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Sonntag, 7. April 2013

Die wahre Aktentaschengeschichte


1 Nummer aus Bali

Am Abend des 16. März, einem Samstag, habe ich nach einer anstrengenden Rückreise aus Bali bei der Ankunft mit der S-Bahn in Herrsching gegen 21.20 Uhr meine Computertasche in der Gepäckablage über dem Sitz vergessen. Ich bemerkte den Verlust noch am Bahnhof und bin unverzüglich, nicht länger als drei Minuten nachdem ich die S-Bahn verlassen hatte, in die noch stehende S-Bahn zurückgerannt, doch die Computertasche war verschwunden. Zusammen mit meiner Frau und meiner Tochter, die uns von einer Indonesienreise abholte, suchte ich noch bis kurz vor der Abfahrt der S-Bahn die Abteile ergebnislos durch.
In der Tasche befanden sich alle persönlichen Papiere, der Hausschlüssel, Bargeld, ein indonesisches Handy, und vor allem eine Reihe Notizbücher mit meinen handschriftlichen Aufzeichnungen und etwa 400 Archivkopien des Philosophen Salomo Friedlaender usw. usf. Einen PC hatte ich nicht dabei.
Noch bis Mitternacht bei der Polizei in Herrsching Protokoll aufgenommen. Schlaflose Nacht. Am Sonntagmorgen als erstes die Bankkarten sperren lassen. Dann haben meine Frau und ich alle Mülleimer und Müllcontainer an den S-Bahnhöfen zwischen Herrsching und Wessling nach Spuren aus der Tasche durchsucht. Vielleicht konnte ich wenigstens meine unersetzlichen schriftlichen Aufzeichnungen aus Indonesien wiederfinden. In Wessling beobachtete uns, wie wir an den Mülleimern arbeiteten, eine ältere Dame, sie kam auf uns zu und sagte in mitfühlendem Ton: "Wenn Sie was suchen, gehen Sie doch zu Tengelmann, da finden Sie eher etwas zum Essen!" -  Alle Suche nach unseren Dingen war erfolglos. 
Da die Hausschlüssel auch in der Tasche waren, haben wir am Sonntagfrüh vorsichtshalber das Haustürschloss ausgetauscht. Man weiss ja nie. 
Am Montagfrüh sofort zur Gemeinde und neue Pässe und Personalausweise beantragt. Kurz nach Hause gefahren, um etwas zu holen, da klingelt das Telefon. Eine kaum verständliche dünne Stimme... aus Indonesien... aus Bali. Man konnte grade noch verstehen, dass wir eine Fundsache am Bahnhof in Herrsching abholen sollen!? -  Wir verstehen nichts mehr! Aber nichts wie zum Bahnhof! Der Fahrdienstleiter übergibt uns stolz meine Computertasche mit vollständigem Inhalt. Nichts fehlt! Ein älterer Herr habe die Tasche vor kurzem abgeliefert. Name und Telefonnummer des Finders, die er nur auf Verlangen nannte, stehen auf einem kleinen Zettel. Die Bahnangestellten in Herrsching haben die Tasche geöffnet, um den Besitzer zu identifizieren. Sie fanden auch tatsächlich meine Telefonnummer, aber es war dort dauernd belegt (ich war eine halbe Stunde lang zum Kartensperren in der Warteschleife der Postbank!). Aber mein indonesisches Handy war auch in der Tasche, darauf war nur eine einzige Nummer gespeichert: die meines Bruders, der noch auf Bali geblieben ist. Man rief vom Bahnhof Herrsching diese Nummer an, ohne zu wissen, dass es ein Ferngespräch mit Bali war. Und von Bali bekamen wir dann diese obskure Aufforderung, eine Fundsache am Bahnhof abzuholen. - Überglücklich nahmen wir die Tasche mit ihrem vollständigen Inhalt in Empfang und feierten diesen Glücksfall beim Italiener mit Prosecco und einem guten Essen.
Am Nachmittag rief ich den Finder an. Es war ein älterer Herr, ehemaliger Seemann, von der Sozialhilfe lebend, wohnhaft in Erling. Wir trafen uns in seinem Haus, und er erzählte uns, wie er zu der Tasche kam. Er sass schräg gegenüber von uns in der S-Bahn und war vor uns ausgestiegen. Im Taxi, das ihn nach Erling bringen sollte, entdeckte er, dass er seine Zigarettenspitze in der S-Bahn liegengelassen hatte. Er stieg wieder aus, ging zur S-Bahn und sah, wie sich eine Gruppe Jugendlicher (zwei davon standen Schmiere an den Türen) über meine Tasche hergemacht hatten. Einer hatte die Geldbörse schon in der Hand. Der Herr fuhr die Diebe in Seemannsart an, denn er erinnerte sich, dass die Tasche zu dem Ehepaar gehörte, das dort gesessen hatte. Er sagte: "Als ich das sah, stieg die Mutter in mir hoch, als alter Seemann habe ich immer ein Messer in der Tasche, ich legte meine tiefe Stimme an (da geht immer eine grosse Kälte von mir aus) und ging auf die Diebe mit blanker Klinge los". "Die verwichsten Ratten", wie er sie nannte, liessen ab und flüchteten über die Gleise. Er nahm die Tasche an sich, und da der Bahnhof am Sonntag nicht besetzt war, lieferte er sie am Montagmorgen dort ab.
Eine vergessene Zigarettenspitze brachte uns wieder in den Besitz der Tasche. Und ein mutiger Mensch mit einer in unserer heutigen Gesellschaft sehr selten gewordenen moralischen Stärke ist zu einem Freund geworden.
Offensichtlich gibt es immer wieder Banden, die die späten S-Bahnen an den Endstationen abwarten und sie in Sekundenschnelle systematisch nach vergessenen Gegenständen durchsuchen. 
Hartmut Geerken

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