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Dienstag, 11. November 2014

Spandau in der Hutmacherleiche (Teil 2)


„Beruhigen Sie sich, Niklas! Was Sie sehen, ist der Querschnitt durch den Knochen einer Hutmacherleiche. Meine Herren, ich möchte sagen, es ist eine Urteilstäuschung; aber Sie sehen ja, daß selbst der gemeine Laienverstand unseres Niklas hier genau so urteilt. wie wir. Vielleicht – mir graut es schon ahnungsvoll – stehen wir vor einer der schauderhaftesten Entdeckungen. Sollten die philosophischen Schwätzer mit ihrem Mikrokosmos doch recht haben? Oder sind ausgerechnet Hutmacherknochen so merkwürdig konfiguriert? Wie denken Sie, Kollegen?“
Die Kollegen zögerten lange, dann sagte Pinter:
„Was mich betrifft, so halte ich eine besondere Struktur der Hutmacherknochen nicht für vorliegend. Ich möchte eher glauben, daß an dem philosophischen Gequassel vielleicht doch irgend etwas wahr ist.“
Ibloch schien mißtrauisch:
„Es ist mir, als ob uns jemand da einen Streich spielte. Wir müssen das Mikroskop auf die Möglichkeit eines Betruges genau untersuchen, bevor wir uns dieser Unglaublichkeit als einer Tatsache gefangen geben.“
Das geschah denn auch sogleich. Niklas beseitigte die Verfinsterung, und die Herren unterzogen das Instrument einer sorgfältigen Prüfung, ohne daß Iblochs Mißtrauen im geringsten gerechtfertigt worden wäre. Man fuhr noch einige Stunden lang in diesen Versuchen fort. Dem Hutmacher wurden die verschiedensten Querschnitte entnommen, die man sofort photographierte und dem Projektionsapparat anvertraute, und immer von neuem erschien das immer zweifellosere Resultat, daß man bei äußerster Vergrößerung menschlicher Leichenteile in ihnen die Trümmer der gewaltigsten menschlichen Kultur in Form von Städten und Ländern mit allen Schikanen erstorbener, ja zum Teil noch lebender Zivilisation entdeckte. Einer Täuschung durfte man sich gar nicht mehr hingeben, die Sache war evident, und nur mit ihrer Erklärung haperte es gewaltig. Selbst Niklas behauptete, es sei zum Verrücktwerden.
„Was soll man davon halten?“ fragte Pschakreff ratlos und fast ängstlich seine Assistenten. Man zog sich ins Kabinett des Professors zurück und debattierte stundenlang.
„Es bleibt nichts übrig,“ meinte Pinter, „als das Problem an die große Glocke zu hängen.“
„Ganz Ihrer Ansicht, Kollege,“ stimmte der Professor zu, „aber immerhin sollten auch wir nicht so gänzlich resignieren.“
Ibloch blieb sehr vorsichtig und argwöhnisch: „Ich fürchte irgendeine Blamage und bin dafür, die Sache zunächst noch geheim zu halten und über alle Zweifel sicherzustellen; möglicherweise ist irgendein verzwickter Anthropomorphismus, eine Illusion im Spiel, die vielleicht nicht einmal jeden bezwingt; unsere wissenschaftliche Reputation steht auf dem Spiel.“
Pinter dagegen war Feuer und Flamme für die Veröffentlichung des Rätsels auch ohne jede Lösung. Pschakreff bemühte sich um weise Vermittlung zwischen diesen extremen Forderungen: so ganz und gar mochte er noch nicht auf Enträtselung verzichten. Läge eine Illusion vor, so halte er sie nicht nur für idiosynkratisch. Er war für eine Publikation in sehr vorsichtig zurückhaltender Form und unter Ausschaltung jeder philosophischen Spekulation.
„Vor allem,“ riet Ibloch, „nur keine Alarmierung der großen Presse! Am besten, Sie berufen eine Konferenz ein, Herr Professor. Wir demonstrieren den Kollegen das klare Faktum; damit vergeben wir uns nichts.“
„Schön,“ sagte Pschakreff, „ich möchte nur gern irgendeine Aufklärung bekommen. Mikroskopiert, also vergrößert man den menschlichen Leib, so scheint er allerdings mikrokosmisch. Wir haben die Vergrößerung so weit getrieben, daß wir damit bis in menschliche Kleinigkeiten hinabkamen; besonders ergötzlich (möchte ich sagen) waren die kleinen Bahnhöfe, auf deren Schienensträngen mitunter noch Waggons rollten. Zweckmäßig wäre es, die Vergrößerung nicht gleich ins Ultramikroskopische zu steigern. Die Methode einer sanfteren Allmählichkeit müßte uns doch den Leib zunächst einmal astronomisch in Gestalt von Milchstraßen- und Sonnensystemen zeigen.“
„Und umgekehrt,“ schrie Pinter zurück, „könnte man die Milchstraßensysteme zum menschlichen Leib einschrumpfen lassen; es liegt in der Konsequenz. Mir schwindelt, wenn ich das durchdenke! Das Ultramikroskopierte, nochmals ultramikroskopiert, ergäbe ein ähnliches Resultat – und so in infinitum ...!“
„Einfach labyrinthische Katoptrik des Gehirns, nichts Reales“, warf Ibloch hochmütig hin.
„Mein Lieber,“ bemerkte Pinter sehr geringschätzig, „Sie fabeln von einer Realität an sich – püh! Faxe. Ich verstehe diese verschmitzte Art ganz gut. Leute Ihres Schlages möchten uns einreden, zwischen die Realität an sich und uns schiebe sich ein hübsches Linsensystem aus bunten Brillen, Spiegeln und sonstigen entstellenden Medien ein und zeige uns zwar die Realität, aber natürlich nach unserer Auffassung alteriert. Mächtiger Humbug! Bereits in Tertia fiel ich darauf nicht mehr hinein ... Einen Moment! Pardon, Herr Geheimrat,« wandte er sich an Pschakreff, der eingreifen wollte, bevor der Streit heftigere Formen annahm ... »ich bin gleich fertig. Sie sollten einsehen, Doktor Ibloch, daß die objektive Realität wesentlich nur phänomenal ist; und abstrahieren Sie von aller Phänomenalität und jenem Brillensystem, so stoßen Sie auf keine objektive Realität mehr, sondern eben auf das schöpferische Subjekt. ,Subjektiv’ als Schimpfwort ist auch ein schöner Unfug. Man meint nämlich, wenn man so schimpft, gar nicht das Subjekt, sondern gerade den Mangel an reinster Subjektivität, die tendenziös parteiliche Beeinträchtigung der Reinheit des Subjekts.“

