Foto von Wolfgang Müller |
Die Erzählung „Die Amsel“ von Robert Musil wurde 1936 veröffentlicht. In mehrfachen Spiegelungen wird von zwei Jugendfreunden berichtet, genannt Aeins und Azwei Dabei werden drei Geschichten erzählt: Auf dem Dach eines Berliner Mietshauses singt eine Nachtigall. Am Ende heißt es: „Es war gar keine Nachtigall, es war eine Amsel.“
Meine kleine (wahre) Amselgeschichte hat sich heute zugetragen. Und sie beginnt so: Gegen 13.00 klingelte es. Der Paketbote fragte über die Sprechanlage, ob ich eine Sendung für eine Nachbarin annehmen würde. Ich sagte zu und kurze Zeit später öffnete ich die Wohnungstür. Der junge Bote stand da mit einem grauen Karton und einem Gerät für die elektronische Signatur. Beim Unterzeichnen fiel mein Blick auf ein dunkles starres Federknäuel, welches nur wenige Zentimeter entfernt von seinen Füßen stand, völlig bewegungslos. „Was ist denn das?“, sagte ich. Der Bote schaute ebenfalls nach unten. Es war eine Amsel, die mit aufgeplusterten Federn in Richtung meiner Tür stand, vollkommen starr, wie ein ausgestopftes Präparat. Wir schauten sie näher an. Sie rührte sich nicht, blinzelte nur kurz mit dem Augenlid.
Offensichtlich war das Tier ins Treppenhaus geflogen, hatte den Ausgang nicht mehr gefunden und war nun gelähmt vor Angst oder Verwirrung. Wir planten eine Rettungsaktion. „Ich hole eine Bahne Küchenpapier und werfe sie über den Vogel“, sagte ich, „wenn er nichts mehr sieht, dann kann man ihn ergreifen“.
Doch die Rettungsaktion missglückte. Das Papier bedeckte zwar den Vogel, doch bei meinem ersten Zugriff schlüpfte er vorn aus der Papierbahn und hüpfte vier Treppenstufen hoch. Zwei weitere Fangversuche des DHL-Boten missglückten: „Ich möchte ihn nicht verletzen.“, sagte er. Ich ermutigte ihn: „Nein, so empfindlich sind die nicht, greifen sie einfach beherzt zu, mit beiden Händen.“ Tatsächlich gelang der vierte Versuch. Mit dem Vogel unter dem Papier in der Hand stieg der Bote die Treppe auf, öffnete das kleine Lüftungsfenster (Foto) und setzte den Vogel auf den Sims.
„Komisch. Er fliegt ja gar nicht weg“, wunderte er sich und drückte mir das zerknüllte Papier in die Hand. Ich meinte: „Vielleicht ist die Amsel noch benommen und muss sich erst mal neu orientieren?“ „Schauen Sie später noch mal nach?“, fragte der Bote, bevor er ging. Ich versprach das zu tun.
Wolfgang Müller
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