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Dienstag, 20. Oktober 2015

Nonplusultra

Gespenster am Fenster von Detlef Thiel

Ja, gewiß doch wohl ist heute die Zeit der Rekorde (sogar hat daraufhin jemand sein Töchterchen ,Rekordula’ genannt). Schon vermerkt der Kanal es übel, wenn ihn nicht täglich einer zwischen die Blitzbeine nimmt. Immerfort übertrifft einer den Andern im Tanzen, Radeln, Auteln, Flettnern, Fliegen usw. Redaktionsastrologen sorgen redlich dafür, daß die Zeitungen die Berichte noch vor den Geschehnissen bringen. Kopfhörer und weinerliche Lauthörer für Sterbende sind bereits erfunden. Thomas Mann schlug neulich in der Preußischen Dichterakademie den Aussender für letzte Worte großer Männer vor. An Abgesetztheit überbietet ein Fürst den andern. Der allerrascheste Weltumflieger scheint sich nicht mehr vom Fleck zu bewegen, weil sein Flugzeug im Bruchteil einer Sekunde um die Erdkugel zuckt. Werdende Mütter wetteifern, die langweiligen neun Monate zwischen Erzeugung und Geburt bis auf den schäbigsten Rest zu komprimieren. Man munkelt von einem Wettrennen, wobei Nurmi den Dr. P. durch Trick erledigte: in optisch ihn nullender feldgrauer Papierhülle stand er von vornherein am Ziel; in Gestalt einer Wachspuppe, die beim Knallsignal explodierte, am Start; zugleich zerriß er jene Hülle – am Beginn im Gewinn. P.s Wut war so ohnmächtig, daß er seitdem psychopathisch hinkt und seine Villa ,Schneckenhaus’ nennt. – Verzeihung, daß ich erst jetzt den erlauchten Namen Albert Einsteins in meinen unwürdigen Mund zu nehmen wage. Dieser fast Unsterbliche kommt soeben mit dem genialen Vorschlag, die zeiträumliche Prädisposition des menschlichen Hirns funktionell dermaßen zu alterieren, daß (wie vermittelst eines rapiden Zeitraffers) alles Nacheinander je nach Bedarf ins Zugleich verwandelt werden kann: so wird der Weltraum erobert. Eine Moszkowski-Gesellschaft für Stern-Rundreisen ist gegründet. – Auf dem Gebiete des Erlösungswesens, das bisher tief daniederlag, hat eine Fabrik, die jede Minute gut und gern sechzig Heilande (Buddhas, Bubers, weise Rabindranathans und andere Himmelswandervögel) liefert, jeden Ford-Schritt übertrumpft. Jedermann erhält hier auf Bestellung seinen individuellen Erlöser, keine fertige Ware, sondern Maßarbeit; eine Art Chasalla. – Elektrisch betriebene Coué-Mühlen (Kontakt-Stecker) ersticken jeden Krankheitskeim im Entstehen, rhabarbern unermüdlich ihr ,Vontagzutag’, und die armen Ärzte können im Erfinden neuer Krankheiten kaum noch Schritt mit ihnen halten. – Wurden vormals mit Leichtigkeit Rekorde im Lügen geschlagen, so daß es keinen Balken gab, der sich nicht krumm bog: – was sagt man nun dazu, daß neulich Einer die Wahrheit so stark sagte, daß diese selben Balken sich wieder automatisch grade streckten? Den Rekord im herzhaftesten Stottern errang sich eine Dame, die ihn zugleich in Unschuld davontrug (allerding bald darauf in einer Häßlichkeitskonkurrenz siegte). Rekorde in Ehebruch, Dummheit, Invalidität, Eitelkeit werden kaum noch beachtet.

Und sieheda! Trotzdem hat sich an Rekord noch etwas schier Unglaubliches zugetragen, davor selbst Ben Akiba reuig kapituliert: In der Frühe des ehegestrigen Tages starb ich ebenso langsam wie ziemlich sicher, und selbstverständlich ließen meine Leute mich verbrennen; das macht heute guten Eindruck, denn ein Toter, der nur beerdigt wird, scheint immer noch zu spuken, das ist unerquicklich. Man sei nicht bloß tot, sondern bitte mausetot. Erst die Asche des Verbrannten ruht so recht sanft. Wie aber Gerhart Hauptmann seinem Eckermann mal vertraulich mitteilte, ist auch das Krematorium kein Schutz vor Unsterblichkeit. Ich Ärmster sah mich plötzlich in aschiger Schemenhaftigkeit mitten in einer schauerlichen Versammlung lebender Leichname, die eine Wette miteinander austrugen: ,Wer ist am besten verwest?’ suchten sie zu ermitteln. „Achtung, Zwischenstufe!“ warnte mich Stolpernden ein fauliger, blutiger Kunde, der den komischen Eindruck eines im frischesten Ermordetwerden Steckengebliebenen machte, und der mich widerlich orientierte: „Bei ehrlich Verwesten bildet sich das Geschlecht sächlich heraus. Wir haben sofort gespürt, daß Sie jeden Rekord im Verwestsein schlagen. Sie stinken nicht mehr, und die Würmer sind weg. Reinste Asche. Kommen Sie mal, daß ich Sie dem Schiedsrichter präsentiere!“

