-Stereotypen Richtung Pforzheim


Heute streiken die Lokführer nicht. Ich nehme den ICE 595 am 18. Mai 2015. Der fährt vom Berliner Hauptbahnhof auf Gleis 13 planmäßig um 7 Uhr 34. Ich habe online gebucht, Bahn Card 25, Sparpreis – Berlin Pforzheim und Pforzheim – Berlin zum Preis von 178,75 € inklusive 29,54 € Mehrwertsteuer und 1,75 € Zahlungsmittelentgelt. Die Fahrkarte gilt nur für eingetragene Züge. Butter gibt es nicht mehr in den Speisewagen und an den Bahnhöfen. Der Belag der Sandwiches heisst Remoulade und so mutieren alle Speisewagen, Bistros, Bäckereien und Bord-Cafés zu Remoulade-Stationen. Das beste ist, man nimmt Brötchen, Brote und Brezel ohne Belag. 
Der Zug fährt pünktlich ab und verlässt die engen Gleise des Berliner Hauptbahnhofs mit ihren transparenten Schutzvorrichtungen, die den Blick bis in die untersten Tiefgeschosse dieses Hartmut-Mehdorn-Monstrums freigeben. Therapeuten können diesen Ort mit ihren Klaustrophobie-Klienten besuchen, um sie von ihrem psychischen Handicaps zu befreien. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen das vermutlich, obwohl die Suizid-Rate am Berliner Hauptbahnhof nicht signifikant angestiegen ist. Seit dem Unglück von Eschede mit 101 Toten, den ich bereits gebucht hatte, um anschliessend die Reise zu stornieren, heisst kein ICE mehr Wilhelm Conrad Röntgen. 
Im Großraumwagen finde ich gleich einen Platz, beginne mit den Zeichnungen der Deutschen Bahn-Stereotypen. Gegenüber unterhalten sich Vertreter über Adobe-Software, die sie aber nicht vertreiben. Und einer glotzt immer auf sein Smartphone-Display. Samsung 5,5 Zoll. Bartträger, vermutlich intim rasiert. Ich werde fortgejagt von einer Platzkarteninhaberin. Sie entschuldigt sich, tut ihr leid, der Stereotyp der Bahnleserin, skandinavische Literatur, 20. Jahrhundert. Es gibt die Bildschirm- und die Büchergucker. Und vereinzelt auch die Fenster-Glotzer. Und manche haben auch die Augen geschlossen, öffnen sie von Zeit zu Zeit schläfrig, um auf irgendwelche Profilbildchen in den sozialen Netzwerken zu schauen. Facebook, XING, You Tube, Linkedin…Der ICE als örtliche Narkose unter Diazepam und Propofol – wie vor der Darmspiegelung. Alle Platzanzeigen sind falsch. Menschen, die erst ab Braunschweig hinzusteigen sollten, sind jetzt schon da. Ich suche einen neuen Platz, zeichne weiter. Dann fragt mich ein Mädchen, ob neben mir noch ein Platz frei sein würde. Wenn es sein muss, ja. Kurz darauf ein Bartträger, dessen Platz ich belege. Ich habe genug, nehme das Blatt mit der halben Zeichnung und betrete ein geschlossenes Abteil. Ist hier noch frei? Keine eindeutige Antwort, nur müde Blicke. Einer tippt, der andere schläft. Nein, er schläft doch nicht sondern hört ein Hörbuch. Ich nehme vereinzelte Sätze wahr wie „Mit seinem Cabrio fand er genau die Parklücke, die sie für ihn vorgesehen hatte.“ Ist das ein sublimierter Porno für Psychologiestudenten? Dann höre ich nur noch die Tastenanschläge. Autisten bei der Arbeit. Niemand zeichnet oder schreibt mit der Hand. Der Hörbuch-Hörer grinst manchmal unverbindlich vor sich hin. Ich habe kein Netz. Auf der Rückseite der Zeichnungen notiere ich Uhrzeit, Ort und Datum. Da ich keine richtige Verbindung zum Satelliten habe, baut sich die Landkarte auf dem Bildschirm nur langsam auf. Zum anderen kann ich sie schlecht erkennen und so rate ich ungefähr meine Position nach dem Ende einer Zeichnung. Ich notiere Orte, von denen ich noch nie etwas gehört habe: „In der Nähe der Wüster Siedlung, 8:16 Uhr“ oder „Ein Stück von Weteritz entfernt, 8 Uhr 34“. Das Hohenstetter Holz muss bei Braunschweig liegen. Manche Orte bleiben auch unbestimmt – blinde Flecken in der Landschaft, kartografische Verstümmelungen. Die Zeichnungen entstehen in den Streckenabschnitten zwischen den großen Bahnhöfen. Wie viele Platzkartenbesitzerinnen lesen die Prominentengeschichten im Deutschen-Bahn-Magazin „Mobil“? 