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Freitag, 7. November 2014

Spandau in der Hutmacherleiche (Teil 1)


In der Leichenkammer lag ein junger Hutmachergeselle, der im Gefängnis gestorben war, und harrte, nach Art von Leichen blasiert, auf die sezierende Hand des berühmten Geheimrats Anatomieprofessors Pschakreff. Der joviale Greis saß beim Frühstück, nahm einen Schluck Wein in seinen intelligenten Mund und schellte dem Diener. Das alte Faktotum erschien in der Türspalte.
„Bringen Sie mir mal den Hutmacher in den kleinen Seziersaal, richten Sie uns das Mikroskop und rufen Sie mir die Assistenten!“ Pschakreff rauchte noch gemächlich eine Havanna, erhob sich dann ruckweise und ging den langen, hellen Korridor hinunter, auf dem ihm seine Assistenten bereits entgegenkamen.
„Wir besorgen’s dem Hutmacher gleich, denke ich, meine Herren. Sie, Doktor Ibloch, mikroskopieren, was ich Ihnen hinreiche; und Sie, Herr Pinter, helfen mir bei der Sektion. – Eine Knochensäge, Niklas!“ rief er dem Diener zu.
Die drei Herren beschäftigten sich emsig; Niklas brachte die Säge. Pschakreff weidete den Hutmacher kunstgerecht aus, schmiß, was er nicht brauchen konnte, in einen Eimer und reichte von Zeit zu Zeit dem Dr. Pinter einen fetten Bissen, der ihn an Ibloch weitergab. Zugleich notierte man den Befund, und Pschakreff belehrte seine Assistenten über einiges Merkwürdige.
„Ein saubrer Bursch,“ sagte er anerkennend, „er schneidet sich göttlich! Zartes Fleisch, famose Därme. Niklas, Sie können hier mal sägen; geben Sie Herrn Pinter eine Knochenscheibe zum Dünnschliff!“
Rührender als ein Wiegenlied klingt für den Kenner das Zersägen eines Leichenknochens. Pinter am Mikroskop stieß Laute der Verwunderung aus.
„Was haben Sie?“ fragte der Professor.
„Ich glaube immerfort die sonderbarsten Sachen zu sehen, wenn ich die maximale Vergrößerung anwende,“ sagte Ibloch, „es kommt mir vor, wie wenn ich in eine Menschenwelt hineinsehe.“
„Ich verstehe Sie nicht recht. In eine Menschenwelt? Na gewiß doch! Auch Hutmacher sind meistens noch Menschen. Hutmacher gehören obendrein noch der Menschenwelt an – was? Haben Sie den Dünnschliff? Ja? Na da schielen Sie weiter in Ihre Menschenwelt hinein!“
Ibloch präparierte die Knochenschnitte und besichtigte sie durchs Mikroskop:
„Mein Gott,“ schrie er ganz erschrocken, „es ist eine zerstörte Welt mit Resten von Leben.“
„Ja, zum Teufel noch mal, Ibloch, was ist denn los?“ erregte sich Pschakreff und sprang zum Mikroskop. Aber kaum hatte er einen Blick hineingetan, als er sich aufrichtete und versonnen vor sich hinsah:
„Niklas,“ befahl er nach minutenlanger Pause, „verfinstern Sie den Saal und rücken Sie uns das Sonnenmikroskop heran. Aber zuerst, Herr Pinter, schaun Sie auch einmal da hinein und sagen Sie uns, was Sie sehen.“
Pinter tat, als er durch das Objektiv geblickt hatte, ebenfalls einen erstaunten Aufschrei:
„Es sieht ja aus wie die Ruinen einer modernen Großstadt?“
„Sie bestätigen also meinen Befund! Wir leiden doch nicht alle drei an Augentäuschung? Auch Sie, Herr Professor, scheinen dieselbe Beobachtung gemacht zu haben“, sagte Ibloch.
„Gedulden Sie sich, meine Herren, bis wir die Sache so vergrößert wie möglich auf dem Schirm sehen“, beschwichtigte der Professor, worauf dann Niklas sofort die nötigen Anstalten mit gewohnter Umsicht traf. Zunächst wurden mehrere photographische Aufnahmen der mikroskopierten Objekte gemacht, und zwar nach dem allerneuesten Verfahren, welches gestattet, das Mikroskopierte nochmals und abermals zu mikroskopieren. Man könnte nach diesem Verfahren sogar Flöhe auf der Sonne wahrnehmen, wenn es dort welche gäbe; es gibt aber nur Erdflöhe. Nach allen Regeln der Schnellphotographie war in kurzer Zeit eine Aufnahme fertiggestellt; der Saal wurde verfinstert; die Flamme des Sonnenmikroskopes zischte auf, und der Schirm ihr gegenüber zeigte unverkennbar das Bild einer wie vom schlimmsten Kriege heimgesuchten und ruinierten Stadt, in der sich noch halbermordetes Leben gräßlich bewegte. Die Ansichten der verwüsteten Straßen und Plätze wurden immer schärfer und deutlicher. Selbst Niklas hielt jetzt mit seiner Verwunderung nicht zurück:

„Herrjeh! Ist das nicht Spandau? Oder nein, Moabit? Das Haus von meinem Schwager Pimpring, dem Lederfritzen, glaube ich zu sehen; also Spandau!“

Salomo Friedlaender

aus: Mynona (Salomo Friedlaender): Die Bank der Spötter. Ein Unroman, München/Leipzig: Kurt Wolff 1919 [erschienen nach Ostern 1920]; Ndr.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Herrsching: waitawhile 2007

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