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Montag, 24. August 2015

Bruch (2)


A: Endlich einmal sind wir hier wieder einmal alle einmal zusammen versammelt!
B: Leider nicht, Max fehlt.
A: Jachgott, was soll man da machen?
B: Er hat sich ein Bein gebrochen.
A: Dieser Halunke!
B: Wieso Halunke? Mit Absicht hat er es sicher nicht gemacht.
A: Mit was denn dann? Wer bricht sich denn schon sein eigenes Bein einfach so?
B: Ein Ski-Unfall.
A: Nach einem Unfall hört es sich schon an, ein richtiges Fallen kanns ja nicht gewesen sein, also muss es ein Un-Fallen gewesen sein. Ist er zum normalen Fallen zu dumm? Glaube ich nicht. Nun, damit können wir uns jetzt hier nicht weiter aufhalten, wir wollten uns hier ja einmal wieder eher zusammenhalten als auseinanderhalten, nicht? Also: ich freue mich, dass ihr heute alle gekommen seid.
B: Nicht alle, Max fehlt.
A: Also, dass ihr alle ausser Max gekommen seid.
B: Freiwillig wars nicht. Sie hatten gesagt, wir müssten kommen, sonst bekämen wir keine Zeugnisse.
A: Das ist richtig.
B: Bekommt Max jetzt sein Zeugnis nicht?
A: Sicher nicht!
B: Aber er kann doch nichts dafür, wenn er im Krankenhaus liegen muss.
A: Er hätte sich das Bein ja nicht brechen müssen, hat ihn ja keiner dazu gezwungen.
B: Es war aber doch ein Unfall, da kann er doch nichts dafür!
A: Sicher kann er was dafür, wer denn sonst? Oder hat ihm jemand anders das Bein gebrochen? War er doch selbst, oder?
B: Aber so etwas will doch niemand!
A: Will niemand! Passiert  es aber jeden Tag xmal, dass sich jemand sein Bein oder gar beide bricht! Dauernd brechen sich die Leute ihre Beine, Tag und Nacht! Und du sagst mir, das will niemand?
B: Die Tatsache, dass es passiert, heisst doch noch lange nicht, dass man das will, was einem da passiert!
A: Ah nicht? Ihr wollt eure Zeugnisse, also seid ihr gekommen. Er will kein Zeugnis, also kommt er nicht. Natürlich weiss er, dass es ein schlechtes Zeugnis ist. Ein Halunke, sag ich ja.
B: Vorhin haben Sie aber gesagt: sowas macht niemand! Sich ein Brein brechen.
A: Natürlich nicht! Einfach so, um sich vor seinem eigenen schlechten Zeugnis zu drücken, das macht niemand, der einen klaren Verstand besitzt. Dieser Max ist ein ganz Gerissener, der hat das mit Absicht gemacht und alle, die sowas machen, die machen das auch mit Absicht, weil die dann da und dorthin nicht gehen wollen. Und so brechen sie sich die Beine, Tag für Tag und Nacht für Nacht, damit sie damit nicht gehen müssen, und nur, um sich vor etwas zu drücken oder gar um Mitleid zu erregen, bei den normalen Gehern. Und natürlich weiss er, dass sein eigenes Zeugnis schlecht ist. Wäre es gut gewesen, wäre er ja wohl gekommen, oder nicht? Wer will schon sein eigenes schlechtes Zeugnis sehen? Und wieso sollte er es auch noch selbst abholen? Er weiss ja wie schlecht sein Zeugnis ist. Er ist ja selbst Zeuge davon, hat es selbst gezeugt. Wozu braucht er es denn dann? Was soll er damit? Vor sich selbst hat er sein schlechtes Zeugnis schon abgelegt, er braucht es nicht. Er will nicht mein Zeugnis, er will das Zeug nicht! Es ist sein Zeugnis, aber ich stells ihm aus. Ich stells in die Ausstellungsvitrine, darauf kann er sich verlassen. Ich stell ihm das aus, auf dem Schulhof, damit es jeder, der noch zwei ungebrochene  Beine hat, es sehen kann und dann kann er aber was erleben. Da kann er sich soviele Beine wie er will, brechen – meine aber nicht, das werd ich zu verhindern wissen.
A räuspert sich, reibt sich die Hände, sagt zu B:
A: Morgen wird er Dir das Deine brechen, pass bloss auf!
B: Wieso sollte er das tun?
A: Damit Du es für ihn nicht abholen kannst, Du Dusel! Ist doch logisch! Klack! So schnell kannst Du gar nicht gucken, so schnell wird das gehn. Und so wird er es mit allen Leuten machen. Einem nach dem andern wird er die Beine brechen, er muss ja alle ausschalten, also die Beine brechen, damit sie es für ihn nicht abholen können: seinen Eltern, Geschwistern, Cousinen und Cousins, seinen Freunden, den Nachbarn, usw. Tag für Tag und Nacht für Nacht wird er schliesslich alle Beine, die ihm unterkommen, eines nach dem andern: brechen.
A blickt triumphierend ins Publikum:
So einer ist das. Ein Bein-, Bahn, Zahn und Wahnbrecher, der sich und allen andern nacheinander Zähne, Köpfe, Beine, Waden und was noch alles bricht.  Somit sicher auch nicht nur ein Eisbrecher, sondern genauso ein Einbrecher, der in den Schnee einbricht. Ganz skrupellos. Von der Herzensbrecherei wissen die hier anwesenden Damen sicherlich ein Lied zu singen. Wir müssen es uns einfach einmal klarmachen: all diese Brecher, Eis-, Bein- und so weiter Brecher, sind grundsätzlich ja eben Gesetzesbrecher und die werden folgerichtig zu was?
A blickt in die Runde:
C aus dem Publikum: Verbrechern!
A: Sehr gut! Eine Eins!
C: Danke!
A: Ein-, Wort-, Ver- und Herzensbrecher sind als Brecher die zu Verbrechern Werdenden. Im Werden Begriffenen. Ich habe das schon lange begriffen. Ihre Anfänge sind für jeden klar einzusehen: zuerst beginnen sie mit einem Bein, einem Arm, Glasbecher und Scheiben jeder Art. Beliebt sind auch Blumentöpfe aus Ton, Keramik also, von Porzellan nicht zu reden---! Sie brechen ein, sie brechen um, sie brechen aus, ja, bis sie, wenn alles in ihrer Umgebung bereits zerbrochen ist, alles in Scherben um sie herumliegt – sich selbst erbrechen. Jeder, der sich erbricht, trägt diese teuflische Saat bereits in sich, speit sie aus. Natürlich. Ihm selbst soll ja nichts geschehen, er will ja nur seine Umgebung, seine Familie, das Gesellschafts-System zerbrechen.
B: Aber Max hat sich doch sein eigenes Bein gebrochen!
A: Das ist ja der Trick! Zum Einen nützt es ihm – er braucht so nicht Zeuge seines eigenen schlechten Zeugnisses zu werden, zum anderen aber – und das ist noch viel wichtiger und interessanter: er lenkt ab! Wird krank, kann nicht gehen, wirkt ge-brochen, erregt Mitleid, usw., sodass niemand auf die Idee kommt, er habe es auf die Beine der anderen abgesehen! Er geht so frei aus! Niemand würde daran denken, ihn wegen irgendwelcher Ver- oder Gebrechen, Steinbrüchen, Einbrüchen usw. zu verdächtigen, da er sich ja als Gebrochener verkleidet hat, WEIL er sich ja sein eigenes Bein gebrochen hat! Das ist der Trick! Versteht Ihr?
Publikum: Gemurmel.
C meldet sich: Ja, das stimmt. In der Bibel steht: Brich weder Dir selbst noch einem anderen etwas.
A: Nochmal eine Eins!
C: Danke.
A: Genau das ist es. Wenn einer sich selbst etwas bricht, dann bricht er selbstverständlich auch allen anderen etwas. Dann hat er keine Skrupel mehr, er hat es ja vorher an sich selbst ausprobiert. Weder sich selbst gegenüber noch anderen gegenüber!
B: Aber so kann man das doch nicht sagen…
A: Wie denn sonst?
B: Wenn einer einen Unfall hat oder, bitte schön, sich etwas bricht, dann heisst das doch nicht, dass er das auch mit allen anderen macht!
A: Du bist naiv. Unsere liebe Sprache sagt es uns ja deutlich: Einbrecher, Eisbrecher, Gesetzesbrecher, Verbrecher, Umbrecher, Aufbrecher, Ausbrecher, Erbrecher, Brotbrecher, und was es da sonst noch alles gibt, kommt vom BRECHEN. Sie brechen! Zerstören. Da ist Gewalt im Spiel. Gegen wen oder was ist zweitrangig, bzw. gegen jedweden Wen oder jedwedes Was.
B: Tages-Anbruch?
A: Ist Bruch! Bruch mit der Nacht, Bruch mit dem gesunden Schlaf, das heisst Leben, Bruch mit der Familie, den Essgewohnheiten, Bruch mit der Dunkelheit, was Du willst - es ist und bleibt ein ein Bruch! Und ein Bruch ist Gewalt.
B: Brechen kann doch auch etwas Gutes sein! Brotbrechen zum Beispiel.
A: Nein, eben nicht! Brot muss man schneiden – Brot brechen zeugt von schlechter Erziehung.
B: Ich glaube, Sie reden Unsinn.
A: Was? Bist Du etwa auch ein Brecher? Brichst hier meine logischen Ausführungen entzwei, meine ganze Argumentationskette…?
B: Ist doch keine, ist doch absurd, weiches konfuses Geschwätz, was man gar nicht brechen kann, höchstens verbiegen.
A: Ja, biegen und brechen und reden und reden und noch ein Wort und immer wieder noch ein Wort und nie hört das auf. Das könnt Ihr, Du und Max. Du bekommst Dein Zeugnis ja gleich. Da wirst Du sehen, was brechen heisst. Du fliegst von der Schule wegen Verbiegung und Unterbrechung meines Vortrags! Aus! Alle Brecher werden auf Biegen und Brechen wie von selbst zusammenbrechen! Das ist Naturgesetz!
B bricht zusammen, erbricht sich.
A: Da! Da! Hab ichs nicht gesagt? Wie von selbst!