„Meine Herren,“ kam endlich wieder Pschakreff zu Wort, „ich dächte, nun sei es übergenug mit diesen erkenntnistheoretischen Spitzfindigkeiten, und wir berieten uns weiter über die Möglichkeit einer Konferenz und zunächst fachwissenschaftlichen Publikation und Demonstration. Doktor Pinter, setzen Sie gütigst die Liste der Einzuladenden zusammen. Kollege Ibloch und ich entwerfen dann den Plan der Vorführung. Ich werde den einleitenden Vortrag halten, und Doktor Ibloch wird die Demonstrationen mit seinen Erläuterungen begleiten, zumal ihm der Ruhm der ersten Entdeckung gebührt.“ Ibloch wehrte schämig und nicht nur schämig, sondern ein wenig unwillig ab; er teilte weder den Enthusiasmus Pinters noch den reservierten Optimismus Pschakreffs. Ihm schwante Unheil. Keiner der drei Herren hatte übrigens mit der Geschwätzigkeit des guten Niklas gerechnet, der bereits am Kaffeetisch seiner Frau und seiner Tochter vorschwärmte, Ibloch hätte unterm Mikroskop in einer Leiche die Stadt Spandau so deutlich entdeckt, daß er, Niklas, mit seinen sehenden Augen das Haus des Schwagers Pimpring habe unterscheiden können. Zum Unglück war die Tochter mit dem Reporter der B. B. Z. „verhältnismäßig“ befreundet (um uns gelinde auszudrücken). Und so entstand wirklich das Unheil dadurch, daß bereits am Abend ein fettgedruckter Hinweis auf „Spandau in der Hutmacherleiche“ erschien, der allgemeine Heiterkeit erregte. Leider war der April längst vorbei; es herbstelte bereits, und man hielt das Ding für eine verspätete Ente. Bis dann ein Artikel des konsternierten Pschakreffs den Tatbestand gar nicht leugnete, sondern nur dessen Publikation als verfrüht beanstandete, bevor die Fachkollegen ihre Ansichten ausgetauscht hätten. Das geschah denn auch sogleich, nachdem Niklas eine ernstliche Verwarnung erhalten hatte, die er rasch an seine Frau weitergab, welche ihrerseits sie der Tochter handgreiflich beibrachte, so daß diesem liebenswürdigen Mädchen nichts übrigblieb, als dem Reporter den Standpunkt klarzumachen, der sich seinerseits von jeder Verbindung mit einer so fragwürdigen Jungfrau lossagte.

Salomo Friedlaender

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