Bevor ich nachdenken konnte, stand ich purer Aschenmensch vor einem Kadaver aus jauchiger Gallerte, der mich mit wurmstichigen Totenschädelaugen schneidend scharf prüfte, dann zwischen mulmigen Kiefern grinste: „Gut. Gewonnen!“ Er drapierte sein Leichentuch frivol dekorativ, ließ meine Asche kritisch durch die Knochenfinger rieseln: „Tadellos! Wie haben Sie das gemacht? Waren Sie korpulent? Sie sind hier der beste Verwesemann ... hießen Sie etwa Stresemann? Ich ernenne Sie zum Weltmeister im Leichtverwesen – nonplusultra.“ Damit wollte er sich meine Asche aufs Haupt legen. Aber ringsum das gräßliche Gewimmel der Leichen krächzte: „Schiebung! Schiebung! Gib ihm Saures!“ „Wieso?“ fragte der Allzu-Unparteiische, innehaltend. „Krematorium!!!“ heulten die Leichen, „der hat sich ja verbrennen lassen, das ist keine Kunst!“ Und Jener warf mir meine eigene Asche in mein beschämtes Schemenantlitz. Mit vereinten Kräften bugsierten sie mich in die ebenhölzerne Urne zurück, aus der ich geisterhaft aschig auferstanden war, um mich ausgerechnet in ihre Konkurrenz um den höchsten Grad der Verwesung zu mischen. Man wird mir zugestehen, das ist zwar heutzutage überaus aktuell. Aber schlägt das nicht doch jeden erdenklichen Rekord in sämtlichen Rekordveranstaltungen?
Weiter möchte ich nichts behauptet haben.

Mynona

Simplicissimus, Nr. 38: „Höchstleistungen“ (20. Dez. 1926)
jetzt in Salomo Friedlaender/Mynona: Grotesken II, books on demand 2008

Die Fotos entstanden neulich nachts in der Wohnung von Detlef Thiel, und zwar blind: im stockdunklen Flur, mit defekter Digitalkamera


Montag, 12. Oktober 2015

Ich hasse


Ich hasse Afrika.
Ich hasse Kleister.
Ich hasse Gläser.
Ich hasse Neuenburg.
Ich hasse Elvis.
Ich hasse Zeichen.
Ich hasse Berliner.
Ich hasse Teetassen.
Ich hasse kleine Tiere.
Ich hasse Masken. 
Ich hasse Kurzgeschichten.
Ich hasse Schnittlauch.
Ich hasse Dromedare.
Ich hasse Bierdeckel. 
Ich hasse Adressen. 
Ich hasse Tschechen.
Ich hasse Müll.
Ich hasse Autoren.
(Gott, wie ich die hasse!)
Ich hasse Hasse Türen.
Ich hasse Maya.
Ich hasse Künstler .
(natürlich die anderen, diese schlechten, selbstverliebten, säuerlichen, dämlichen erfolgreichen, erfolglosen, selbstmörderischen Teilzeitmenschen, Gottchen, wie ich sie hasse ,,,)
Ich hasse alte Teppiche.
Ich hasse neue Leichen.
Ich hasse Gott.
Ich hasse Mortadella .
Ich hasse Berge.
Ich hasse Löcher.
Ich hasse Kreise.
Ich hasse dich.
Ich hasse das Kleinmaleins.
Ich hasse Flöten.
Ich hasse Radiatoren. 
Ich hasse den Rasen.
Ich hasse den Hasen.
Ich hasse das Licht. 
Ich hasse Plastik .
Ich hasse Busen.
(Nein, tu ich nicht!)
Ich hasse Leute.
Ich hasse den Nordpol
Ich hasse Sweets.
Ich hasse Spielzeug.
Ich hasse Flugzeuge.
Ich hasse Gedichte. 
Ich hasse den Süden.
Ich hasse die Milch.
Ich hasse das Buch.
Ich hasse den Teufelskreis.
Ich hasse die Töne.
Ich hasse den Sänger.
Ich hasse das kleine u.
Ich hasse Brillen.
Ich hasse Pfannkuchen.
Ich hasse Harmonie.
Ich hasse Bäume.
Ich hasse die Schule.
Ich hasse das Zeichen.
Ich hasse das Spiel.
Ich hasse die Bayern. 
Ich hasse die Symmetrie .
Ich hasse den Absatz.
Ich hasse die Mutter.
Ich hasse deinen Onkel.
(Dieser Scheisskerl!)
Ich hasse das Loch.
Ich hasse den Himmel.
Ich hasse den Schmutz.

