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Freitag, 26. Februar 2016

Die Amsel

Foto von Wolfgang Müller

Die Erzählung „Die Amsel“ von Robert Musil wurde 1936 veröffentlicht. In mehrfachen Spiegelungen wird von zwei Jugendfreunden berichtet, genannt Aeins und Azwei Dabei werden drei Geschichten erzählt: Auf dem Dach eines Berliner Mietshauses singt eine Nachtigall. Am Ende heißt es: „Es war gar keine Nachtigall, es war eine Amsel.“ 
Meine kleine (wahre) Amselgeschichte hat sich heute zugetragen. Und sie beginnt so: Gegen 13.00 klingelte es. Der Paketbote fragte über die Sprechanlage, ob ich eine Sendung für eine Nachbarin annehmen würde. Ich sagte zu und kurze Zeit später öffnete ich die Wohnungstür. Der junge Bote stand da mit einem grauen Karton und einem Gerät für die elektronische Signatur. Beim Unterzeichnen fiel mein Blick auf ein dunkles starres Federknäuel, welches nur wenige Zentimeter entfernt von seinen Füßen stand, völlig bewegungslos. „Was ist denn das?“, sagte ich. Der Bote schaute ebenfalls nach unten. Es war eine Amsel, die mit aufgeplusterten Federn in Richtung meiner Tür stand, vollkommen starr, wie ein ausgestopftes Präparat. Wir schauten sie näher an. Sie rührte sich nicht, blinzelte nur kurz mit dem Augenlid.
Offensichtlich war das Tier ins Treppenhaus geflogen, hatte den Ausgang nicht mehr gefunden und war nun gelähmt vor Angst oder Verwirrung. Wir planten eine Rettungsaktion. „Ich hole eine Bahne Küchenpapier und werfe sie über den Vogel“, sagte ich, „wenn er nichts mehr sieht, dann kann man ihn ergreifen“. 
Doch die Rettungsaktion missglückte. Das Papier bedeckte zwar den Vogel, doch bei meinem ersten Zugriff schlüpfte er vorn aus der Papierbahn und hüpfte vier Treppenstufen hoch. Zwei weitere Fangversuche des DHL-Boten missglückten: „Ich möchte ihn nicht verletzen.“, sagte er. Ich ermutigte ihn: „Nein, so empfindlich sind die nicht, greifen sie einfach beherzt zu, mit beiden Händen.“ Tatsächlich gelang der vierte Versuch. Mit dem Vogel unter dem Papier in der Hand stieg der Bote die Treppe auf, öffnete das kleine Lüftungsfenster (Foto) und setzte den Vogel auf den Sims.
„Komisch. Er fliegt ja gar nicht weg“, wunderte er sich und drückte mir das zerknüllte Papier in die Hand. Ich meinte: „Vielleicht ist die Amsel noch benommen und muss sich erst mal neu orientieren?“ „Schauen Sie später noch mal nach?“, fragte der Bote, bevor er ging. Ich versprach das zu tun.

Wolfgang Müller

Freitag, 19. Februar 2016

Der die das Dada

Valeska Gert, Performance-Standbild
 nach einem Video von Ernst Mitzka

Centennial Die Kunstgeschichte ist bis heute damit beschäftigt, die Vielseitigkeit der Bewegung einzusortieren. Aber Dada erscheint immer dort, wo niemand es erwartet