11 Prozent? In diesem Abteil ist keine. Der Tasten-Autist verlässt den ICE in Hildesheim. Manchmal  mache ich die Augen zu, aber das ist verschwendete Zeit. Ich will fertig werden mit dieser Serie. Pro Zeichnung 25 oder 35 Minuten, pro Buch 16 Seiten. Ich muss mich beeilen. Die Fahrt nach Pforzheim dauert weniger als 8 Stunden. Eine Frau in einem blauen Business-Hemd, entweder Diakonin oder Pädagogin ersetzt den Laptopanschläger, liest Victor Hugo im Original und verlässt das Abteil wieder in Fulda. Zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Fulda rauche ich eine „Salem“ auf der Bahntoilette. Die Zigarrettenmarken „Salem“ und „Eckstein“ gibt es schon seit Jahrzehnten, aber ab Juni 2015 existieren sie nicht mehr und werden dann „Reval“. Das heimliche Rauchen kenne ich noch aus der Schulzeit, wo wir uns in den Büschen am Sportplatz der Realschule versteckten oder hinter dem Edeka-Markt – immer wachsam, dass uns die Lehrer nicht entdeckten. Nun hat mich diese Zeit im reifen Alter auf der Bahntoilette wieder eingeholt. Danach gehe ich ein paar Schritte zwischen den Abteilen, stehe auf einem Bein, schüttele meine Arme. Dies wird bald zum allgemeinen Erscheinungsbild der Reisenden gehören, wenn sich die Apple Watch demnächst bei den Konsumenten durchgesetzt hat und sie jede Stunde an den Slogan erinnert „Sitzen ist der neue Krebs“. Die sogenannte Smartwatch löst dann am Handgelenk einen Vibrationsalarm aus und ihre Trägerinnen und Träger machen dann leichte Dehn-Übungen im Abteil oder joggen kurz durch den ganzen Zug bis zum Panoramawagen. 
Der Anteil der Bartträger hat sich im Verhältnis zu den Glattrasierten erhöht, wobei die Hipster- und Salafisten-Bartträger Brust- , Achsel- und Intimhaar rasieren während die Glattrasierten körperbehaart bleiben. Der Trend hat auch schon die Silverrücken mit ihren schwarzen Nerdbrillen und grauen Rollkragenpullovern erfasst; gleichgültig, ob sie FAZ, Süddeutsche oder Lettre lesen. 
Mein Hörbuch-Schläfer bekommt einen Anruf. „Guten Tag, Herr Berger…Ja…Ja…Ja…Hm…Ja, gut…Ich schaue es mir an, wenn ich im Büro bin…Schönen Tag noch und vielen Dank für die Info…“ Beschissene, stereotype Freundlichkeit. Wie in Godards Aphaville: Wie geht es Ihnen? – Ausgezeichnet, Danke/Bitte. Ohne sich zu verabschieden, steigt der in Frankfurt/Main aus und wird von einem Haudegen mit langem Nasenhaar und Analoguhr ersetzt. Der fährt mit mir bis Mannheim und macht tatsächlich nichts. Schaut nicht auf irgendeinen Bildschirm, liest auch in keinem Buch, kaut nicht, schluckt nicht und glotzt auch nicht aus dem Fenster. Sehr angenehm.
Mannheim ab 12 Uhr 36, Karlsruhe an 12 Uhr 58. Weiter soll es in Karlsruhe ab 13 Uhr 6 bis zu meinem Reiseziel gehen. Aber der Zug fährt nicht, fällt aus. Gegenüber steht ein anderer mit Reiseziel Pforzheim ab 13 Uhr 21. Der fällt auch aus. Ich höre „Reisende nach Pforzheim steigen bitte in den ICE nach Hamburg auf Gleis 10 um 13 Uhr 10“. Ich frage eine Zugbegleiterin auf Gleis 10. „Pforzheim? Davon weiß ich nichts. Darüber haben wir keine Info“. Der Zug fährt ohne mich ab – über Bruchsal und Heidelberg. Man sagt mir beim überfüllten Service-Point der Deutschen Bahn, dass ich auf Gleis 8 den Zug nach Karlsruhe-Durchach nehmen soll, um von dort mit der S-Bahn nach Pforzheim zu fahren, aber auf Gleis 8 fährt kein Zug nach Durlach. Die S-Bahnen zur S-Bahn fahren auf Gleis 4. In Durlach wissen sie nicht, wann die S-Bahnen nach Pforzheim fahren. Vermutlich unregelmässig. Mal kommt eine nach 5 Minuten, mal nach einer Stunde. Aber sie fahren auf Gleis 11. Ich habe Glück. Meine fährt bereits schon in 6 Minuten, aber die hält dann auch auf jedem Bahnhof alle 1 bis 2 Kilometer und manchmal bis zu 10 Minuten. Neben mir sitzt eine Dame aus Pforzheim mit einer Halbtagsstelle in Karlsruhe. Letzte Woche war sie auf dieser Strecke etwa fünf Stunden unterwegs, musste mit anderen S-Bahn-Reisenden auf einem dieser namenlosen Bahnhöfe ohne Café, Sitzgelegenheit und Ansprechpartner drei Stunden lang warten.
Niemand konnte darüber Auskunft geben, wann die Reise weitergeht. Normal dauert die von Karlsruhe 25 Minuten.
Ich habe Glück. Nach einer Stunde komme ich in Pforzheim an, setze mich in ein Café und sehe einen gehbehinderten Mann mit seiner Krücke über eine Stufe stolpern und vor mir zu Boden stürzen. Ich helfe ihm auf. „Haben Sie sich verletzt?“ – „Nein, geht schon.“