 Gundi Feyrer



Mittwoch, 19. August 2015

Deutsche Post verhindert den Freizeit-Schamanen

Abbildung aus: Thomas Glatz, Tischlektüre

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe folgende Reklamation vorzubringen:

Mitte Juli wurde mir von einem Verleger aus Irland ein Paket mit wichtigen Unterlagen gesendet. Dieses Paket war sehr lange unterwegs und ich wurde nicht benachrichtigt; d.h. auch nach einer Anfrage und Reklamation nicht. Zufällig lagerte es in meiner Poststelle.
Da man mich dort seit Jahren kennt, gab man mir es auch ohne Paketschein mit.

Den Inhalt des Pakets aus Irland (Impressum-Blätter für ein Künstlerbuch) signierte ich und versuchte es wieder zurückschicken, denn der Verleger brauchte diese Blätter für die abschliessende Verarbeitung des Buchs. Am 1. August brachte ich das Paket zur Filiale. Sendungsnummer war 713xxxxxxx. Am 11. August kam die Sendung aus nicht angegebenen Gründen zurück. Vermerk laut Tracking ist: Die Sendung wurde erfolgreich zugestellt – an den Absender, was ein Witz ist. Ich gehe davon aus, dass die DHL schon unterscheiden kann, das bei einem Paketschein rechts die Anschrift und links der Absender steht. Anschrift ist und war: Francis van Maele, DUGORT – ACHILL, COUNTY MAYO, IRELAND. Ja, ohne Postleitzahl. Der Verleger bekommt jede Woche zig Pakete aus aller Welt; nur offensichtlich von der DHL nicht. 

