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Freitag, 28. November 2014

Wellensteyn mit IMEI 357998058549811?

Hat das jemand gesehen?

Freitagabend, 21. November,  ca. 20 Uhr 20, U1 - U-Bahnhof Prinzenstraße. Ein erschöpfter und zufriedener Verleger kommt von der sogenannten Artbook Berlin (598 Aussteller und 3 Sammler) und liest auf seinem Device mit der IMEI-Nr. 357998058549811 Neuigkeitem auf Sport1, dieser Applikation, die seit ihrer Aktualisierung immer Werbebalken über den zu lesenden Text einblendet. Armin Veh, das Dickerchen aus Stuttgart, der sich zuweilen wie ein 18-jähriger kleidet, ist zurückgetreten. Dann kommt die Werbebotschaft "Willst du Mitglied bei Facebook werden?" Klicke hier, klicke da. Nein, ich will kein Mitglied bei Facebook werden. Mein iPhone 5s, 16 GB, weiss und silbern und ich, nehmen nichts wahr. Plötzlich wird es mir aus der Hand gerissen. Ich hinterher. Die Tür schliesst sich. Räuber und iPhone sind weg. Das war ziemlich clever gemacht. Dank gewöhnlichem iPhone-Autismus habe ich den Mann gar nicht wahrgenommen. Der hat bis zum Signal der schliessenden Türen gewartet, mir das Teil aus der Hand gerissen und ist dann um sein Leben gerannt. Zwei junge Männer haben es beobachtet, nehmen sich meiner an. Wir steigen an der nächsten U-Bahnstation aus. Täterbeschreibung: dunkle Mütze, Mitte bis Ende 20, eine Jacke mit einem schweizer Emblem. Meinen die Wellensteyn? Tragen iPhone Räuber Wellensteyn-Jacken? 

Ich rufe die Polizei mit dem Telefon eines der jungen Männer. Die sagen mir, ich solle zur Wache in der Friedrichsstraße fahren. Das ist mir nun zu anstrengend und ich fahre weiter in Richtung Möckernbrücke, rufe meine Frau an und beauftrage sie, die SIM-Karte löschen zu lassen. Nach einigem Hin und Her mit den Telekomikern gelingt es ihr. Möckernbrücke, U7, Kleistpark. Vor einem griechischen Restaurant auf der Hauptstraße frage ich einen Mann, ob hier in der Nähe eine Polizeiwache sei. Er ist überaus hilfsbereit, leiht mir sein Galaxy S3, 4 oder 5, nimmt sich meiner an. Ich staune, dass so viele gute, hilfsbereite Menschen in Berlin unterwegs sind. Die tragen aber keine Jacken mit schweizer Emblem. 

Die Polizei am Telefon will alles wissen. Wie ich heisse und wie die Hausnummer ist, vor der ich stehe, wie das Restaurant heisst, wann, wo und um welche Zeit die Tat geschehen ist. Die Beamten holen mich 10 Minuten später ab und dann gehts ab zur Wache am Ende der Hauptstraße. Hier wird ein Protokoll in einem renovierungsbedürftigen Raum mit zwei alten Windows-Rechnern aufgenommen. Nicht mal W-LAN haben die hier. Arme Polizei. Kein Geld, keine Beamten. Die Kohle steckt im Flughafen "Willy Brandt". Jeder organisierter Smartphone-Hehlerring ist der Polizei haushoch überlegen. Die können nur reagieren, protokollieren, deligieren. Zunächst wurde ich gefragt, ob ich Widerstand geleistet hätte. Nicht ich, aber kurz meine Hand, als mir das iPhone aus der Hand gerissen wurde. Das geschah vielleicht in 0,25 Sekunden. Also ist das kein Diebstahl sonden Raub. Dafür ist das Raub-Dezernat zuständig. Die haben zumindest Zugriff auf die U-Bahn-Kameras. In welchem Waggon ich gesessen habe? Keine Ahnung. Das Raub-Dezernat möchte aber erst ein Protokoll. Ich bekomme ein Aktenzeichen und soll die IMEI-Nummer nachreichen. Und das iPhone orten? Machen die nur bei schwerer Körperverletzung oder Mord. 