(H.A.)

Donnerstag, 11. Juni 2015

VERLOREN – GEFUNDEN, FOLGE VI – JOSHUAS GARAGE


Es ist vernünftiger, nichts Neues zu beginnen. Mit dem Alten weitermachen, bis mir nichts mehr einfällt. Ich bin schon angekommen: mir fällt nichts mehr ein.  Diese Zeilen habe ich 1985 dem grossen Dramatiker Samuel Beckett geschickt. Dem Brief fügte ich die Notiz bei: "Ich habe immer studentisch gelebt, ohne studiert zu haben." Beckett antwortete mir damals: "Sie müssen dort weitermachen, wo ihnen nichts mehr einfällt." An diesem Punkt bin ich jetzt.  Lästiger Besuch von einem Typen, der mir seine Gedichte vortragen wollte. Um 9 Uhr 30. Erst sollte ich sie mir anhören, dann in den icv einscannen, um das ganze im Copycat zu klonen. Der Typ bot mir kein Honorar an. Er brachte Himbeertee mit Ananasgeschmack. Ich bin kein unhöflicher Mensch: also trank ich den Tee. Dabei erinnerte ich mich an das ganze Elend der Bewohner von Holzminden, die in der Nähe der Geruchsstofffabrik DRAGACO leben. 

Ich selbst habe ein solches Elend nie kennengelernt. Kleingarten in der Nähe von vollsynthetischen Düften mit Blutwurst und Jasmin, unbezahlte Hypotheken und vor allem - keine Haustiere. Die Tiere hatten als erste die Umgebung verlassen und die Menschen mähten ihre toten Rollrasen und harkten pedantisch ihre ertragslosen Gemüsebeete. In der Dämmerung flimmerten hinter den gardinenbehangenen Fenstern die Schwarzweiss-Fernseher der arbeitslosen Immobilienbesitzer, welche ihre Breitbandkabel illegal gelegt hatten. 

Nein, meine Garage war immer geräumig und sehr modern eingerichtet. Natürlich: hier ist die Wiege der modernen Kommunikationsmittel: Interceiver, CC, Copycat und Quark-Net - an all diesen Erfindungen war ich beteiligt. Das Wort "Kommunikationsmittel" ist mir dabei beinahe zu kalt, zu unmenschlich. Die Technik ist etwas zutiefst Irrationales und Emotionales. Ich durfte dazu beitragen, sie zu vermenschlichen. Der Interceiver hat etwas warmherziges und seelenvolles. Die "Nostradamus"-Serie schon nicht mehr so stark, wie die ersten Modelle, an deren Marktpräsenz ich beteiligt war. Mit dem Interceiver Paracelsius 7.7 verbinde ich die schönsten Erinnerungen: den Glauben an eine vollkommen harmonisch gestaltete Welt, bevölkert von gnadenlos gut aussehenden und gesunden Bewohnern. 