Da der DHL-Bote auch nicht wusste, warum das Paket zurück geschickt wurde und mir auch keine Empfehlung geben konnte, was da jetzt zu machen ist, blieb mir nichts anderes übrig als das Paket noch einmal auf den Weg zu bringen. Natürlich musste ich es neu frankieren. Trackingnummer ist jetzt 7131xxxxxxx. Der Sendungsverlauf ist dermassen albern: zweimal Rüdersdorf (Paketverteilungsstelle). Danach der Versuch, das Paket an mich zurück zu senden – mit dem Vermerk „Der Empfänger ist unbekannt“. Ja, stimmt. Berlin ist nicht Irland. Im Moment wird wohl nachgeforscht.

Die netten Mitarbeiter in meiner Postfiliale, die ich seit Jahren kenne und im Gegensatz zu den unterbezahlten Paketfahrern ihrer Tochterfirmen noch ansprechbar und bekannt sind, meinten tatsächlich: „Es ist hier einfach nur noch zum Kotzen. Keiner weiß mehr, was der andere tut. Nachbarn mutieren zu ehrenamtlichen Mitarbeitern der DHL, da sie in ihren Ladengeschäften und Wohnungen Sendungen deponieren für die es keine Zuständigkeiten gibt. 

Mich erinnert das ein wenig an den regen Kunstaustausch Ende der 1980er Jahre mit den Transfuturisten Serge Segay und Rea Nikonova aus der südrussischen Provinz. Die schrieben mir am Anfang unserer Korrespondenz im gebrochenen Deutsch: „Bitte nur per Einschreiben schicken. Russische Post ist ein Schwein.“ Aber unsere Sendungen kamen immer an. 

Was sich vielleicht amüsant anhört, ist es nicht.

Der Verleger wartet seit einigen Wochen auf diese Blätter und bekommt sie nicht.


Ausserdem habe ich zweimal 16,99 € für den Versand bezahlt.

Mit freundlichen Grüßen

Donnerstag, 13. August 2015

die daseinsfreude des thomas mann muss ein ende finden

Thomas Mann´s Vater
Thomas Johann Heinrich Mann

es ist sehr heiss am ammersee. seit wochen schon kein tropfen aus den wolken. der grundwasserspiegel sinkt, der see zieht sich zurück, die kanadische goldrute ist in voller blüte (normalerweise erst vier wochen später), das laub an manchen bäumen verfärbt sich schon, die dürre wird bedrohlich.

zufällig stosse ich bei der arbeit in meinen expressionismus-ordnern auf einen brief des leider immer noch gefragten deutschen vielschreibers thomas mann an den späteren präsidenten der reichsschrifttumskammer & ss-brigadeführer hanns johst vom 16. september 1920. darin habe ich mir schon vor jahrzehnten folgenden satz angestrichen:
  
Ich liebe Sie sehr, Herr Hanns Johst und freue mich Ihres Daseins. Sie stellen Jugend dar, Kühnheit, Radikalismus, stärkste Gegenwart, - ohne irgend etwas mit jener gallo-jüdisch-internationalistischen „Geistigkeit“ zu schaffen zu haben, von der das deutsche Geistesleben sich eine Weile tyrannisieren lassen zu müssen glaubte.

dass er das wort „Geistigkeit“ ist anführungszeichen setzt, belegt den  hier offen zutage kommenden antisemitismus des thomas mann. seine ….. „geistige“ unterstützung des nationalsozialismus zeigt sich auch darin, dass er im exil schreibt, er könne öffentlich keine kritik an  den nazis üben, da er rücksicht auf seine leser im deutschen reich nehmen müsse. im pariser tageblatt faselt er von ‚der härte der nationalsozialistischen rassephilosophie‘! was für ein autor ist das überhaupt, der den grössten massenmord der neueren geschichte mit einer philosophie(!) der erhabenen härte apostophiert!

es ist wohl an der zeit, diesen spiessbürgerlich deutschtümmelnden schreiber den klauen der thomas-mann-afficionada zu entreissen & einer genaueren prüfung zu unterziehen, wie dies in letzter zeit (endlich! endlich!) auch mit martin heidegger geschehen ist.

hartmut geerken

Thomas Mann – Deutsche Hörer! 

Aus dem Ordner Ablage (Diskussion "Digitale Poesie", 13.02.2004)


Während ich den einzig wirklich amüsanten Redner dieser Diskussion filmte, der von Nerds, dem Chaos Computer Club, der Divergenz zwischen Dicht- und Programmierkunst filmte, sagte L. dauernd: "Machst du mir eine Kopie, machst du mir eine Kopie; ich schreibe eine Geschichte, ich schreibe eine Geschichte." Am Ende verstand ich kaum etwas - weder mit Simultanübersetzung noch ohne. Es wurde über Hypertexte, Schriften, Poesie-Programmierungen, Semantik, Semiotik, Modalitäten und Modelle gesprochen - aber der Sinn wurde kaum erfasst. Sprach mit André Vallias, der sehr sanft und freundlich war und meinte, die Künstler fügen sich in ihre Institution ein und stecken ihr Territorium ab wie pissende Hunde. Ging dann mit R. und L. ins Restaurant. L. bestellte dasselbe wie ich: Bratwurst mit Kartoffelsalat, Tomaten und Gurken. L. ließ die Gurken auf dem Teller liegen und sprach von Wolfdietrich Schnurre und dem "Tractatus logicus philosophicus" von Wittgenstein. R. murmelte etwas durch seine neue Wäsche: neue Hose, neuer Pullover, neue Schuhe, neue Socken, neue Jacke - von den Nerds bei der ersten grossen Netzwerkeinrichtung im Jahre 1994. Was ist ein Nerd? Ein Nerd ist ein asozialer und hässlicher Technoid, der sich in der Öffentlichkeit tapsig bewegt und den die Frauen hassen. Ein Geek hingegen ist der eloquente Vermittler, der sein Computerwissen vermitteln kann und bei Frauen gut ankommt. Während wir aßen und redeten, sahen wir einen kleinen grauen Mann. Das war Heinz Gappmayr, der aber nicht zur Diskussion kam, sondern sich eine Ausstellung ansah. Beim Abschied fragte mich L., ob wir Herrn Gappmayr begrüssen sollten. Ich ging zu ihm hin, gab ihm die Hand, stellte L. und mich vor. Herr Gappmayr sprach von seiner Ausstellung im Mies van der Rohe Haus in Höhenschönhausen. Und L. sprach von V. Seine Begleiterin flüsterte ihm etwas ins Ohr und wir verabschiedeten uns. 