Ansonsten müssten sie in mehreren Wohnungen klingeln. "Entschuldigen Sie, haben sie ein iPhone 5s mit der IMEI-Nummer 357998058549811 gesehen?" Unmöglich. Den Rest gehe ich zu Fuß nach hause, bin gleich am Rechner, rufe mich selber an ("Zur Zeit nicht erreichbar") und schaue gleich via "Mein iPhone suchen" nach dem Gerät. Es ist offline. Das Löschen der Daten beantragt. Die Chancen, das Gerät wiederzubekommen, sind gering. Allerdings weiß ich nicht, was der zukünftige Besitzer mit einem Fingerprint- und Code-gesicherten und der ihm unbekannten Apple-ID anfangen soll. Wiederherstellen des Geräts geht wohl nicht so einfach. Vielleicht sollte der "Kill Switch" von Apple in den nächsten iOS-Upgrades noch etwas weiter gehen. Nicht nur fernlöschen sondern vielleicht auch explodieren lassen. Aus der Perspektive eines Täters ist es ziemlich leicht, den Leuten ihre Smartphones aus der Hand zu reissen. Sobald sie auf das Display schauen, nehmen sie ihre Umgebung nicht mehr wahr, verfallen im Anti-Kommunikationsmodus mit der sozialen Ralität.

Einige Tage später, Regionalzug von Magdeburg nach Frankfurt/Oder. Vor mir sitzt ein junger Mann, der dem Klischee eines Smartphone-Diebes entsprechen könnte. Am Bahnhof Friedrichsstraße steigt er aus und lässt sein Sony Xperia auf dem Sitz liegen. Es ist mit einem Muster gesichert. Er braucht nicht lange, um den Velust zu realisieren und ruft an: "Hallo, hallo, wer ist da..." Das Gepräch bricht ab. Dann ruft er noch einmal an. Ich sage ihm, dass ich unterwegs nach Bad Saarow bin und das Gerät der Schaffnerin geben werde. Er sagt mir seinen Namen, die Adresse und die Telefonnumer seiner Mutter. Ich gebe der Zugbegleiterin das Smartphone und schreibe seiner Mutter eine Kurznachricht. Das Gerät kann er am sogenannten Service Point der Deutschen Bahn am Ostbahnhof abholen. 





Mittwoch, 19. November 2014

Spandau in der Hutmacherleiche (Teil 3)