Eine Welt ohne Krankheit, ohne Negativismen und Nihilismen. Und jetzt dieser Typ mit seinem Himbeertee. Sagt: "Ich hab schon viel von Ihnen gehört. Können Sie mir helfen." Ich konnte. Die Konsequenzen waren verheerend. 99 haikuähnliche Gedichte als eine Hommage an den Lambrusco-Landwein der 1970er Jahre, eingescannt in den icv und als anonyme Quark-Mail im Copycat dreimillionenfünfhunderttausendundsechshundertneunundneunzigfach verbreitet. Das musste vorher seinen Preis haben. Ich ließ den Typen ein Formular unterschreiben, indem er sich verpflichtete, 15 Ampullen seines Blutes kostenlos bei mir abzugeben. Ich werde diese Proben später für gutes Geld an den AMINO-MASTER weiterleiten. Zugegeben, der Name dieser AG wirkt unbeholfen und ungeschmeidig, aber sie haben sich einen Namen mit der Produktion von Gensequenzern gemacht. Aber was will man mit den Genen dieses Typen?. Gemüseladenbesitzer klonen, die Kiwis mit Bananengeschmack verkaufen? 

Gegen 10 Uhr kam Matthias Grupe in die Garage. Ein immer wieder gern gesehener Gast, den ich schon damals im Anglizistikseminar in der Weender Landstraat schätzen gelernt habe. Wir waren damals die einzigen Deutschen, die sich an der Universität Groningen immatrukuliert haben. Eigentlich besuchte ich die Seminare nur wegen Matthias. Schon damals interessierte er sich brennend für die amerikanischen Sezessionskriege und den Calhoun-Clan und war ein glühender Verehrer des Historikers und Schriftstellers Dean Vandyke. Er verfolgte die Geschichte der MOVELIANS, einer Glaubensgemeinschaft, deren Mitglieder schon damals eine Strategie der unbegrenzten Geldvermehrung und des wirtschaftlichen Aufschwungs mit tiefenpsychologischen Erkenntnissen und
magisch-rituellen Praktiken verbanden. Die MOVELIANS liessen ihn nicht mehr los; manchmal glaubte ich, er konnte nur eine direkte Inkarnation des ersten MOHWEL sein, ohne davon zu wissen. Die MOHWELIANER würden ihn wiederfinden, wie die tibetischen Buddhisten ihren DALAI LAMA.

Matthias trat ein, den icv locker wie einen Hermelin um seine Schultern geworfen und sagte: "Hi Joshua, hast du noch den Code für Jean Vandykes Buch." - "Welches Buch meinst du? Die Geschichte der Blutopfer bei den Mohwelianern? oder "I BELIEVE! HISTORY OF THE MOVELIANS?". Matthias meinte letzteres: also den 16tausend seitigen Wälzer, unterteilt in 80 Bänden - das Standardwerk über diese Glaubensgemeinschaft. OK! Search! Van Dyke! MOVEL THE MOVELIAN! QUARK-NET HIGH-SPEED MEGA-INFORMATION. PRINT. CODE: LINSEL-DR-LICHTBILDER-30JÄHRIGER KRIEG. Wir mussten warten. 16.000 Seiten in 15 Minuten, immerhin.

Dienstag, 2. Juni 2015

VERLOREN – GEFUNDEN, FOLGE V – Mohwel. Neue Lieferung (M.--00--07---10./002)

Copycat Vandyke
Diese gedanken echoten nun in seinem kopf, und ein bild entstand: fusselbärtchen, abgewetzte cordlatzhosen, eine handbewegung zum zurechtrücken der nickelbrille. Imagination und reminiszenz erzeugten eine kleine innere filmsequenz: zwei, drei langsame schritte, grobmaschiger bauschiger wollpullover fällt über die abgewetzte graue cordlatzhose, die jetzt in die knie geht, vor der fleckigen alten weinkiste, die hier umgedreht als kaffeetischchen dient. Zwei hände aus weiten, langen bauschigen ärmeln setzen zwei selbstbemalte schälchen, die mit dampfenden tee gefüllt sind, vorsichtig auf dem holz ab. - Zucker? -- Nein, nein. -- Vorsichtig, ist noch heiss. Oder ich guck gleich mal, ob noch rum da ist. Und du kannst schon mal deine texte auspacken.-

TK war das; er sah noch dessen gesicht vor dem seinigen, die hand von TK am bärtigen kinn, nachdenklich, dann glitt die hand hinauf zur brille und rückte sie zurecht. Natürlich war auch der geruch gleich wieder da. Ein film aus celluloid bietet diesen service nicht: den geruch nach ungelüftetem zimmer, zahlloser selbstgedrehter rauch und was auch sonst noch. TKs kleiner grobkörniger schwarz-weiss-tv mit zimmerantenne. Aber ist hier Theodore Köpfen? Der andere bedingt offensichtlich den einen. Aber bedingt auch der eine den anderen?

