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Montag, 27. April 2015

VERLOREN – GEFUNDEN, Folge I - Die Bücher MOHWEL, Erste neue Lieferung (2000)


Mit VERLOREN – GEFUNDEN wird eine Textfolge veröffentlicht, die zu gut ist, um gelöscht - und zu schlecht - um publiziert zu werden. 

Der Daten-Messi beginnt mit den Büchern MOHWEL von Matthias Gruppe und Hartmut Andryczuk. Der ursprüngliche Kollektivtext begann im Jahre 1984 in der Ruhstrathöhe in Göttingen. Nach Einbruch der winterlichen Dunkelheit trafen sich die Protagonisten zum Schreiben. Man betrank sich gemeinsam in der Küche, bis ein Autor das Zimmer betrat, um auf einer einzelnen Schreibmaschine zu schreiben. Danach verliess er häufig grinsend den Raum, um den anderen Schreiber Platz zu machen. 

Nach einigen Textfolgen ergänzten die Autoren ihre mohwelitische Arbeit mit Kassettenrekorder-Aufnahmen, indem sie die Texte mit verstellten Stimmen vorlasen oder auch auf Waldhörnern bliesen. Jeder dieser Sessions dauerte bis spät in die Nacht oder bis zum Morgengrauen. Leider sind die Tondokumente verschwunden.

Unglücklicherweise ist das gesamte Typoskript aus den 1980er Jahren verschwunden, da der Korrekturleser das Manuskript in seiner Wohnung vergessen hatte, die 2014 zwangsgeräumt wurde. 

Im Jahre 2000 besuchte uns unser alter Solipsisten-Freund Matthias Grupe überraschend in Berlin und wir entschieden uns, die "Bücher Mohwel" weiter zu schreiben. Es entstand ein kurzer Text-Wechsel, der hier zum ersten Mal veröffentlicht wird.

Nach einigen Monaten hörte ich nichts mehr von Matthias. Ich hatte ihn zuvor 16 Jahre nicht gesehen. Er war nicht mehr erreichbar, hatte keine nachvollziehbare Anschrift, keine Telefonnummer und keine Malianschrift. Selbst alte Bekannte wussten nichts Genaueres über ihn. Mal sah man ihn morgens um vier Uhr in einer Diskothek, dann wieder nachmittags in einer Vorlesung. Andere hatten ihn  schon monatelang nicht mehr gesehen. Das war, wie gesagt, im Jahre 2000.

Inzwischen sind wieder 15 Jahre vergangen. (Hier die erste Folge):

Ich kann mich nur schwer an Theodore Köpfen erinnern. Gänselieselbrunnen, Klinkersteinstrasse, eine ehemalige Baptistenkirche, in der im letzten Jahrhundert sich eine fanatische Sekte von Bergarbeitern niedergelassen hatte, bevor der Magistrat der Stadt Göttingen die Mitglieder verjagte. 

Theodore Köpfen war kein Bekannter von MOHWEL; nicht mal entfernt. Warum nur ist er jetzt in meiner Ernnerung? Eigentlich war ihm nichts mehr geblieben: keine Nokia-Aktien, keine Liaison, keine Manuskripe. Nicht der Hauch eines Gedichts, nicht der Ansatz einer Zeile. Alle Audio-Kassetten hatte sein Steuerberater eingezogen. Aber ich erinnere mich auch nicht mehr, wozu Köpfen einen Steuerberater brauchte. Keine Einnahmen, keine Ausgaben. So hockte er in seinem Einzimmer-Appartement mit Kochnische und Hängeboden und blickte schon die ganze Zeit auf seine elektronische Fake-Fussfessel. Sollte er diesen Raum verlassen? Und wenn ja, wohin und wozu? In der Brusttasche seines marineblauen Hemdes biepte sein Fake-Mobiltelefon mit der Musik von Vivaldis “Vier Jahreszeiten”. Dieser Apparat war darauf programmiert worden, sich alle 15 Minuten zu melden. 

Eine Amsel liess sich am Fensterbrett seiner Kochnischen-Aussicht nieder, hielt einen Wurm in seinem Schnabel, der folgende Worte zu Theodore sprach: “Verlass diesen Raum niemals. Denk nicht einmal daran. Wenn du ihn verlässt, wirst du sterben.” Und als Theodore diesen Symbolismus völlig begriffen hatte, fiel der Wurm aus dem Schnabel und suchte auf der ebenen und glatten Fläche des Fensterbretts eine Vertiefung, um seinen Körper zu schützen. Allzumenschliche Wurm-Interpretationen? Liegt in den hektischen Pendelbewegungen und Krümmungen des Wurm-Körpers auf einer ebenen Fläche eine Art Ekstase, von der weder Theodore Köpfen, noch MOHWEL, noch der Singvogel etwas wissen?

Die Amsel hatte ihre Art zu singen: Singvogel-Art. Theodore Köpfen seine Art auf die Fake-Fussfessel zu blicken, aber diese Art war nichts Besonderes und auch nichts Schönes. Eigentlich war es keine richtige Art: vielmehr glotzte er eher stumpfsinnig darauf. Vermutlich hatte er vergessen, das die Fussfessel nichts fesselte. Man muss begabt sein, um Würmer sprechen zu hören. Aber diese Begabung hatte er nicht.