Der Experimentalvortrag fand bald darauf vor geladenem Fachpublikum statt. Nach längerer Deliberation war man sich darüber einig, daß hier durch Mikroskopie die mikrokosmische Bedeutsamkeit des Leibes evident geworden sei. Durch Pinter angeregt, gelang es dem Astronomen Kummdopf, die Proportionen der Sternwelt für das Auge so zusammenzuziehen, daß unverkennbar leibliche daraus wurden. Der Sehende wurde künstlich mit einem Auge begabt, welches entweder, wie im Fall der Vergrößerung, einem winzigsten Lebewesen angehörte, für das der Leib bereits astronomisch ausgedehnt erschien, oder einem hypergigantisch riesigen, für das die himmlischen Welten insgesamt zur Größe des menschlichen Leibes einschrumpften. An Stelle der vagen und als phantastisch geltenden philosophischen Spekulation trat die optische Tatsächlichkeit. Es konnte aber nicht ausbleiben, daß sich die Philosophie des uralten Themas in dieser neuen Art bemächtigte, und Euweuken mit einem Hab-ich-es-nicht-immer-schon-gesagt-Antlitz diese ungeheure Umwälzung in weihevoll idealistischer Weise ausschlachtete: So sei ihm immer schon zumute gewesen. Alles sei doch zuerst und zuletzt menschlich, und der menschliche Leib das Original aller Gestalten. Es gäbe eigentlich weder Mineralien noch Tiere noch Pflanzen. Wenn man das Auge nur gehörig bewaffnete, sei alles als menschlich ersehbar. Allein demgegenüber hob Geheimrat Pschakreff hervor, daß Euweuken gar nicht das richtige Fazit ziehe; wie dies begeisterten Idealisten oft passiere, daß sie das Herz statt des Hirns zwischen den Schultern trügen und blutwarme Schöße der Empfindung statt kaltblütig nüchterner Köpfe kultivierten. Das echte Resultat aus dem erstaunlichen Faktum sei der Relativismus in der Morphologie. Je nach dem Gesichtspunkt, je nach der Disposition des Sehenden könne die scheinbar einen und selbe Gestalt alle nur irgendmöglichen Formen annehmen, z.B. Euweukens Haupt diejenige eines verunglückten Kartoffelpuffers. Der sonst so markante Unterschied zwischen einem Nachttopf und dem berühmten Darwinisten Pfutsch sei unter gewissen Umständen hinfällig. Gleich darauf wurden mehrere sonst gebildete Leute in die Irrenhäuser abgeliefert, weil sie sich als aus lauter Tieren zusammengesetzt fühlten. Damit aber nicht genug: es liefen von einer Anzahl Anatomien und Sternwarten an Pschakreff die entschiedensten Absagen ein. Außer jenem von Pinter hinzugezogenen Astronomen konnte kein Mann der Wissenschaft die Ergebnisse Pschakreffs bestätigen; sämtliche Experimente mißglückten. Das war nicht angenehm zu hören. Selbst Niklas verzog sein Maul und war mürrisch. Seine Tochter söhnte sich mit ihrem Reporter wieder aus, und es setzte sogleich eine sehr kritische Haltung der Presse ein; Pschakreff wurde bereits leise diskreditiert. Ibloch und Pinter wiederholten die Versuche und bedienten sich dazu eines gesteigerten allererstklassigen Ultramikroskops. Das Resultat war frappant. Man sah in den Leichenteilen einer verunglückten Scheuerfrau, speziell in ihrem Blinddarm, die eigene Stadt mit den geringsten Einzelheiten, und Pinter war wie berauscht, als er mit einem Male sogar die Anatomie selber wieder erkannte. Der Enthusiasmus stieg aber aufs höchste: denn mitten in diesem Miniaturmodell der Akademie wurden bei fortgesetzter Vergrößerung die drei Herren erkannt, Niklas nicht zu vergessen, und zwar eben mit derselben Mikroskopie beschäftigt. Ibloch wurde erdfahl und flüsterte wieder und wieder, es ginge nicht mit rechten Dingen zu, und sie würden sich bis auf die verfluchten Leichenknochen blamieren. Pinter dagegen weissagte den vollkommenen Triumph über alle Skeptiker und Verleumder; er überredete den Geheimrat zur Einberufung einer zweiten Versammlung, und diesmal sollte sie nicht auf die Männer vom Fach eingeschränkt sein, sondern alle Gebildeten umfassen. Ibloch fügte sich notgedrungen darein; was sollte auch sonst geschehen? Man konnte das Problem nicht mehr liegenlassen und mußte, allen Anfeindungen zum Trotz, mutig die Macht der noch so absurd scheinenden Tatsachen für sich selber sprechen lassen. Das geschah denn auch sehr gründlich.
Die Demonstration war prachtvoll. Unter den Geladenen befand sich die gesamte geistige Elite, die Spitzen der Behörden, sogar ein prinzliches Ehepaar. Die akkuratesten Filmaufnahmen ermöglichten eine kinematographische Demonstration, welche sehr zweckmäßig mit den plausibelsten Dingen begann, sich nach und nach zum Ungewöhnlichen steigerte und mit jener Wiederholung der allernächsten Wirklichkeit der Umgebung, zuletzt mit den in der Scheuerfrau entdeckten Kopien der drei Entdecker selbst enden sollte. Auf jede Lösung des Problems, jede Interpretation war diesmal verzichtet und nach der Vorführung sollte der gesamte Apparat streng untersucht werden, um die Möglichkeit wenigstens eines Selbstbetruges auszuschließen, den Dr. Ibloch fast schon für vorliegend hielt und dieses lieber betonte, um die etwanige nachträglich Blamage abzuschwächen; eine Diplomatie, welche den Abscheu Pinters und auch den Unwillen Pschakreffs erregte. Das Publikum war animiert und ließ sich fortreißen. Die Prinzessin gab Zeichen des Beifalls, und schon begannen auch die krassesten Gegner angesichts der Evidenz der Phänomene zu wanken – da geschah etwas völlig Unerwartetes: das Filmband lief, als das letzte Bild auf dem Schirm erschienen war und spontane Begeisterung ausgelöst hatte, automatisch zum Befremden der drei Experimentatoren noch weiter und zeigte diese selber in eigentümlichen Situationen. Zu sehen war jetzt der Zuschauerraum selber samt demselben geladenen Publikum; davor die Bühne, auf der jetzt ein völlig unbekannter lächelnder Herr erschien. Er machte sich an einigen Leichnamen zu schaffen, die man darauf, nachdem er sich entfernt hatte, unter die Obhut des Niklas geraten sah. Sodann schlich der Herr vorsichtig in den kleinen Seziersaal und behandelte dort liebreich, denn er lächelte fortwährend so liebenswürdig, die optischen Instrumente, welche später in seiner Abwesenheit von unseren drei Herren mit dem bekannten Erfolge benutzt wurden. Kurzum, der Film lieferte selbsttätig zu allgemeiner Überraschung und Erheiterung das sichtbare Referat der Geschehnisse, und seine stumme Kritik war überwältigend. Vergebens aber hofften Pschakreff und die Seinigen, als bis aufs letzte alles repetiert worden war, auf den Schluß dieser Quälerei: sondern die nahe Zukunft erschien auf der Fläche. Der alte Niklas rang die Hände – Ibloch hatte sich vergiftet, und Pinter war irrsinnig geworden. Pschakreff wurde aufgebahrt, und man sah in der Folge sein Leichenbegängnis mit allen Einzelheiten. Man sah den Sarg versenkt werden, den Hügel sich wölben, einen Leichenstein aufragen. Dieses Denkmal wurde größer und größer. Auf ihm erschien jetzt das bei Reklamefilmen so beliebte neckische Spiel sich haschender und suchender Buchstaben und bildete eine flimmernde Inschrift:
„Himmel und Erde euch Esel bohren,
Ihr seid unwiederbringlich verloren!“