Gegenüber der couch wartete wortlos die arbeit. Aber an recherche war zur zeit nicht zu denken. Mohwel. Die Mohwelianer. Die Münsterer. Oben auf einem der hinteren stapel, links vom cc musste sein favorit liegen, eine schmale, in segeltuchfarbenes leinen gebundene arbeit, die studie von Viincent Linsel: - Mohwel. Der selbstreferentielle Mythos --, und der gedanke an Linsels werk (Tübingen 1990) war jetzt noch angenehmer als vorhin der an den interceiver. 
Doch zerstreuender war es, an Theodore Köpfen zu denken, an das burleske, versatzstückhafte seiner manifestationen; genau das waren gerade die wörter: - das burleske, versatzstückhafte seiner manifestationen -, an seine undefiniertheit - - undefiniertheit?

Wieder löste er sich von seinen gedanken zugunsten eines blickes auf die beiden unweit voneinander im nun wärmeren nachmittagslicht schwefelgelb blinkenden lampen an pc und cc. Am icv tat sich nichts; er war noch (unleserlich) und daher auch an der info-maintenance des webs unbeteiligt, die seit nunmehr fast fünf wochen die speicher füllte. in den ersten zwei wochen war es recht chaotisch zugegangen; er hatte zu beginn mit viel zu vielen und viel zu undefinierten issues in der maintenance gearbeitet, was dazu geführt hatte, dass seine unschuldigen boxen plötzlich mit den brambarisierten elaboraten unzähliger zugedröhnter semireligiöser sektierer vornehmlich US-amerikanischer provinienz zugeschwallt worden war. Insbesondere der wiedertäuferkomplex schien es den leuten angetan zu haben; er hatte einiges überflogen und festgestellt, dass die Münsterer demnach für Mutter Theresa ebenso verantwortlich waren wie für Charles Manson. Inzwischen aber hatte er seinen wissenzufluss kanalisiert, und das schwefelgelbe augenpaar war ebenso seltener wie kostbarer geworden. 

- Ich muss montag unbedingt dem hinweis auf Vandyke nachgehen - fiel ihm plötzlich ein. In den letzten tagen war mehrfach das monumentale standardwerk Dean Vandykes über die zeit der amerikanischen sezessionskrieges in bezug auf die Mohwelianer genannt worden; der begriff - movelians - kam dort offensichtlich einige male vor; er soll etwa der zur mitte des 19. jahrhunderts ebenso politisch wie wirtschaftlich mächtige Calhoun-clan aus Mohwelianern bestanden haben. - Aber ich will wissen, was sonst noch drin steht. Vielleicht das erste, was ich mit dem icv mache? Ich fummele mal morgen ein wenig mit dem ding rum, geb schonmal den code für Vandykes buch ein, titel weiss ich schon gar nicht mehr, erschienen Syracuse 1978, egal, muss sowieso nochmal gucken wegen des codes. Titel
brauch ich doch gar nicht, könnte den code doch aber auch mit dem icv erfragen, wozu ich den titel wohl doch bräuchte, oder ich bekomme alle titel vorgeschlagen. Egal, ich schau morgen mal, wie ich damit zurechtkomme. Dass ich das am montag gleich machen kann.-

Am liebsten alles mit dem icv machen. Sich gegen 10 uhr auf den weg zu Joshuas garage machen. Den icv - montierbar an manschette, gurt, armaturenbrett, nachttisch, badewannenrand, sonstwo - zücken, auf E-trans gehen, die nötigen codes und begriffe eingeben, - ich werde mir alles ins Copycat kommen lassen; mal sehen wie es klappt -, senden, und dem etwa auf halbem wege zu Joshuas garage kurz hinter der Blücherstrasse gelegenen Copycat zustrebend auf ein fröhliches akustisches signal als zeichen einer gelungenen aktion warten. Der zu einem schwarz gefüllten neuneck geometrisch stilisierte katzenkopf mit dem darin aus pro buchstabe unterschiedlichen schrifttypen zusammengesetzten weissen schriftzug - Copycat - über beiden eingängen. Die unverkennbar studentische atmosphäre. Dünner kaffee in geriffelten pappbechern. Aber hier gab es eigentlich immer freie stationen, insbesondere am montagvormittag, und das stete summen und tastenklappern, die gedämpften unterhaltungen hinter der tür zur raucherzone hatte er schon richtig liebgewonnen.

