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Samstag, 20. April 2013

MYNONA: Kaffee



Nun überlegte sich der goldbraune Messias nicht mehr lange, an wen er sich zu wenden habe, sondern ging stracks und fast so gut wie stehenden Fußes zu Frau Neugedachter, einer vieleckigen und mannigfach erfahrenen Perlendreherin, verstehen Sie? Über Promenaden läßt sich streiten; sie führen zu nichts, und nachher entsteht Zank. Es handelte sich offenbar um Kaffee, der bekanntlich mittlerweile sehr knapp geworden war. Elsie Neugedachter, blaues Perlengehänge (selbst gedreht!) am Ohr, zerkaute eine Mokkakaffeebohne unermüdlich zwischen ihren Mausezähnen, und der Messias – ach, ach, ach! – atmete lang (wie der Taucher in Schillers Ballade) und atmete tief den aromatischen Hauch ein, der kräftig von ihren Lippen strömte, während sie ihm erklärte: „Und wenn Sie tausendundeinmal der Messias und womöglich gar Exzellenz wären – schaun Sie mich an, lieber Mensch, für mich bleiben Sie ...“ „Na,“ unterbrach er sie sehnlich, kaffeedurstig, „na, was bleib’ ich denn?“ – „Ein Mann,“ schrie sie herzzerreißend auf, „ein Mann!“ Der Messias mochte ihr nicht gern unrecht geben; er war noch nicht lange Messias (erst auf dem letzten Kostümball hatten sie ihn dazu ernannt, weil er rote Wangen zeigte, trotzdem in seinen Augen das Mitgefühl mit der Hautevolee tränte, und seine Beine einen schmachtenden Gang nahmen).

Aus Frau Neugedachter (sie dreht ihre Perlen wirklich selbst; confer den Linsenschleifer Spinoza; auch jeder Hohenzoller lernt außer Mund- ein Handwerk) wurde der Messias nicht schlau. Daß er ein Mann war, stimmte; Beß Brenk behauptete sogar, er habe das mal geträumt. Aber was folgte daraus? Darüber dachte der Messias mit gefurchter Stirn (Sie wissen: so wie Eucken, wenn er über Montaigne redet, und zwar von oben herab) langsam nach – sie meint doch nicht etwa ...?

Und gerade das meinte sie. Aber man soll ihr auch nicht unrecht tun: ihr lag verzweifelt wenig an irgendwelchem intim leiblichen Zusammenhange mit dem goldbraunen männlichen Geschöpf. Sie hatte nur mal irgendwo, wahrscheinlich von Friedrich Wolfgang von Goethe-Schiller, dem bekannten deutschen Doppelmenschen vor dem Weimarer Theater-Reichstag, gehört, ein guter Mann werde durch ein Wort der Frauen weit geführt. Sie getraute sich, den unheimlichen Kaffeedurst des guten Jungen zu benutzen, um ihn noch weiterzuführen, die Schelmin. Sie hauchte ihm die würzigsten Duftwellen zu; da hing er an ihrem Munde, der die Form eines verrenkten Hufeisens, mit der Öffnung nach unten, hatte. Und sie schlenkerten beide ihrer Wohnung zu. – „Ich habe welchen (sie meinte Kaffee) aus dem aufgelösten Haushalt der alten Kaiserin, wissen Sie, wie braune, längliche Perlen, von direkt berauschendem Odeur.“ – Die Zunge klebte ihm am Gaumen, er hörte nicht mehr, er roch und schmeckte mit dem Gehör. Nun kennen Sie oder sollten Sie, seit Fließ besonders, den Zusammenhang zwischen Nase und Sexus kennen, ja, ja.

Die Witwe Neugedachter öffnete eine japanische Lackbüchse und schüttete sich aus ihr in die (zu chiromantischen Zwecken ganz besonders geeignete) perlmuttern irisierende Handfläche eine kleine Myriade Mokkabohnen; sie nahm noch eine in ihren schicken Mund und kaute und kaute, während sie keines ihrer schielenden Augen von ihm ließ. Der Messias warf sich ihr zu Füßen, verstehen Sie, wälzte sich, epileptisch beinahe, auf dem prächtig geknüpften echten Gebetteppich und bettelte winselnd um eine einzige Bohne. – Sie stieg zu ihm nieder, girlandierte ihn mit ihren seidenen Armen (von der Dicke eines mäßig großen Elephantenschenkels) und schmollte mit ihren, wie gesagt, reizend schiefen Lippen: „Unter keiner Bedingung als ...“

„Als ...?“ Er zitterte es lechzend hervor. Sie aber antwortete nicht, sondern ging stumm an das Geschäft des Kaffeemahlens; sie mahlte ihn in einer türkischen Kaffeemühle. Der Messias, dem die Grausame das schwarzbraune Mehl zur Nase führte, verkrampfte sich vor Trinkgelüst, und seine Zunge vollführte schlürfende Bewegungen: „Elsie, liebe Elsie! Sie bringen mich um! Nennen Sie rasch die einzige Bedingung.“ – Da hatte sie ihn – denn jetzt verstand er und hielt sie umschlungen. So weit also konnte ein Mann geführt werden, dachte sie (als sie zu denken kaum mehr fähig war) und wollte der Situation ein Ende mit zwei Kaffeeschälchen machen. Allein der Messias glaubte, die Perlendreherin ernst nehmen zu sollen, und ließ nicht eher nach, als bis das Unheil erfüllte war. Der Gebetteppich arg ramponiert. Natürlich trank man dann sowieso Kaffee – aber mit welchen Gefühlen!!!

Trotzdem ist auch das hier primum Kaffee, deinde sexus. Die sexuale Osphresiologie ändert daran nichts. Zum sogenannten Akte war es nur zufällig gekommen: Weder der Perlendreherin noch dem Messias lag sonderlich viel daran. Überhaupt (das ist das öffentliche Geheimnis) macht sich niemand was daraus. Es gibt aber allenthalben eine Art Kaffee, also ein stark gewürztes Interesse, das in seinen Konsequenzen, auch bei edlen Wesen, wenn sie ihrer selbst vergessen, zum amourösen Renkontre führen kann, d. h. also eigentlich in mechanische Tiefen, wo der weiseste Mensch sich in einen Reflexapparat verschandelt; und wo selbst echte Messiasse sich vor sich selber in acht nehmen sollen... 

(1921)

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