Es ist nicht mehr nötig, hinzuzusetzen, daß die Prophezeiung eintraf. Man weiß ja, wie z.B. das abergläubische Wort: „Zwischen Lipp’ und Kelchesrand schwebt der finstren Mächte Hand“ unzählige mörderliche Resultate gezeitigt hat. Im höchsten Grade wirkt es suggestiv, die eigene Leiche im Film zu sehen; gewissenhafte Leute fühlen dann eine gewisse Verpflichtung, bare Wirklichkeit daraus zu machen. Die Wissenschaft aber stand vor der Ära des ihr ganz neuen Problems ihrer mysteriösen Verspottung. Der Fall Pschakreff-Ibloch-Pinter wurde zum Präzedenzfall einer schauerlichen Reihe, in deren Verlauf kein Forscher mehr sich selber zu trauen wagte. Das ging so weit, daß selbst jahrelang sich bewährende Erfindungen und Entdeckungen von den Argwöhnischsten als blanker Mumpitz verschrien wurden, und es endete damit, daß die Vergangenheit revidiert wurde, und nacheinander förmliche Widerlegungen sämtlicher kulturellen Errungenschaften zu gelingen schienen. Kaplan Franz Kubus (die böse Zunge sagte zwar Inkubus) wies überzeugend nach, daß alle bisherige Wissenschaft vom Teufel besessen sei. Das Universitätsstädtchen, worin der selige Pschakreff gewirkt hatte, bekam den Spitznamen Film-Athen (es lag auch in der Nähe Ilm-Athens). R. Euweukens immer guter Schlaf war dermaßen gestört worden, daß er sich in aller Heimlichkeit ein Schaukelbett, eine Erwachsenenwiege herstellen und sich darin von seiner Gattin in Schlummer wiegen ließ. Beiläufig nannte man diese Dame hinter ihrem einst schönen Rücken Ninon de Belanglos; sie war die einzige radelnde Greisin der Stadt. Euweuken wurde uralt, ein leidenschaftlicher Greis; indessen weiß man vielleicht, aus eigener Erfahrung, wie leicht 130jährige Knaben ihre Leidenschaften beherrschen. Seine Schülerschar war so von ihm durchtränkt, daß sie seinen Geist bereits urinierte ... Genug mit diesem kargen Einblick durch ein schmales Guckloch in das wissenschaftliche Dasein der winzigen Gernegroßstadt ...