Mittwoch, 27. Mai 2015

Viktoriya Me

Post an Viktoriya bitte an
vikashining@yahoo.com 
Tag netter Unbekannter!
Ich suche einen lieben Mann fur eine feste Beziehung.
Wollen Sie eine Frau kennenlernen, die fur Sie ausgebildete Gesprachspartnerin und zartliche Lebenspartnerin sein wird?
Diese Welt ist instabil und nur die Liebe kann grosse Freude bringen.
Ein paar Worte uber mich:
Ich bin Viktoriya, Ich bin 25 Jahre alt.
Ich bin eine ledige, interessante, ehrliche und offene Frau.
Ich will das Leben mit einem gutem und entgegenkommenden Mann geniessen.
Ich liebe Tiere, ich bin wissbegierig und kuhn.
Zweifel gefallen mir nicht, und manchmal bin ich sehr indiskret.
Ich rauche nicht und fuhren einen gesunden Lebensstil.
Deine Faszinierende Viktoriya


Liebe Viktoriya,
entschuldigen Sie, dass ich Ihnen erst heute antworten kann, da ich zuvor die Nachrichten von Marina Nice, Tatyana Beauty und Valeria Fine beantworten musste.
Auch diese Damen sind ganz gewiss tierlieb, ehrlich, offen, wissbegierig, kühn, führen einen gesunden Lebensstil und können manchmal indiskret sein.
Was mich angeht, habe ich Angst vor Tieren, lebe aber ansonsten gesund. 
Ich werde in diesem Jahr 58 Jahre alt, sehe aber dank meiner gesunden Lebensweise (viel Obst und Wasser) wie 21 aus. 
Diese Welt ist gar nicht so instabil und wird sicher noch einige Milliarden Jahre durchhalten. 
Ob wir dann noch dabei sind, wird sich zeigen.

Vielleicht findet sich ja auch unter den Lesern dieses Blogs ein guter und entgegenkommender Mann, der Ihnen schreibt. 

Donnerstag, 14. Mai 2015

VERLOREN – GEFUNDEN, Folge III – Die Bücher MOHWEL, (M.-00--06---29./001), - in der dritten person -


Er hörte die stimme, doch war es seine eigene: verfluchter traum, wie lange habe ich geschlafen? - Er lag neben sich, in der dritten person. - Verfluchter traum, was war das gewesen. Irgendsowas mit einem ausgesetzten jungen, da war im fernsehen was drüber gewesen. Erinnert mich auch an einen anderen film. Das gute alte Kasper-Hauser-ding, dokumentarische form, Banse, Bense hieß der vater. ich frage mich, wie fingiert das war. - Er hatte die augen nun geöffnet, sah unscharf den rand der decke an seinen kinn. - Mit der zeit erinnert einen alles immer an irgendwetwas. Und dieser bunte vogel aus der werbung. War in jeder werbeunterbrechung. Von Truffaut oder Chabrol war dieser film damals und
in schwarz-weiss, ich verwechsele die beiden immer. Aber das vorhin--

Er hatte nun den Kopf leicht angehoben und blickte auf diverse verschiedene hohe ungeordnete stapel auf der gemaserten fläche; hardcovers, paperbacks, broschüren unterschiedlichster art, einzelne oder mit bindfaden oder gummiband zusammengehaltene blätter in din-a-4 und anderen formaten; manchmal bereits mit deutlichen eselsohren, darunter fotokopierte oder ausgedruckte seiten, die er sich noch nicht einmal angesehen hatte, selber nach bestimmten sich naturgemäss immer wieder gegenseitig überschneidenen themen vorgenommene zusammenstellungen in ordnern und mappen mit und ohne klemmschiene sowie haufenweise inlays, und hinter dieser szenerie erhob sich die plexiglaswand und gab eine rauchbraun getönte sicht auf halbherzig geordnete cd-rom und disketten-magazine frei.

Sein vom portable mitinszinierter tagtraum war noch immer als fade unangenehme stimmung in seinen schläfrigen gedanken präsent; dann aber fiel sein blick auf den an der stuhllehne eingehängten interceiver, und eine wohltuende sanfte genugtuung gewann oberhand. Das gerät war neu; die mit noppen bestzte cellophanhülle war zu boden geglitten und bedeckte nun eines der vier mattschwarzen zwillingsräder des alten Relax, der in seiner alten pragma-wg schon mehr als einmal als heisser spermüllkandidat gehandelt worden war.