Freitag, 31. Juli 2015

Die Hauptstraße von Koserow

Die Gemeinde Koserow auf der Insel Usedom
hat ein Logo

Die Hauptstraße von Koserow ist im Sommer ein Ort des Schreckens. Hier in der Mitte der Insel trifft sich alles, was nach Zinnowitz und Peenemünde will oder aber zu den sogenannten Kaiserbädern. Horden von Fahrradfahrern in bunten Regencapes und martialischen Helmen, Bollerwagen mit Kinderladungen; die Haare blau gefärbt. PKWs und Inselbusse, Motorräder und Feriengäste in Dreiviertelhosen. Wie werden spätere Generationen diese Straßenszenerie einmal beurteilen? Das Phänomen der Dreiviertelhosen und Badelatschen, in denen adipöse Mittdreissiger bis Mitfünfziger stecken. Die meisten Frauen an den Knöcheln mit phantasielosen Motiven tätowiert: Delphine und Rosenstöcke, ein schüchterner Stern. 150-Kilogramm-Männer mit dem T-Shirt-Aufdruck „Doppelaxel“. Ein Paar Mensch, das zusammen vielleicht 400 kg auf die Waage bringt. Er, 1 Meter 95 groß, mit immensen Ohrlöchern und weissen Plastikinnenringen, die die Hörorgane fast waagerecht abstehen lassen. Sie etwa halb so groß wie er mit pechschwarz gefärbten Haaren und natürlich knöcheltätowiert mit einer schwarzen Rose. Tellerlippenfrauen mit Totenkopf-Glitzer-T-Shirts sind noch nicht da. Krampfader-Tribals auch nicht. Vielleicht im nächsten Jahr. 50jährige Frauen mit Undercut-Frisuren, eine Hälfte rasiert mit Färbespuren, die andere normal. Ansonsten Sebstbedienungs-Bäckereien, Lotto-Läden, das N-Hotel, Best Western Hanse Kogge, Tapas-Restaurants, Ferienwohnungen mit Metallzäunen und Reetdach. Und manche der Sitzenden und Verzehrenden in den Cafés, Schlachtereien-Imbissen und Restaurants haben etwas Glotzendes. Sie schauen nicht, sie glotzen in provozierender Stumpfsinnigkeit. Falle ich etwa auf, weil ich keine Dreiviertelhose trage und nicht an den Knöcheln tätowiert bin?



Donnerstag, 16. Juli 2015

Wir gründen eine Sekte


J.M. rief um 1 Uhr 17 an. Ich fragte ihn, ob er um diese Zeit eine Vision gehabt hat, als ich ihn später am Abend telefonisch erreiche. Er: Ich dachte, du bist der Nachtrabe von früher, was ich weder dementieren noch bestätigen wollte. Eigentlich wäre es doch an der Zeit, mit ihm eine Sekte zu gründen. Wenn die Kunst zu eng wird, wird man Sektenführer. Allerdings weiß ich noch nicht, welches Programm die Sekte haben soll und wer einfach nur Kassenwart oder die Reinheit der Lehre verkörpert, also der höchste Meister ist. Ich glaube, ich sollte J. den Weg dafür frei machen und lieber im Hintergrund arbeiten. Vielleicht als Schriftführer. Wie lautet der Name unserer Sekte? Gesellschaft zur ekstatischen Entwicklung des Menschen? Klingt gar nicht schlecht, aber zu sehr nach Gurdjieff. Auf jedem Fall sollten wir die Emblematik fernöstlicher Philosophien wie Buddhismus, Hinduismus und Tantrismus meiden. Wir haben das alles gelesen und könnten es unseren Jüngern vermitteln, in die Programmatik einstreuen, synonyme Begriffe dafür verwenden, die Scharade der Heilserwartungen in Bewegung setzen. Magie, Tantrismus, Nagualismus, Schamanismus – all das ist ein anwendbarer Teil von uns, aber nicht unser Programm, unser Etikett. Und oft ist ja bei einer Sekte das Etikett wichtiger als der Inhalt. Natürlich brauchen wir Aufmerksamkeit, ein spektakuläres Heilsversprechen. Unsterblichkeit könnte das sein. Nicht im metaphorischen sondern im tatsächlichen materiellen Sinn. Wir behaupten, dass niemand in seinem Körper zu sterben braucht, der es nicht will. Der Körper ohne Organe Artauds als Geschäftsmodell, das Theater der Grausamkeit als Bewegungstherapie. Ansonsten sollte unsere Gesellschaft etwas mit Hirnforschung und Cyberspace zu tun haben, mit John C. Lilly und den Programmen des menschlichen Biocomputers, mit Wolf Singer, C.G. Jung und William James. Natürlich auch Friedlaender, Rimbaud, William Blake, Castaneda – aber mehr „irgendwie“, auf der Trickster-Ebene. Eine Sekte als Parodie einer Sekte. Jahresgebühr: 100 € für alle freien Mitglieder.

Mittwoch, 8. Juli 2015

Fegefeuer der Gravitation

Hitler hört die VOYAGER GOLDEN RECORD

„Du sollst dir kein Bildnis machen!“, hat es einmal geheißen, aber das ist lange her. Das Bilderverbot, einst zum Schutz vor falschen Götzen ergangen, hat in der Postmoderne ausgedient. Keines der zehn Gebote, muss man wohl feststellen, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem derart eklatanten Misserfolg entwickelt wie das zweite. Jedenfalls überflutet uns der spätkapitalistische Lebensstil mit endlosen Bilderströmen, und da mutet die durchaus ansehnliche wissenschaftliche wie metaphorische Karriere von etwas prinzipiell Unsichtbaren schon erstaunlich an. Und doch hat sich eine bestimmte Klasse von ziemlich abstrakten astronomischen Objekten, deren präzise Bedeutung naturgemäß kaum ein Laie versteht, zu einem ziemlich lebendigen Teil dessen gemausert, was einmal Allgemeinbildung hieß und sich inzwischen in einen kunterbunten Fundus aus Junk-Wissen verwandelt hat, der beim Magazin-Lesen oder abendlichen TV-Zapping irgendwie hängengeblieben ist.