Dada, das steht bis heute für Nonkonformismus, für Revolte, Anarchie und Anti-Kunst. Dada ist die Irritation aller Gewohnheiten, ist Grenzüberschreitung und die Infragestellung von Gewissheiten. Die Kunstgeschichte ist bis heute damit beschäftigt, die damals entstandene Vielfältigkeit einzusortieren, hat sich aber darauf geeinigt, dass Dada am 5. Februar 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire das Licht der Welt erblickte. Mitten im Ersten Weltkrieg, in der friedlichen Schweiz. Die ins Land emigrierenden Künstler verband eine radikal pazifistische Haltung. Offenbar gingen sie dem von Politikern und Militärs allenthalben gepredigten Fortschrittsglauben und politischen Notwendigkeiten nicht auf den Leim. Dada-Bewegungen entstanden zeitgleich auch in anderen europäischen Staaten und in New York. In den USA bildete sich eine Dada-Zelle aus exilierten Pazifisten wie Marcel Duchamp, Francis Picabia und der Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven.
Eigentlich widerspricht es dem Geist von Dada, ein 100-jähriges Jubiläum zu feiern. Denn die Kunstbewegung, die dem Wahnsinn der Realität einen Spiegel vorhalten wollte, stellte jedes Jubiläum in Frage – entlarvte es als Konstruktion oder Instrument von Machterhalt. Dada wusste: Vernunft und Rationalität, die die Politik für sich in Anspruch nimmt, sind längst abgeschafft, die Welt ist durchgeknallt. Wie grotesk klingen Worte von Gottes unendlicher Liebe, wenn die Bischöfe dabei die Waffen für das kommende blutige Gemetzel segnen? In Berlin unterbrach der Prä-Aktionskünstler und religiös-okkultistische Johannes Baader 1918 eine Dompredigt mit dem Zwischenruf „Was bedeutet euch Jesus Christus? Er ist genau wie ihr – ihm ist alles egal!“ und verteilte in seiner Funktion als Oberdada im Reichstag Flugblätter zur „Grünen Leiche“.
Offiziell heißt es, dass der „Künstler Hugo Ball mit seiner Freundin Emmy Hennings“ in der Zürcher Spiegelgasse 1 das Cabaret Voltaire gründete. Schon bald stießen der deutsch-französische Hans alias Jean Arp, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und die Tänzerin Sophie Taeuber hinzu. Und es wird deutlich, dass selbst der die das anarchische Dada eine ziemliche Männerwelt war. Also, deshalb an dieser Stelle anlässlich des Jubiläums mal ein wenig anders formuliert: „Die Sängerin und Schriftstellerin Emmy Hennings gründete 1916 mit ihrem Freund Hugo Ball das Cabaret Voltaire.“ Wie klingt das?

Bretons Fabrikmarke

Verglichen mit der Bewegung der Futuristen scheint Dada zumindest etwas offener für Künstlerinnen gewesen zu sein. Zumal fehlende Kriegsbegeisterung bei Männern bis heute als irgendwie unmännlich gilt. Die Futuristen, eine Männergruppe, waren hingegen fasziniert vom Krieg, schwärmten von dessen kathartischer Kraft und steckten voller Fortschrittseuphorie. Das Gegenteil verkörperte die prä-queere Tänzerin Valeska Gert, die in ihrer Biografie Ich bin eine Hexe über eine Matinee der Dadaisten in Berlin schrieb: „Der Höhepunkt des Programms war ein Wettrennen zwischen einer Nähmaschine und einer Schreibmaschine. An der Schreibmaschine saß George Grosz. Kaum im Saal entdeckt, schleifte man mich auch schon auf die kleine Bühne, und ich tanzte zu den Geräuschen der beiden Geräte, eine Tüte aus Zeitungspapier mit zwei Pfund Spargel im Arm – also, es gab schon damals Happenings.“

Einige Jahre später, 1926, gerät ein von Valeska Gert als „Surreale Tänze“ angekündigter Auftritt in Paris zum Desaster. Die Schriftstellerin Claire Goll erinnert sich: „Kaum erschien Valeska Gert auf der Bühne, so machten sich die Surrealisten mit gellenden Pfiffen und faulen Eiern Luft. Im Zuschauerraum entstand ein unbeschreibliches Getümmel. André Breton sprang auf einen Sitz und beanspruchte laut für sich das alleinige Recht, das Wort Surrealismus zu gebrauchen. Es war kein Dichter mehr, der da gestikulierte, sondern der Exklusivbesitzer einer Fabrikmarke.“

In den Dada-Zentren Berlin, Hannover und Köln führt das Vorhaben, die Ideologien, Ismen und Bluffs von Religion, Politik und Kunst zu entlarven, letztlich zu eigenwilligen Ästhetiken. Auch „Anti-Kunst“ wird spätestens mit zeitlicher Distanz wieder Kunst – das müsste inzwischen bekannt sein. Ist es aber nicht. Bis heute wird ein stundenlang „Heil Hitler“ kreischender Performancekünstler in Kunst und Medien als „provokanter Dada-Künstler“ und „Tabubrecher“ bezeichnet. Ob sich durch solch fade Effektkunst die gegenwärtige Macht des Neo-Individualliberalismus bestätigt, in dem die zeitgenössische Kunst inzwischen als Beleg grenzenloser Freiheit funktionalisiert wurde? Das wird kaum hinterfragt.