Ein stück weiter, er hatte jetzt seinen kopf ganz an die couchkante gereckt und betrachtete das vielgestaltige muster auf dem boden, das ihm die sonne hinter seinen fenstern mit dem schatten seiner jalousien und seiner topfpflanzen boten, lag das längliche faltblatt: interceiver Nostradamus mit dem aktuellen bulletin 2.0 und schon für die nächste generation ausgelegt. das faltblatt lag mit der vorderseite nach oben; eine reihe einzelner, untereinander gesetzter wörter in nahezu abwechselnder folge grau oder orange gedruckt war darauf auszumachen, doch waren aus dieser entfernung und perspektive nur die grösseren, in helles orange gefärbten wörter zu lesen: - get - - set - - up - -.

Auffälliger und besser erkennbar als die schrift war die hinterlegte illustration, die die gesamte vorderseite des faltblattes als eine in gedeckte cremefarben gehaltene photographische darstellung einer grossraumbüroszene ausfüllte. Der hintergrund war so unscharf gehalten, dass in dem lichtdurchfluteten raum, der innerhalb dieses ausschnitts umstrukturiert wirkte, die konturen einiger vor den bildschirmen in ihren active-buchten sitzenden oder über die schulter der sitzenden schauenden stehenden mitarbeiter gerade noch als männlich oder weiblich und als von mittlerem alter erkennbar waren.

Im vordergrund jedoch und dunkler, in scharfen konturen gehalten und zum sich in weisse leere verlierenden hintergrund kontrastierend, ragte der schlanke körper einer jungen, bebrillten frau von kurz unterhalb der khakifarbene hosen gekleideten hüften bis zum dunkelblond dauergewellten scheitel in das bild. Eine durchgängige drehung von dem dem betrachter fast frontal zugewandten becken über die schmale nackte gebräunte taille und dem schwarzen top bis zu dem wiederum nackten gebräunten schultern fand ihre verlängerung und verstärkung in dem bis fast ganz ins profil abgewandten und etwas zur seite gesenkten gesicht helleren teints, das mit dem ausdruck zuversichtlicher neugier dem von ihrer schlanken, mit langen farblosen nägeln besetzten gebräunten hand in ihr blickfeld gehaltenen kieselgrauen und mit taubenblauen aufsatz ausgestatteten interceiver Nostradamus 2.0 alle aufmerksamkeit zukommen liess.

Das längliche, mit zahlreichen tasten und vier untereinander angeordneten displays ausgestattete gerät wies an der verdickung an seinem oberen ende einen winzigen screen auf, auf dem selbst in dieser verkleinerten darstellung und perspektivischen stauchung das signet von E - trans deutlich erkennbar war. Die mittleren beiden displays liessen malvenfarbene und fliederfarbene zeichen erahnen; die beiden anderen waren blind. Beim ersten blick auf das faltblatt war ihm für einen moment der ketzerische gedanke gekommen, es könne sich bei diesen um fake-displays handeln, - aber nein, sicher nicht beim Nostradamus - , und sie liess hier grau schimmernde oberflächen sehen.

Die seitenlage mit dem kopf auf der hand an der couchkante war ihm unbequem geworden. Der synthetisch wirkende wellensittich aus der tv-werbung drängte sich wieder in seine erinnerung, die Technicolor-farben - Theodore Köpfen; ich sollte mir ein paar humoristische gedanken um diese personifikation Theodore Köpfen machen - sagte er halblaut zu sich, - an die ich vorhin irgendwie denken musste -

Freitag, 1. Mai 2015

VERLOREN – GEFUNDEN, Folge II - Die Bücher MOHWEL, Erste neue Lieferung, Teil 2 (2000)


Danach wurde die Herausgabe der Zeitschrift eingestellt. Theodore zog in besagtes Einzmmer-Appartement und MOHWEL verschwand für einige Jahre. Gelegentlich tauchte er an mehreren Orten zeitgleich auf: aus Vina del Mar meldete der regionale Radiosender, das er ein neues Fischrestaurant eröffnet hat, während er mit nordhessischen Geschäftsleuten in der Oper von Bebra gesehen worden sein soll. Böse Zungen behaupteten, er wäre ein Produzent für SNUFF-Videos. 