MOHWEL schrieb keine Briefe mehr an ihn. Ich erinnere mich nur an einen, den er 1985, (Poststempel Ulan Bator) abschickte und die folgende Nachricht enthielt: “Sehr geehrter Herr Köpfen. Obwohl ich eine moderne mythologische Gestalt bin, habe ich mich dazu entschlossen, Schriftsteller zu werden. Können Sie mir Verlage nennen, an die ich meine Manuskripte senden kann. Ich wäre zunächst auch mit einem alternativen einverstanden, welche meine Prosa, Lyrik, Essays, Übersetzungen, philosophischen Betrachtungen und experimentell verschachtelten Wort- und Satzmontagen in fotokopierten Auflagen und Selbstbindearbeit produzieren. Da ich infolge meiner früheren Feldzüge sehr reich geworden bin, kann ich aber auch für alle Herstellungskosten aufkommen. Mit freundlichenGrüssen: M.” 

Antwort: “Lieber MOHWEL, ich kenne eine Vielzahl kleiner Verlage, deren Lektoren sehr offen für neue Texte sind. Obwohl ich deine Texte nicht kenne, würde ich gerne eine kleineTextprobe in unserer Zeitschrift “DER REIFENDE APFEL” abdrucken. Theodore”.
Und hier ist das gedruckte Gedicht von MOHWEL: DER REIFENDE APFEL Nr. 93 B, Salzgitter 1986.

“In der Wüste Gobi
fahren manchmal Autos
aber auch Züge
Kamele
gab es einmal dort
Jetzt nur ab und zu
Gelegentlich stört
ein Thunfisch
meine Aktivität
obwohl er tot ist
Die ganze Wüste
ist mein zuhause
Gestern hätte ich 
gern Affenbrotbäume
gesehen
am Horizont 
der Ozean
das Boot
von Heinrich Schiff.


(Fortsetzung folgt)”


Donnerstag, 23. April 2015

Borrelien-Alarm bei Patient SSW802X

HA, Danke AOK 

Am Morgen ein Telefonanruf. Meine Kollegion ist am Apparat. Sie schaut ein wenig verstört drein. Diesen Blick kenne ich. Der besagt so viel wie: da ist schon wieder so ein bekloppter Künstler am Telefon, der seinen Namen nicht sagen will und sofort und ohne Gruß einen Hartmut Andryczuk vom Hybriden-Verlag sprechen will. Auch das noch: ein Künstler-Anruf am frühen Morgen. Hoffentlich nicht jemand, der mir sein Werk vorstellen will. In meinem "Alles-Scheiße-Zustand", wo ich 57jähriger mir wie 75 vorkomme, will ich niemanden sehen, niemanden sprechen und schon gar nicht treffen. 

Aber diesmal ist es anders. Die Dame stellt sich als eine Frau Soundso vom Gesundheitsamt Tempelhof-Schöneberg vor. 

"Sind Sie Herr Andryczuk?"
"Ja."
"Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass sie eine Infektionskrankheit haben."
(Kurze Pause. Was könnte das sein: HIV, Hepatitis C, Ebola?).
"Es wurden Antikörper gegen Borrelien in ihrem Blut entdeckt. Sie haben eine Borreliose. Waren Sie in der letzten Zeit öfters im Freien?"
"Nein, ich bin nicht mit kurzen Hosen durchs Schilf gewatet und erinnere mich nicht daran, von einer Zecke angefallen worden zu sein." Seit Jahren schon nicht. Der letzte Zeckenüberfall muss etwa im Jahre 1978 oder 1979 gewesen sein. Damals saugte sich das Monster an meinem Ohrläppchen fest. Und was kann ich dagegen tun, frage ich die Frau vom Gesundheitsamt.
"Oh, das ist ganz schwierig. Eine Bekannte von mir hat auch Borreliose. Antibitiotika hat dagegen gar nichts genutzt, aber Heilerde hat ihr geholfen. Sie müssen da zu einem Spezialisten, aber da gibt es ganz wenige und die sind alle völlig ausgebucht. Einen Termin bekommen sie da ganz schwer."

Zuletzt bekomme ich den Rat, bei Google zu suchen. Das ist ein ausgesprochen toller Vorschlag. Beim Suchbegriff "Borreliose" landet man mit ziemlicher Sicherheit bei irgendwelchen Selbsthilfe-Irren, Angst-Neurotikern und Hypochonder-Zirkeln, die jede Phobie, jede depressive Anwandlung, grippalen Infekt, Menstruationsbeschwerden und Nagelbettentzündung als Folge der Borrelien-Infektion vermuten. Als Therapie buchen sie dann als Selbstzahler aufwendige Antibiotika-Kuren und ominöse Western-Blot-Tests, die ihre Nerven völlig zerrütten. Ich frage da lieber einen Fachmann, den Dr. B. Der ist zunächst nur entsetzt über soviel Dummheit am Telefon, meint, dass die Sache ziemlich harmlos ist und er bei diesen Antikörper-Werten erst einmal gar nichts zu tun würde. Der Arzt im Labor bestätigt ihm seine Auffassung. Merkwürdig findet er nur, dass diese Infektion meldepflichtig ist, obwohl sich doch niemand damit ansteckt. Vielleicht sollte ich kein Blut mehr spenden.

Der Dame vom Gesundheitsamt Tempelhof-Schöneberg kann ich ja einen Sack Heilerde senden mit dem Vermerk "Hat auch nichts genutzt". Patient: SSW802X.