Während der Berliner Dadaismus der 1920er mit John Heartfield, Richard Huelsenbeck und Raoul Hausmann seinen politischen Anspruch betonte, stellte Hannah Höch zusätzlich unbequeme Fragen nach den tradierten Geschlechterrollen. Auch die moderne Kunst entwickelte sich in einer Gesellschaft guter Kumpels, die über entsprechende Netzwerke verfügten. Während die Dadaisten aus Berlin dem Hannoveraner Künstler Kurt Schwitters politisches Bewusstsein absprachen und ihm die Rolle eines spießbürgerlichen Ästheten zuwiesen, blieb er zeitlebens freundschaftlich eng mit Höch verbunden. Für die langjährige lesbische Beziehung zwischen Hannah Höch und der niederländischen Schriftstellerin Til Brugman zeigten allerdings auch die Dadaisten kaum ein größeres Verständnis als Otto und Anna Normal.

Und Post-Dada? In den 1960ern waren Yoko Ono und Joseph Beuys im Fluxus aktiv. Beuys reproduzierte die Zeitungsannonce „Künstler für die SPD“, druckte darüber in altdeutschen Lettern „Kitschpostkarte“ und fügte sie ein in die Postkartenedition seines Kollegen Klaus Staeck. In den 1970ern war SPD-Mitglied Staeck mit Plakaten in der aufklärerischen Tradition des Dadaisten John Heartfield bekannt geworden. Heute wirken ernstgemeinte Wahlplakate, auf denen die SPD „soziale Gerechtigkeit“ fordert, wie groteske Wiedergänger von Klaus Staecks satirischen Politplakaten der 1970er. Die sich in den Betrachtern vollziehende Interaktion zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen Form und Inhalt scheint einen elementaren Teil seiner Kunst aufgelöst zu haben. Die Realität hat sie eingeholt. Was bleibt übrig?

Überdies sehr vernünftig

Ein weiteres Mal tauchte Dada 1977 im Gewand des Punk auf: als Anti-Popmusik. Auf dem grellfarbigen Cover der Sex-Pistols-LP Never Mind the Bollocks prangte der Bandname in unterschiedlichen Buchstabenfonts – ein Erpresserbrief, Identität verschleiernd. Solches Design wird bis heute sofort mit Punk identifiziert. Die Ästhetik der Linksalternativen, die im gleichen Zeitraum Selbstverwirklichung und Individualität propagierten, ist dagegen in der Bionadebiedermeier-Ästhetik spurlos aufgegangen und diese im Mainstream. Auf euphorisch bunten taz-Sonderseiten zum Schlagerwettbewerb ESC verschwindet jede ästhetische Differenz beim Versuch homonationaler Identitätskonstruktion.

Das Verschwinden oder Erscheinen von Kunst und Ästhetik haben Marcel Duchamp und Valeska Gert früh thematisiert. Während Erstgenannter mit industriell hergestellten Readymades wie einem Urinal 1917 darauf hinwies, dass die Kunst im Betrachter selbst entstehe, brach Valeska Gert die damalige Konvention vom Fortschrittsglauben 1919 mit Tänzen wie Pause. Und während Gert 1920 das Boxen erlernte, um es als Frau im modernen Tanz umsetzen zu können, verwandelte sich Duchamp für einen Parfumflakon in Madame Rrose Sélavy.

Dada erscheint seither in immer wieder anderer Gestalt, vor allem dort, wo es niemand erwartet. Der Komiker Jón Gnarr gewann 2010 nach dem Bankencrash mit seiner „Besten Partei“ unerwartet die Bürgermeisterwahl in Reykjavík und setzte dann konsequent Dada-Politik um. Er versprach, besonders korrupt zu sein – und brach sein Wahlversprechen. Beim isländischen Gay Pride hielt der fünffache Familienvater verkleidet als Ehefrau Jóga die Rede: „Ich vertrete heute meinen Mann, den Bürgermeister.“

Gnarrs Beispiel zeigt: Das Provokante ist auch heute selbstironisch, liebevoll, human, pazifistisch und überdies sehr vernünftig. Nach vier Jahren Dada-Regierung war Reykjavík schuldenfrei und Jón Gnarr dermaßen beliebt, dass er laut Umfragen sogar Präsident von Island werden könnte. Falls er es denn wollte.


Wolfgang Müller