Die anderen  Figuren der Bücher: sind sie auch geflohen? Ich habe ihre Namen vergessen. Nur an einige erinnere ich mich noch: Theodor Fontane, Heinrich Schiff, Abdullah Eisenhut? Haben sie geheiratet und Kinder gezeugt? Einfamilienhaus im Grünen mit Golden Retriever, Klavierschule, Öko-Test-Abbonement und Wildblumenwiese? Bim und Bam sind 1992 in die Kameradschaft Adelebsen eingetreten. Das wundert mich nicht. Sie waren schon damals nicht sehr selbstbewusst und hatten einen Hang zu radikalen Lösungen. Bam verbrannte sich selbst vor dem Bundesverfassungsgericht und Bim fuhr daraufhin nach Walhalla. Abdullah Eisenhut eröffnete 1993 ein Feinkostgeschäft in der Fussgängerzone von Siegen und schrieb an die Schaufenster: “NICHT FÜR TÜRKEN UND DEUTSCHE; NUR FÜR MOHWELIANER!”. Das Kreisblatt Siegen schrieb dann in seinen lokalen Nachrichten: “Feinkostgeschäft in der Universitätstrasse eröffnet. Aber was sind Mohwelianer”? 

Man kann sich denken, das niemand darauf in dieser Stadt, deren Höhepunkt die Kreissparkasse darstellt, eine Antwort wusste. Weder Professor Karl Riha von der Universität Gesamthochschule Siegen, der einen Freundschaftskreis der Schmidtianer gegründet hatte noch sein ihm nahestehender Publikationsfreund Professor Dr. Siegfried J. Schmidt. Diese beiden sprachwissenschaftlichen Koryphäen, gewohnt sich in abseitigen Wissenschaftsgebieten zu bewegen, motivierten eine Gruppe von Studenten der Sprachwissenschaft, Erkundungen über das System und Verhalten der
MOHWELIANER einzuziehen. Dieser Feldforschungs-Versuch dauerte etwa ein Jahr. Danach konnte man folgende Informationen in der Universitätszeitschrift “SIEGENER SÄULEN” veröffentlichen, die folgenderweise gegliedert waren:“DIE MOHWELIANER - Vorbemerkungen, Gründung der Sekte, Erscheinungsbild der Mitglieder, Philosophie, Publikationen.” 

Das Gründungsjahr war etwa 1182, als Probst Bodo nach Niedersachsen aufbrach, um dort in einer kleinen Gemeinde ein Augustinerkloster zu bauen. Das Synonym für Probst Bodo war MOHWEL, aber die Historiker sind sich nicht einig, woher dieser Name stammt. Einige glauben, das der wahre MOHWEL Augustinus persönlich war, aber das sind nur vage Hypothesen: ebenso wie es sich nicht restlos beweisen lässt, das der Homo sapiens einen Genozid and den Neandertalern beging.

Wahrscheinlicher ist es, das die MOHWELIANER die Cro-Magnon-Menschen auslöschten. Die Höhlenmalereien hielten sie für die Werke katatoner Schizofrener, die kurzzeitig aus ihrer langen Lethargie erwacht waren. Probst Bodo wusste noch von diesem frühen Holocaust und glaubte, das vor etwa 20000 Jahren parallel zu der Jäger- und Sammlerkunst die ersten Serien von Ikonen entstanden. Gott war noch als Person erkennbar: er war gross, blass, haarlos und trug ein Kleid aus hellem Ziegenhaar. Man kann sich bei diesem Abbild vorstellen, das die zeitgenössischen MOHWELIANER leise und langsam sprechen. Die Gesten waren immer dissoziativ zu dem Sinn der Worte. In der Publikation folgte dann eine lange Abhandlung über das Geschlechtsleben dieses Volksstamms, über Inzuchtpraktiken, die uns hier aber nicht weiter interessieren. 

SCHNITT. Universitätsstrasse Siegen, Dezember 1992. Lesung im Feinkostgeschäft Abdullah Eisenhut. Der Inhaber stellt seine neuesten Kindheitserinnerungen vor: “In der Art, wie mein früherer Klassenlehrer Hans Banse einen Apfel schälte, lag der ganze Nationalsozialismus seiner Generation. Sein Sohn lebte nackte im Wald. Man fand ihn nicht sofort. Die Jäger der umliegenden Gemeinden hatten Schwierigkeiten, die Jagt auf Hans Banses Sohn zu koordinieren, da einige ihre Fake-Handys mit ihren tatsächlichen Mobiltelefonen verwechselten.”