Die Rede ist von Schwarzen Löchern, jenen geheimnisvollen End- oder Angelpunkten der Fantasie und des Universums, deren theoretische Möglichkeit vor zweihundert Jahren erstmals von dem französischen Physiker Pierre Simon Laplace in Erwägung gezogen und zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts von dem deutschen Astronomen Karl Schwarzschild aus der einsteinschen Relativitätstheorie hergeleitet worden ist. Allerdings hat es danach noch sechs Jahrzehnte gedauert, bis 1971 der Röntgensatellit UHURU im Sternbild des Schwans ein Objekt aufgespürt hat, dessen eigenartiges Verhalten sich als indirekter Beweis für die Anwesenheit eines Schwarzen Lochs interpretieren ließ. Und genau vor zwanzig Jahren, am 9.1.1983, gaben die Amerikaner Anne Cowley und David Crampton die (freilich ebenso indirekte) Entdeckung des ersten extragalaktischen Schwarzen Lochs in der Großen Magellanschen Wolke bekannt, das seither den charmanten Namen LMC X-3 trägt.

Schwarze Löcher sind unsichtbar, aber sie sind nicht wirkungslos – im Gegenteil: Sie dominieren und verschlingen alles in ihrer Nähe, und wahrscheinlich liegt es daran, dass sie unsere Fantasie so hartnäckig in Gang setzen. Sie sind das Gespenst in der Dunkelheit oder das verdrängte Trauma, der grundlose Luftzug oder die vermeintliche Kraft aus dem Jenseits. Und wenn die Zeiten es hergeben, dann entpuppen sie sich sogar als die gefräßigen Bewohner von Staatskassen oder als populärwissenschaftliche Verkaufsschlager. Selbst im Cyberspace ist – wie eine schnelle Google-Recherche ergibt – bereits ein Schwarzes Loch ausgemacht: der Irak.

Der metaphorische Clou bei Schwarzen Löchern ist aber vielleicht weniger ihre ewige Dunkelheit, sondern vielmehr ihre naturgesetzlich garantierte Unerforschbarkeit. Darin liegt übrigens ein durchaus ernsthaftes und vieldiskutiertes theoretisches Problem: Wenn nämlich Information in Form von Licht oder Materie in ein Schwarzes Loch hineinzufallen vermag, aber prinzipiell keine Nachricht aus diesem herauszubekommen ist, dann stört diese Asymmetrie von Geben und Nehmen nicht nur das theorieästhetische Empfinden von weltbekannten Kosmologen wie Stephen Hawking, sondern auch die Gültigkeit bestimmter fundamentaler Sätze der Thermodynamik. Der einzige Ausweg aus dieser Zwickmühle besteht denn auch in der Annahme, dass überhaupt keine Information in Schwarze Löcher zu fallen vermag, sondern alles Ankommende auf deren Oberfläche abgespeichert wird, um gegebenenfalls (beim sogenannten Verdampfen der Löcher) wieder freigesetzt zu werden. 

Dies mag irgendwie verstiegen und unwahrscheinlich klingen, doch man überlege sich die Konsequenzen für unsere nicht nur von Bildern, sondern mit Unmengen von Informationen überschwemmte Zivilisation. Was, wenn am Ende der Zeiten – wie es die Theorie vom entropischen Tod des Universums voraussagt – alle Schwarzen Löcher verdampften und die von uns produzierte und auf deren Oberflächen gefangene Information, sämtliche Sportnachrichten, die „Lindenstraße“ und noch der flaueste Comedywitz, wieder freigesetzt würde, um erneut das Universum und unsere darin herumtreibenden Seelen zu überschwemmen? So unwahrscheinlich ist das vielleicht gar nicht, denn zumindest unter dem Gesichtspunkt, dass Schwarze Löcher ebenso sehr Metaphern wie astronomische Objekte sind, dürfte es eine präzisere Charakterisierung dessen, was uns einst als Fegefeuer für unsere Sünden angedroht worden ist, kaum geben.

Ulrich Woelk

(2003)

Eine neue Künstleredition von Ulrich Woelk (soeben erscheinen):

Das letzte Buch von Ulrich Woelk


Donnerstag, 2. Juli 2015

Lukas Lindenmaier / Die Pilzfreunde

CD: Von Röhren und Lamellen


In memorian Lukas Lindenmaier (1946 – 2014)

Lindenmaier war als Schlagzeuger zunächst Autodidakt, absolvierte jedoch Workshops bei Jörn Schipper, Doug Hammond und Max Roach. Seit 1983 arbeitete er mit dem „Workshop Orchestra“ von John Tchicai, mit Muneer Abdul Fataah und vor allem mit Harald Kimmig und Uwe Martin bzw. Georg Wolf als „Kxutrio“, das auch mit Gästen wie Maggie Nicols oder Irène Schweizer auftrat. Er war 1986 Stipendiat der Kunststiftung Baden-Württemberg. 1987 gründete er mit Kimmig das F-Orkestra, das auch mit Buddy Collette und mit Peter Kowald als Gastsolisten wirkte. In Formationen um Cecil Taylor trat er ab 1988 in Berlin und auf der documenta IX auf. Lindenmaier war Gründungsmitglied des „Freiburger Forums für improvisierte Musik“, komponierte und spielte Bühnenmusiken für das Freiburger Theater. 1994 trat er mit Tomasz Stańkos Rhythm Brass Four und mit Hartmut Geerken auf, am 21. März 2000 im Südwestrundfunk Freiburg „Von Röhren und Lamellen. Eine mykologisch-literarisch-musikalische Exkursion. Live-Elektronik & Performance“ (Rundfunkkonzert) mit Hartmut Geerken, Christine Engel und Frank Rühl (Die Pilzfreunde), 2001 mit dem Flötisten Nils Gerold beim „Festival Improvisationen“ in Bremen. Mit seiner Sunday Afternoon Jazz Society spielte er 2006 auf dem Gipfel du Jazz. Ab 2007 spielte er Schlagzeug bei der Freiburger Jazzgruppe La Mouche Qui Pète.

