Es ist vernünftiger, nichts Neues zu beginnen. Mit dem Alten weitermachen, bis mir nichts mehr einfällt. Ich bin schon angekommen: mir fällt nichts mehr ein. Diese Zeilen habe ich 1985 dem grossen Dramatiker Samuel Beckett geschickt. Dem Brief fügte ich die Notiz bei: "Ich habe immer studentisch gelebt, ohne studiert zu haben." Beckett antwortete mir damals: "Sie müssen dort weitermachen, wo ihnen nichts mehr einfällt." An diesem Punkt bin ich jetzt. Lästiger Besuch von einem Typen, der mir seine Gedichte vortragen wollte. Um 9 Uhr 30. Erst sollte ich sie mir anhören, dann in den icv einscannen, um das ganze im Copycat zu klonen. Der Typ bot mir kein Honorar an. Er brachte Himbeertee mit Ananasgeschmack. Ich bin kein unhöflicher Mensch: also trank ich den Tee. Dabei erinnerte ich mich an das ganze Elend der Bewohner von Holzminden, die in der Nähe der Geruchsstofffabrik DRAGACO leben.
Ich selbst habe ein solches Elend nie kennengelernt. Kleingarten in der Nähe von vollsynthetischen Düften mit Blutwurst und Jasmin, unbezahlte Hypotheken und vor allem - keine Haustiere. Die Tiere hatten als erste die Umgebung verlassen und die Menschen mähten ihre toten Rollrasen und harkten pedantisch ihre ertragslosen Gemüsebeete. In der Dämmerung flimmerten hinter den gardinenbehangenen Fenstern die Schwarzweiss-Fernseher der arbeitslosen Immobilienbesitzer, welche ihre Breitbandkabel illegal gelegt hatten.
Nein, meine Garage war immer geräumig und sehr modern eingerichtet. Natürlich: hier ist die Wiege der modernen Kommunikationsmittel: Interceiver, CC, Copycat und Quark-Net - an all diesen Erfindungen war ich beteiligt. Das Wort "Kommunikationsmittel" ist mir dabei beinahe zu kalt, zu unmenschlich. Die Technik ist etwas zutiefst Irrationales und Emotionales. Ich durfte dazu beitragen, sie zu vermenschlichen. Der Interceiver hat etwas warmherziges und seelenvolles. Die "Nostradamus"-Serie schon nicht mehr so stark, wie die ersten Modelle, an deren Marktpräsenz ich beteiligt war. Mit dem Interceiver Paracelsius 7.7 verbinde ich die schönsten Erinnerungen: den Glauben an eine vollkommen harmonisch gestaltete Welt, bevölkert von gnadenlos gut aussehenden und gesunden Bewohnern.
Eine Welt ohne Krankheit, ohne Negativismen und Nihilismen. Und jetzt dieser Typ mit seinem Himbeertee. Sagt: "Ich hab schon viel von Ihnen gehört. Können Sie mir helfen." Ich konnte. Die Konsequenzen waren verheerend. 99 haikuähnliche Gedichte als eine Hommage an den Lambrusco-Landwein der 1970er Jahre, eingescannt in den icv und als anonyme Quark-Mail im Copycat dreimillionenfünfhunderttausendundsechshundertneunundneunzigfach verbreitet. Das musste vorher seinen Preis haben. Ich ließ den Typen ein Formular unterschreiben, indem er sich verpflichtete, 15 Ampullen seines Blutes kostenlos bei mir abzugeben. Ich werde diese Proben später für gutes Geld an den AMINO-MASTER weiterleiten. Zugegeben, der Name dieser AG wirkt unbeholfen und ungeschmeidig, aber sie haben sich einen Namen mit der Produktion von Gensequenzern gemacht. Aber was will man mit den Genen dieses Typen?. Gemüseladenbesitzer klonen, die Kiwis mit Bananengeschmack verkaufen?
Gegen 10 Uhr kam Matthias Grupe in die Garage. Ein immer wieder gern gesehener Gast, den ich schon damals im Anglizistikseminar in der Weender Landstraat schätzen gelernt habe. Wir waren damals die einzigen Deutschen, die sich an der Universität Groningen immatrukuliert haben. Eigentlich besuchte ich die Seminare nur wegen Matthias. Schon damals interessierte er sich brennend für die amerikanischen Sezessionskriege und den Calhoun-Clan und war ein glühender Verehrer des Historikers und Schriftstellers Dean Vandyke. Er verfolgte die Geschichte der MOVELIANS, einer Glaubensgemeinschaft, deren Mitglieder schon damals eine Strategie der unbegrenzten Geldvermehrung und des wirtschaftlichen Aufschwungs mit tiefenpsychologischen Erkenntnissen und
magisch-rituellen Praktiken verbanden. Die MOVELIANS liessen ihn nicht mehr los; manchmal glaubte ich, er konnte nur eine direkte Inkarnation des ersten MOHWEL sein, ohne davon zu wissen. Die MOHWELIANER würden ihn wiederfinden, wie die tibetischen Buddhisten ihren DALAI LAMA.
Matthias trat ein, den icv locker wie einen Hermelin um seine Schultern geworfen und sagte: "Hi Joshua, hast du noch den Code für Jean Vandykes Buch." - "Welches Buch meinst du? Die Geschichte der Blutopfer bei den Mohwelianern? oder "I BELIEVE! HISTORY OF THE MOVELIANS?". Matthias meinte letzteres: also den 16tausend seitigen Wälzer, unterteilt in 80 Bänden - das Standardwerk über diese Glaubensgemeinschaft. OK! Search! Van Dyke! MOVEL THE MOVELIAN! QUARK-NET HIGH-SPEED MEGA-INFORMATION. PRINT. CODE: LINSEL-DR-LICHTBILDER-30JÄHRIGER KRIEG. Wir mussten warten. 16.000 Seiten in 15 Minuten, immerhin.
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