Solomo Friedlaender

Dienstag, 11. November 2014

Spandau in der Hutmacherleiche (Teil 2)


„Beruhigen Sie sich, Niklas! Was Sie sehen, ist der Querschnitt durch den Knochen einer Hutmacherleiche. Meine Herren, ich möchte sagen, es ist eine Urteilstäuschung; aber Sie sehen ja, daß selbst der gemeine Laienverstand unseres Niklas hier genau so urteilt. wie wir. Vielleicht – mir graut es schon ahnungsvoll – stehen wir vor einer der schauderhaftesten Entdeckungen. Sollten die philosophischen Schwätzer mit ihrem Mikrokosmos doch recht haben? Oder sind ausgerechnet Hutmacherknochen so merkwürdig konfiguriert? Wie denken Sie, Kollegen?“
Die Kollegen zögerten lange, dann sagte Pinter:
„Was mich betrifft, so halte ich eine besondere Struktur der Hutmacherknochen nicht für vorliegend. Ich möchte eher glauben, daß an dem philosophischen Gequassel vielleicht doch irgend etwas wahr ist.“
Ibloch schien mißtrauisch:
„Es ist mir, als ob uns jemand da einen Streich spielte. Wir müssen das Mikroskop auf die Möglichkeit eines Betruges genau untersuchen, bevor wir uns dieser Unglaublichkeit als einer Tatsache gefangen geben.“
Das geschah denn auch sogleich. Niklas beseitigte die Verfinsterung, und die Herren unterzogen das Instrument einer sorgfältigen Prüfung, ohne daß Iblochs Mißtrauen im geringsten gerechtfertigt worden wäre. Man fuhr noch einige Stunden lang in diesen Versuchen fort. Dem Hutmacher wurden die verschiedensten Querschnitte entnommen, die man sofort photographierte und dem Projektionsapparat anvertraute, und immer von neuem erschien das immer zweifellosere Resultat, daß man bei äußerster Vergrößerung menschlicher Leichenteile in ihnen die Trümmer der gewaltigsten menschlichen Kultur in Form von Städten und Ländern mit allen Schikanen erstorbener, ja zum Teil noch lebender Zivilisation entdeckte. Einer Täuschung durfte man sich gar nicht mehr hingeben, die Sache war evident, und nur mit ihrer Erklärung haperte es gewaltig. Selbst Niklas behauptete, es sei zum Verrücktwerden.
„Was soll man davon halten?“ fragte Pschakreff ratlos und fast ängstlich seine Assistenten. Man zog sich ins Kabinett des Professors zurück und debattierte stundenlang.
„Es bleibt nichts übrig,“ meinte Pinter, „als das Problem an die große Glocke zu hängen.“
„Ganz Ihrer Ansicht, Kollege,“ stimmte der Professor zu, „aber immerhin sollten auch wir nicht so gänzlich resignieren.“
Ibloch blieb sehr vorsichtig und argwöhnisch: „Ich fürchte irgendeine Blamage und bin dafür, die Sache zunächst noch geheim zu halten und über alle Zweifel sicherzustellen; möglicherweise ist irgendein verzwickter Anthropomorphismus, eine Illusion im Spiel, die vielleicht nicht einmal jeden bezwingt; unsere wissenschaftliche Reputation steht auf dem Spiel.“
Pinter dagegen war Feuer und Flamme für die Veröffentlichung des Rätsels auch ohne jede Lösung. Pschakreff bemühte sich um weise Vermittlung zwischen diesen extremen Forderungen: so ganz und gar mochte er noch nicht auf Enträtselung verzichten. Läge eine Illusion vor, so halte er sie nicht nur für idiosynkratisch. Er war für eine Publikation in sehr vorsichtig zurückhaltender Form und unter Ausschaltung jeder philosophischen Spekulation.
„Vor allem,“ riet Ibloch, „nur keine Alarmierung der großen Presse! Am besten, Sie berufen eine Konferenz ein, Herr Professor. Wir demonstrieren den Kollegen das klare Faktum; damit vergeben wir uns nichts.“
„Schön,“ sagte Pschakreff, „ich möchte nur gern irgendeine Aufklärung bekommen. Mikroskopiert, also vergrößert man den menschlichen Leib, so scheint er allerdings mikrokosmisch. Wir haben die Vergrößerung so weit getrieben, daß wir damit bis in menschliche Kleinigkeiten hinabkamen; besonders ergötzlich (möchte ich sagen) waren die kleinen Bahnhöfe, auf deren Schienensträngen mitunter noch Waggons rollten. Zweckmäßig wäre es, die Vergrößerung nicht gleich ins Ultramikroskopische zu steigern. Die Methode einer sanfteren Allmählichkeit müßte uns doch den Leib zunächst einmal astronomisch in Gestalt von Milchstraßen- und Sonnensystemen zeigen.“
„Und umgekehrt,“ schrie Pinter zurück, „könnte man die Milchstraßensysteme zum menschlichen Leib einschrumpfen lassen; es liegt in der Konsequenz. Mir schwindelt, wenn ich das durchdenke! Das Ultramikroskopierte, nochmals ultramikroskopiert, ergäbe ein ähnliches Resultat – und so in infinitum ...!“
„Einfach labyrinthische Katoptrik des Gehirns, nichts Reales“, warf Ibloch hochmütig hin.
„Mein Lieber,“ bemerkte Pinter sehr geringschätzig, „Sie fabeln von einer Realität an sich – püh! Faxe. Ich verstehe diese verschmitzte Art ganz gut. Leute Ihres Schlages möchten uns einreden, zwischen die Realität an sich und uns schiebe sich ein hübsches Linsensystem aus bunten Brillen, Spiegeln und sonstigen entstellenden Medien ein und zeige uns zwar die Realität, aber natürlich nach unserer Auffassung alteriert. Mächtiger Humbug! Bereits in Tertia fiel ich darauf nicht mehr hinein ... Einen Moment! Pardon, Herr Geheimrat,« wandte er sich an Pschakreff, der eingreifen wollte, bevor der Streit heftigere Formen annahm ... »ich bin gleich fertig. Sie sollten einsehen, Doktor Ibloch, daß die objektive Realität wesentlich nur phänomenal ist; und abstrahieren Sie von aller Phänomenalität und jenem Brillensystem, so stoßen Sie auf keine objektive Realität mehr, sondern eben auf das schöpferische Subjekt. ,Subjektiv’ als Schimpfwort ist auch ein schöner Unfug. Man meint nämlich, wenn man so schimpft, gar nicht das Subjekt, sondern gerade den Mangel an reinster Subjektivität, die tendenziös parteiliche Beeinträchtigung der Reinheit des Subjekts.“