(Quelle Wikipedia: Leben und Wirken)

Komplexe Prozesse und Klangvernetzungen im Raum-Zeit-Kontinuum führten Die Pilzfreunde zusammen. Dank der günstigen Substratkomposition entwickelte das Trio schon in der frühen Saison ein außergewöhnliches velum universale, aus dem sonore Röhrlinge, pulsierende Lamellenklänge und morchelförmige Tonstrukturen hervorbrechen. Im Spannungsfeld mehrdimensionaler Myzelstrukturen und elektrifizierten Sporenflugs wachsen universell-melanospore Tuberalklänge mit dem fanalen Zentrum Pérlgard, Aosta und Sausalta. Immer wiederkehrende Formfolgen aufgrund fanaler Sklerotia und/oder rhythmischer Antibiosen faszinieren auch ein von amanitischen Chaos verunsichertes Publikum. Die Pilzfreunde lassen unter besonders günstigen Bedingungen jedenfalls unkontrollierte Hexenringe wachsen. Die Warnung des amtlichen Pilzberaters bewahrt Sie nicht vor möglichen Infektionen.

(Aus einer Selbstdarstellung der Pilzfreunde)

Soeben erschienen:


Die Pilzfreunde & Hartmut Geerken Von Röhren und Lamellen
Musik: Christine Engel, Frank Rühl, Lukas Lindenmaier und als Gast Hartmut Geerken. 
Audio-CD in der Reihe Elektronikengel. Limitierte Auflage.

Order:

Donnerstag, 25. Juni 2015

Deutsche Bahn-Stereotypen Richtung Pforzheim


Heute streiken die Lokführer nicht. Ich nehme den ICE 595 am 18. Mai 2015. Der fährt vom Berliner Hauptbahnhof auf Gleis 13 planmäßig um 7 Uhr 34. Ich habe online gebucht, Bahn Card 25, Sparpreis – Berlin Pforzheim und Pforzheim – Berlin zum Preis von 178,75 € inklusive 29,54 € Mehrwertsteuer und 1,75 € Zahlungsmittelentgelt. Die Fahrkarte gilt nur für eingetragene Züge. Butter gibt es nicht mehr in den Speisewagen und an den Bahnhöfen. Der Belag der Sandwiches heisst Remoulade und so mutieren alle Speisewagen, Bistros, Bäckereien und Bord-Cafés zu Remoulade-Stationen. Das beste ist, man nimmt Brötchen, Brote und Brezel ohne Belag. 
Der Zug fährt pünktlich ab und verlässt die engen Gleise des Berliner Hauptbahnhofs mit ihren transparenten Schutzvorrichtungen, die den Blick bis in die untersten Tiefgeschosse dieses Hartmut-Mehdorn-Monstrums freigeben. Therapeuten können diesen Ort mit ihren Klaustrophobie-Klienten besuchen, um sie von ihrem psychischen Handicaps zu befreien. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen das vermutlich, obwohl die Suizid-Rate am Berliner Hauptbahnhof nicht signifikant angestiegen ist. Seit dem Unglück von Eschede mit 101 Toten, den ich bereits gebucht hatte, um anschliessend die Reise zu stornieren, heisst kein ICE mehr Wilhelm Conrad Röntgen. 
Im Großraumwagen finde ich gleich einen Platz, beginne mit den Zeichnungen der Deutschen Bahn-Stereotypen. Gegenüber unterhalten sich Vertreter über Adobe-Software, die sie aber nicht vertreiben. Und einer glotzt immer auf sein Smartphone-Display. Samsung 5,5 Zoll. Bartträger, vermutlich intim rasiert. Ich werde fortgejagt von einer Platzkarteninhaberin. Sie entschuldigt sich, tut ihr leid, der Stereotyp der Bahnleserin, skandinavische Literatur, 20. Jahrhundert. Es gibt die Bildschirm- und die Büchergucker. Und vereinzelt auch die Fenster-Glotzer. Und manche haben auch die Augen geschlossen, öffnen sie von Zeit zu Zeit schläfrig, um auf irgendwelche Profilbildchen in den sozialen Netzwerken zu schauen. Facebook, XING, You Tube, Linkedin…Der ICE als örtliche Narkose unter Diazepam und Propofol – wie vor der Darmspiegelung. Alle Platzanzeigen sind falsch. Menschen, die erst ab Braunschweig hinzusteigen sollten, sind jetzt schon da. Ich suche einen neuen Platz, zeichne weiter. Dann fragt mich ein Mädchen, ob neben mir noch ein Platz frei sein würde. Wenn es sein muss, ja. Kurz darauf ein Bartträger, dessen Platz ich belege. Ich habe genug, nehme das Blatt mit der halben Zeichnung und betrete ein geschlossenes Abteil. Ist hier noch frei? Keine eindeutige Antwort, nur müde Blicke. Einer tippt, der andere schläft. Nein, er schläft doch nicht sondern hört ein Hörbuch. Ich nehme vereinzelte Sätze wahr wie „Mit seinem Cabrio fand er genau die Parklücke, die sie für ihn vorgesehen hatte.“ Ist das ein sublimierter Porno für Psychologiestudenten? Dann höre ich nur noch die Tastenanschläge. Autisten bei der Arbeit. Niemand zeichnet oder schreibt mit der Hand. Der Hörbuch-Hörer grinst manchmal unverbindlich vor sich hin. Ich habe kein Netz. Auf der Rückseite der Zeichnungen notiere ich Uhrzeit, Ort und Datum. Da ich keine richtige Verbindung zum Satelliten habe, baut sich die Landkarte auf dem Bildschirm nur langsam auf. Zum anderen kann ich sie schlecht erkennen und so rate ich ungefähr meine Position nach dem Ende einer Zeichnung. Ich notiere Orte, von denen ich noch nie etwas gehört habe: „In der Nähe der Wüster Siedlung, 8:16 Uhr“ oder „Ein Stück von Weteritz entfernt, 8 Uhr 34“. Das Hohenstetter Holz muss bei Braunschweig liegen. Manche Orte bleiben auch unbestimmt – blinde Flecken in der Landschaft, kartografische Verstümmelungen. Die Zeichnungen entstehen in den Streckenabschnitten zwischen den großen Bahnhöfen. Wie viele Platzkartenbesitzerinnen lesen die Prominentengeschichten im Deutschen-Bahn-Magazin „Mobil“? 11 Prozent? In diesem Abteil ist keine. Der Tasten-Autist verlässt den ICE in Hildesheim. Manchmal  mache ich die Augen zu, aber das ist verschwendete Zeit. Ich will fertig werden mit dieser Serie. Pro Zeichnung 25 oder 35 Minuten, pro Buch 16 Seiten. Ich muss mich beeilen. Die Fahrt nach Pforzheim dauert weniger als 8 Stunden. Eine Frau in einem blauen Business-Hemd, entweder Diakonin oder Pädagogin ersetzt den Laptopanschläger, liest Victor Hugo im Original und verlässt das Abteil wieder in Fulda. Zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Fulda rauche ich eine „Salem“ auf der Bahntoilette. Die Zigarrettenmarken „Salem“ und „Eckstein“ gibt es schon seit Jahrzehnten, aber ab Juni 2015 existieren sie nicht mehr und werden dann „Reval“. Das heimliche Rauchen kenne ich noch aus der Schulzeit, wo wir uns in den Büschen am Sportplatz der Realschule versteckten oder hinter dem Edeka-Markt – immer wachsam, dass uns die Lehrer nicht entdeckten. Nun hat mich diese Zeit im reifen Alter auf der Bahntoilette wieder eingeholt. Danach gehe ich ein paar Schritte zwischen den Abteilen, stehe auf einem Bein, schüttele meine Arme. Dies wird bald zum allgemeinen Erscheinungsbild der Reisenden gehören, wenn sich die Apple Watch demnächst bei den Konsumenten durchgesetzt hat und sie jede Stunde an den Slogan erinnert „Sitzen ist der neue Krebs“. Die sogenannte Smartwatch löst dann am Handgelenk einen Vibrationsalarm aus und ihre Trägerinnen und Träger machen dann leichte Dehn-Übungen im Abteil oder joggen kurz durch den ganzen Zug bis zum Panoramawagen. 
Der Anteil der Bartträger hat sich im Verhältnis zu den Glattrasierten erhöht, wobei die Hipster- und Salafisten-Bartträger Brust- , Achsel- und Intimhaar rasieren während die Glattrasierten körperbehaart bleiben. Der Trend hat auch schon die Silverrücken mit ihren schwarzen Nerdbrillen und grauen Rollkragenpullovern erfasst; gleichgültig, ob sie FAZ, Süddeutsche oder Lettre lesen. 
Mein Hörbuch-Schläfer bekommt einen Anruf. „Guten Tag, Herr Berger…Ja…Ja…Ja…Hm…Ja, gut…Ich schaue es mir an, wenn ich im Büro bin…Schönen Tag noch und vielen Dank für die Info…“ Beschissene, stereotype Freundlichkeit. Wie in Godards Aphaville: Wie geht es Ihnen? – Ausgezeichnet, Danke/Bitte. Ohne sich zu verabschieden, steigt der in Frankfurt/Main aus und wird von einem Haudegen mit langem Nasenhaar und Analoguhr ersetzt. Der fährt mit mir bis Mannheim und macht tatsächlich nichts. Schaut nicht auf irgendeinen Bildschirm, liest auch in keinem Buch, kaut nicht, schluckt nicht und glotzt auch nicht aus dem Fenster. Sehr angenehm.
Mannheim ab 12 Uhr 36, Karlsruhe an 12 Uhr 58. Weiter soll es in Karlsruhe ab 13 Uhr 6 bis zu meinem Reiseziel gehen. Aber der Zug fährt nicht, fällt aus. Gegenüber steht ein anderer mit Reiseziel Pforzheim ab 13 Uhr 21. Der fällt auch aus. Ich höre „Reisende nach Pforzheim steigen bitte in den ICE nach Hamburg auf Gleis 10 um 13 Uhr 10“. Ich frage eine Zugbegleiterin auf Gleis 10. „Pforzheim? Davon weiß ich nichts. Darüber haben wir keine Info“. Der Zug fährt ohne mich ab – über Bruchsal und Heidelberg. Man sagt mir beim überfüllten Service-Point der Deutschen Bahn, dass ich auf Gleis 8 den Zug nach Karlsruhe-Durchach nehmen soll, um von dort mit der S-Bahn nach Pforzheim zu fahren, aber auf Gleis 8 fährt kein Zug nach Durlach. Die S-Bahnen zur S-Bahn fahren auf Gleis 4. In Durlach wissen sie nicht, wann die S-Bahnen nach Pforzheim fahren. Vermutlich unregelmässig. Mal kommt eine nach 5 Minuten, mal nach einer Stunde. Aber sie fahren auf Gleis 11. Ich habe Glück. Meine fährt bereits schon in 6 Minuten, aber die hält dann auch auf jedem Bahnhof alle 1 bis 2 Kilometer und manchmal bis zu 10 Minuten. Neben mir sitzt eine Dame aus Pforzheim mit einer Halbtagsstelle in Karlsruhe. Letzte Woche war sie auf dieser Strecke etwa fünf Stunden unterwegs, musste mit anderen S-Bahn-Reisenden auf einem dieser namenlosen Bahnhöfe ohne Café, Sitzgelegenheit und Ansprechpartner drei Stunden lang warten.
Niemand konnte darüber Auskunft geben, wann die Reise weitergeht. Normal dauert die von Karlsruhe 25 Minuten.
Ich habe Glück. Nach einer Stunde komme ich in Pforzheim an, setze mich in ein Café und sehe einen gehbehinderten Mann mit seiner Krücke über eine Stufe stolpern und vor mir zu Boden stürzen. Ich helfe ihm auf. „Haben Sie sich verletzt?“ – „Nein, geht schon.“

(H.A.)