„Meine Herren,“ kam endlich wieder Pschakreff zu Wort, „ich dächte, nun sei es übergenug mit diesen erkenntnistheoretischen Spitzfindigkeiten, und wir berieten uns weiter über die Möglichkeit einer Konferenz und zunächst fachwissenschaftlichen Publikation und Demonstration. Doktor Pinter, setzen Sie gütigst die Liste der Einzuladenden zusammen. Kollege Ibloch und ich entwerfen dann den Plan der Vorführung. Ich werde den einleitenden Vortrag halten, und Doktor Ibloch wird die Demonstrationen mit seinen Erläuterungen begleiten, zumal ihm der Ruhm der ersten Entdeckung gebührt.“ Ibloch wehrte schämig und nicht nur schämig, sondern ein wenig unwillig ab; er teilte weder den Enthusiasmus Pinters noch den reservierten Optimismus Pschakreffs. Ihm schwante Unheil. Keiner der drei Herren hatte übrigens mit der Geschwätzigkeit des guten Niklas gerechnet, der bereits am Kaffeetisch seiner Frau und seiner Tochter vorschwärmte, Ibloch hätte unterm Mikroskop in einer Leiche die Stadt Spandau so deutlich entdeckt, daß er, Niklas, mit seinen sehenden Augen das Haus des Schwagers Pimpring habe unterscheiden können. Zum Unglück war die Tochter mit dem Reporter der B. B. Z. „verhältnismäßig“ befreundet (um uns gelinde auszudrücken). Und so entstand wirklich das Unheil dadurch, daß bereits am Abend ein fettgedruckter Hinweis auf „Spandau in der Hutmacherleiche“ erschien, der allgemeine Heiterkeit erregte. Leider war der April längst vorbei; es herbstelte bereits, und man hielt das Ding für eine verspätete Ente. Bis dann ein Artikel des konsternierten Pschakreffs den Tatbestand gar nicht leugnete, sondern nur dessen Publikation als verfrüht beanstandete, bevor die Fachkollegen ihre Ansichten ausgetauscht hätten. Das geschah denn auch sogleich, nachdem Niklas eine ernstliche Verwarnung erhalten hatte, die er rasch an seine Frau weitergab, welche ihrerseits sie der Tochter handgreiflich beibrachte, so daß diesem liebenswürdigen Mädchen nichts übrigblieb, als dem Reporter den Standpunkt klarzumachen, der sich seinerseits von jeder Verbindung mit einer so fragwürdigen Jungfrau lossagte.