Donnerstag, 11. Juni 2015

VERLOREN – GEFUNDEN, FOLGE VI – JOSHUAS GARAGE


Es ist vernünftiger, nichts Neues zu beginnen. Mit dem Alten weitermachen, bis mir nichts mehr einfällt. Ich bin schon angekommen: mir fällt nichts mehr ein.  Diese Zeilen habe ich 1985 dem grossen Dramatiker Samuel Beckett geschickt. Dem Brief fügte ich die Notiz bei: "Ich habe immer studentisch gelebt, ohne studiert zu haben." Beckett antwortete mir damals: "Sie müssen dort weitermachen, wo ihnen nichts mehr einfällt." An diesem Punkt bin ich jetzt.  Lästiger Besuch von einem Typen, der mir seine Gedichte vortragen wollte. Um 9 Uhr 30. Erst sollte ich sie mir anhören, dann in den icv einscannen, um das ganze im Copycat zu klonen. Der Typ bot mir kein Honorar an. Er brachte Himbeertee mit Ananasgeschmack. Ich bin kein unhöflicher Mensch: also trank ich den Tee. Dabei erinnerte ich mich an das ganze Elend der Bewohner von Holzminden, die in der Nähe der Geruchsstofffabrik DRAGACO leben. 

Ich selbst habe ein solches Elend nie kennengelernt. Kleingarten in der Nähe von vollsynthetischen Düften mit Blutwurst und Jasmin, unbezahlte Hypotheken und vor allem - keine Haustiere. Die Tiere hatten als erste die Umgebung verlassen und die Menschen mähten ihre toten Rollrasen und harkten pedantisch ihre ertragslosen Gemüsebeete. In der Dämmerung flimmerten hinter den gardinenbehangenen Fenstern die Schwarzweiss-Fernseher der arbeitslosen Immobilienbesitzer, welche ihre Breitbandkabel illegal gelegt hatten. 

Nein, meine Garage war immer geräumig und sehr modern eingerichtet. Natürlich: hier ist die Wiege der modernen Kommunikationsmittel: Interceiver, CC, Copycat und Quark-Net - an all diesen Erfindungen war ich beteiligt. Das Wort "Kommunikationsmittel" ist mir dabei beinahe zu kalt, zu unmenschlich. Die Technik ist etwas zutiefst Irrationales und Emotionales. Ich durfte dazu beitragen, sie zu vermenschlichen. Der Interceiver hat etwas warmherziges und seelenvolles. Die "Nostradamus"-Serie schon nicht mehr so stark, wie die ersten Modelle, an deren Marktpräsenz ich beteiligt war. Mit dem Interceiver Paracelsius 7.7 verbinde ich die schönsten Erinnerungen: den Glauben an eine vollkommen harmonisch gestaltete Welt, bevölkert von gnadenlos gut aussehenden und gesunden Bewohnern. 

Eine Welt ohne Krankheit, ohne Negativismen und Nihilismen. Und jetzt dieser Typ mit seinem Himbeertee. Sagt: "Ich hab schon viel von Ihnen gehört. Können Sie mir helfen." Ich konnte. Die Konsequenzen waren verheerend. 99 haikuähnliche Gedichte als eine Hommage an den Lambrusco-Landwein der 1970er Jahre, eingescannt in den icv und als anonyme Quark-Mail im Copycat dreimillionenfünfhunderttausendundsechshundertneunundneunzigfach verbreitet. Das musste vorher seinen Preis haben. Ich ließ den Typen ein Formular unterschreiben, indem er sich verpflichtete, 15 Ampullen seines Blutes kostenlos bei mir abzugeben. Ich werde diese Proben später für gutes Geld an den AMINO-MASTER weiterleiten. Zugegeben, der Name dieser AG wirkt unbeholfen und ungeschmeidig, aber sie haben sich einen Namen mit der Produktion von Gensequenzern gemacht. Aber was will man mit den Genen dieses Typen?. Gemüseladenbesitzer klonen, die Kiwis mit Bananengeschmack verkaufen? 

Gegen 10 Uhr kam Matthias Grupe in die Garage. Ein immer wieder gern gesehener Gast, den ich schon damals im Anglizistikseminar in der Weender Landstraat schätzen gelernt habe. Wir waren damals die einzigen Deutschen, die sich an der Universität Groningen immatrukuliert haben. Eigentlich besuchte ich die Seminare nur wegen Matthias. Schon damals interessierte er sich brennend für die amerikanischen Sezessionskriege und den Calhoun-Clan und war ein glühender Verehrer des Historikers und Schriftstellers Dean Vandyke. Er verfolgte die Geschichte der MOVELIANS, einer Glaubensgemeinschaft, deren Mitglieder schon damals eine Strategie der unbegrenzten Geldvermehrung und des wirtschaftlichen Aufschwungs mit tiefenpsychologischen Erkenntnissen und
magisch-rituellen Praktiken verbanden. Die MOVELIANS liessen ihn nicht mehr los; manchmal glaubte ich, er konnte nur eine direkte Inkarnation des ersten MOHWEL sein, ohne davon zu wissen. Die MOHWELIANER würden ihn wiederfinden, wie die tibetischen Buddhisten ihren DALAI LAMA.

Matthias trat ein, den icv locker wie einen Hermelin um seine Schultern geworfen und sagte: "Hi Joshua, hast du noch den Code für Jean Vandykes Buch." - "Welches Buch meinst du? Die Geschichte der Blutopfer bei den Mohwelianern? oder "I BELIEVE! HISTORY OF THE MOVELIANS?". Matthias meinte letzteres: also den 16tausend seitigen Wälzer, unterteilt in 80 Bänden - das Standardwerk über diese Glaubensgemeinschaft. OK! Search! Van Dyke! MOVEL THE MOVELIAN! QUARK-NET HIGH-SPEED MEGA-INFORMATION. PRINT. CODE: LINSEL-DR-LICHTBILDER-30JÄHRIGER KRIEG. Wir mussten warten. 16.000 Seiten in 15 Minuten, immerhin.