Salomo Friedlaender

Freitag, 7. November 2014

Spandau in der Hutmacherleiche (Teil 1)


In der Leichenkammer lag ein junger Hutmachergeselle, der im Gefängnis gestorben war, und harrte, nach Art von Leichen blasiert, auf die sezierende Hand des berühmten Geheimrats Anatomieprofessors Pschakreff. Der joviale Greis saß beim Frühstück, nahm einen Schluck Wein in seinen intelligenten Mund und schellte dem Diener. Das alte Faktotum erschien in der Türspalte.
„Bringen Sie mir mal den Hutmacher in den kleinen Seziersaal, richten Sie uns das Mikroskop und rufen Sie mir die Assistenten!“ Pschakreff rauchte noch gemächlich eine Havanna, erhob sich dann ruckweise und ging den langen, hellen Korridor hinunter, auf dem ihm seine Assistenten bereits entgegenkamen.
„Wir besorgen’s dem Hutmacher gleich, denke ich, meine Herren. Sie, Doktor Ibloch, mikroskopieren, was ich Ihnen hinreiche; und Sie, Herr Pinter, helfen mir bei der Sektion. – Eine Knochensäge, Niklas!“ rief er dem Diener zu.
Die drei Herren beschäftigten sich emsig; Niklas brachte die Säge. Pschakreff weidete den Hutmacher kunstgerecht aus, schmiß, was er nicht brauchen konnte, in einen Eimer und reichte von Zeit zu Zeit dem Dr. Pinter einen fetten Bissen, der ihn an Ibloch weitergab. Zugleich notierte man den Befund, und Pschakreff belehrte seine Assistenten über einiges Merkwürdige.
„Ein saubrer Bursch,“ sagte er anerkennend, „er schneidet sich göttlich! Zartes Fleisch, famose Därme. Niklas, Sie können hier mal sägen; geben Sie Herrn Pinter eine Knochenscheibe zum Dünnschliff!“
Rührender als ein Wiegenlied klingt für den Kenner das Zersägen eines Leichenknochens. Pinter am Mikroskop stieß Laute der Verwunderung aus.
„Was haben Sie?“ fragte der Professor.
„Ich glaube immerfort die sonderbarsten Sachen zu sehen, wenn ich die maximale Vergrößerung anwende,“ sagte Ibloch, „es kommt mir vor, wie wenn ich in eine Menschenwelt hineinsehe.“
„Ich verstehe Sie nicht recht. In eine Menschenwelt? Na gewiß doch! Auch Hutmacher sind meistens noch Menschen. Hutmacher gehören obendrein noch der Menschenwelt an – was? Haben Sie den Dünnschliff? Ja? Na da schielen Sie weiter in Ihre Menschenwelt hinein!“
Ibloch präparierte die Knochenschnitte und besichtigte sie durchs Mikroskop:
„Mein Gott,“ schrie er ganz erschrocken, „es ist eine zerstörte Welt mit Resten von Leben.“
„Ja, zum Teufel noch mal, Ibloch, was ist denn los?“ erregte sich Pschakreff und sprang zum Mikroskop. Aber kaum hatte er einen Blick hineingetan, als er sich aufrichtete und versonnen vor sich hinsah:
„Niklas,“ befahl er nach minutenlanger Pause, „verfinstern Sie den Saal und rücken Sie uns das Sonnenmikroskop heran. Aber zuerst, Herr Pinter, schaun Sie auch einmal da hinein und sagen Sie uns, was Sie sehen.“
Pinter tat, als er durch das Objektiv geblickt hatte, ebenfalls einen erstaunten Aufschrei:
„Es sieht ja aus wie die Ruinen einer modernen Großstadt?“
„Sie bestätigen also meinen Befund! Wir leiden doch nicht alle drei an Augentäuschung? Auch Sie, Herr Professor, scheinen dieselbe Beobachtung gemacht zu haben“, sagte Ibloch.
„Gedulden Sie sich, meine Herren, bis wir die Sache so vergrößert wie möglich auf dem Schirm sehen“, beschwichtigte der Professor, worauf dann Niklas sofort die nötigen Anstalten mit gewohnter Umsicht traf. Zunächst wurden mehrere photographische Aufnahmen der mikroskopierten Objekte gemacht, und zwar nach dem allerneuesten Verfahren, welches gestattet, das Mikroskopierte nochmals und abermals zu mikroskopieren. Man könnte nach diesem Verfahren sogar Flöhe auf der Sonne wahrnehmen, wenn es dort welche gäbe; es gibt aber nur Erdflöhe. Nach allen Regeln der Schnellphotographie war in kurzer Zeit eine Aufnahme fertiggestellt; der Saal wurde verfinstert; die Flamme des Sonnenmikroskopes zischte auf, und der Schirm ihr gegenüber zeigte unverkennbar das Bild einer wie vom schlimmsten Kriege heimgesuchten und ruinierten Stadt, in der sich noch halbermordetes Leben gräßlich bewegte. Die Ansichten der verwüsteten Straßen und Plätze wurden immer schärfer und deutlicher. Selbst Niklas hielt jetzt mit seiner Verwunderung nicht zurück:

„Herrjeh! Ist das nicht Spandau? Oder nein, Moabit? Das Haus von meinem Schwager Pimpring, dem Lederfritzen, glaube ich zu sehen; also Spandau!“

Salomo Friedlaender

aus: Mynona (Salomo Friedlaender): Die Bank der Spötter. Ein Unroman, München/Leipzig: Kurt Wolff 1919 [erschienen nach Ostern 1920]; Ndr.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Herrsching: waitawhile 2007

Dienstag, 4. November 2014

Club 57


"Als ich ihm zum Quinquagennium was abinterviewen wollte – was sagte da Paul (Scheerbart)?: „So! So: Lieber S. Friedlaender! Also: auch du hast dich reinlegen lassen? Ei! Ei! Woher weißt du denn, daß ich 50 Jahre alt werde? Das sieht ja so aus, als wenn du etwas von meiner Entstehung wüßtest! Na – von mir sicherlich nicht. Oder – hier wird die Sache humoristisch – möchtest du dich auf Kürschners Literatur-Kalender verlassen? Oder – vielleicht auf die Angaben staatlicher und kirchlicher Behörden? Ich sehe, wie du dich abwendest; die Röte steigt dir in die Stirn. Na – weine man nicht! Ich nehme dir nichts übel. Täglich kommen Leute, die was von Fünfzig fabeln. Aber ich höre nicht hin, 5 und 7 sind die heiligen Zahlen. Daß du nun noch was Biographisches möchtest, finde ich naiv. Wenn schon der Anfang ein Problem, so muß das Folgende doch auch Problem sein. Wer befaßt sich aber mit Problemen, an deren Auflösung nicht einmal der Freidenker glaubt? Wer? Ich frage: Wer?“ (GS 2, 375) 
i. d. S., Detlef, Beartheark Hotel Chorschmalzenanlage