Ich mag meine Zehen. 

Fritz Sauter

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Die Kunst des Sammelns - Frankfurter Buchmesse 2015


A: Manchmal habe ich auch die Phantasie, als Sammler über die Buchmessen zu gehen. Was die Erwartungshaltung von Künstlern angeht, ist das psychologisch sicher nicht sehr einfach für manche Sammler. Es gibt eben mehr Künstler als Sammler. Das Angebot überschreitet deutlich die Nachfrage. 

O: Manchmal wünsche ich mir, unbekannt und unerkannt durch die Gänge der Künstlerbücher zu gehen. So muss ich mich manchmal durch die Stände lavieren; wohl wissend darum, beobachtet zu werden. Kommt er auch noch zu mir. Kauft er noch was… Das ist keine schöne Situation. Sie wollen ja auch niemanden verletzten. 

A: Ich weiß jetzt nicht, wer das gesagt hat. Vielleicht Andy Warhol: Was ist das wichtigste Thema bei Künstlern? Geld! Ich kenne keine Menschen, die so oft über Geld reden wie Künstler. Statistisch gesehen leben vermutlich nur zwei Prozent von Ihrer Kunst. Und in diesen Verhältnissen seine Existenz auf Künstlerbücher zu bauen, scheint ziemlich irre zu sein.

O: Vielleicht sind es 98 Prozent meiner Freunde und Bekannten, die überhaupt nicht wissen, dass ich Künstlerbücher sammele. Die haben überhaupt keine Vorstellung davon. Ein Buch ist für die einfach nur ein Buch. Wenn die meine Sammlung sehen und erfahren würden, wie viel Geld ich für Bücher ausgegeben habe, kämen sie zu dem Urteil, dass ich verrückt bin. Der eine oder andere geht dann lieber golfen. Selbst gute Freunde haben kein Verständnis dafür.

A: Kunst sammeln liegt vermutlich noch in deren Verständnis, aber so etwas Marginales wie Künstlerbücher ist denen vermutlich zu exotisch, zu abgehoben oder versponnen. Buchkunst ist eben nichts für erfolgreiche junge Zahnärzte, die sich jetzt ihren ersten Jonathan Meese leisten können. Wenn wir schon bei Klischees sind: Autorenkreise gelten ja oft als überkandidelt und introvertiert, während es in den Künstlerszenen laut und grell zugeht. Ich bin dazwischen…

O: Ich auch.

A = Hartmut Andryczuk
O = Gerhart Odenwald

Auszug aus "Die Kunst des Sammelns - Gerhart Odenwald (I)" Mit dieser Reihe werden Gespräche mit Privatsammlern im Künstlerbuch-Bereich veröffentlicht. 

Der Hybriden-Verlag auf der Frankfurter Buchmesse
14. bis 18. Oktober 2015
Halle 4.1 Stand L 21

Neue Titel:

Mittwoch, 30. September 2015

Femininiweh


Im Ordinierzimmer des berühmten Professors Steinach treten Zuchtbullen, Lustgreise, Hermaphroditen, Blüherianer und andere Dalailendenlahmas von Koitibet einander die verjüngungsbedürftigen Hacken ab. Doch heute war darin etwas Besonderes los, was ganz Feierliches –: vielleicht sollte von dorther dem armen Vaterlande die Rettung kommen?
In einem riesigen Lederklubsessel wuchtete die mastige Gestalt eines vormaligen Feldmarschalls, der vor den Augen eine violette Brille, in der schweren Faust den Stadtplan von Paris hatte. Dicht neben ihm saß ein nicht mehr allzu junger Mann in agrarischem Kostüm, sanftes Monokel vor unverkennbarem Herrscherblick, die Miniaturphotographie der (durch H. v. Kleist bekannten) Königin Luise betrachtend. In gemessner Entfernung hinter beiden stand eine offenbar untergeordnete Person, die ein Juchtenköfferchen am Bügel hielt. Auf der Chaiselongue jedoch, in theatralischer Pose lang hingestreckt, lag ein Mann, der wie eine Amazone anzusehen war. Sein Brünhildenhabit blinkte von metallenen Hakenkreuzchen.
Man unterhielt sich in martialischem Flüsterton:
„1429 – 1929, ein halbes Millennium! Was sagen zu dieser jewissermaßen Spenglerischen Parallele, ’X’lenz?“ fragte das Monokel den Exmarschall.
„Nach fünfhundert Jahren mag sich das gleiche Wunder in unserm Vaterland ereignen, K’loheit. Wir werden Paris ....“
Ein hochvornehmer Diener erschien und bat zum Professor.
„Vorwärts, Johanna!“ wendete sich der Jüngere in ehrerbietigem Befehlston an den liegenden Weibmann, dem ’X’lenz zum Aufstehen verhalf. Beide nahmen ihn in die Mitte; der Mensch mit dem Köfferchen folgte.
Überrascht strahlte der Steinachsche Backenbart: „Traue ich meinen Augen? K’loheit und ’X’lenz?! Und Sie bringen mir einen Patienten? Womit diene ich untertänigst? Nehmen Sie Platz, meine Herrschaften!“
Die drei setzten sich. Die vierte mit dem Köfferchen blieb stehen, wurde von K’loheit gebieterisch herangewinkt: „Öffnen!“ kommandierte K’loheit. ’X’lenz entnahm dem Koffer eine ritterlich geharnischte Statuette und präsentierte sie mit düstrem Triumph dem erstaunten Steinach:
„???“ glotzte der Professor.
„Erklären, ’X’lenz!“ blitzte das Monokel.
„Jeanne d’Arc, Jungfrau von Orleans“, bestätigte ’X’lenz dem zweifelnden Professor.
Als Steinach nicht aufhörte, sich zu verwundern, ließ sich der Weibmann gnädig herbei und verlautbarte sich folgendermaßen:
„Vor fünfhundert Jahren hat eine reine, nach Feuertod obendrein heilig gesprochene Jungfrau ihr bedrohtes Frankreich gerettet. Unsere vaterländischen Jungfraun sind keine Helden, unsere Helden noch keine Jungfraun. Liegt es da, Steinach, nicht verdammt nahe, Ihre biologischen Entdeckungen zu benutzen, um aus einem reinen Helden eine ebenso reine Jungfrau zu machen? Es gilt ein Experiment, dem ich mich gern unterwerfe: pflanzen Sie mir die Keimdrüse geschickt um! Sie werden ja irgend ’ne virgo intacta auf Lager haben .... Unser armes Reich wird es Ihnen reich honorieren.“
Steinach ächzte, behandelte seinen Bart ähnlich wie früher Sudermann den seinigen. Die Herren hingen gebannt an seinen von der gewaltigen Denkarbeit rilievierten Zügen.
„Steinach“, krähte K’loheit, „runzeln Sie von mir aus, was Sie wollen, nur nicht die Stirn!“
„An sich“, lächelte Steinach gequält, „stände einem derartigen Experiment nichts im Wege; nur garantiere ich keinen Erfolg.“
„Aber ich!“ trumpfte der Entschlossne auf und warf sein Amazonengewand ab: „Weg mit dieser Vorspiegelung! Ans Werk!“
Steinach atmete genau so wie der Taucher in Schillers berüchtigter Ballade.
„Noch eins, Professor,“ sprach der jungfräuliche Held, „bei mir hat fast alles seinen Haken, sogar das Kreuz. Richten Sie sich nicht nach dieser Statuette! Ich lege keinen Wert auf Heiligsprechung. Mich gelüstet’s weniger nach Abrahams Schoß als nach Walhall. Jene christliche Jungfrau war schließlich ’ne aufgelegte Pleite. Nein, kein martyrischer Feuertod, sondern machen Sie aus mir eine regelrecht waberlohende Walküre!“
„No, gehn’s, Steinach“, bettelte ’X’lenz im einschmeichelndsten Jargon, „wos liegt Ihnen daran, tun’s uns schon den Gefolln!“
Und Steinach holte eine reine Magd und legte Hand an. Der berühmte biologische Chirurg operierte. (Arm-Heinrich-Stimmung.) Denn, wie der Exmarschall versicherte, spielte „Jeld jarkeene Rolle, wirklich nich!“
Aber o weh! Der Erfolg ließ zu wünschen übrig. Die Prozedur mißriet zur Kastration. Von dem Spruch „Wie süß ist’s, im Elend Genossen zu haben!“ machten alle Hammel sofort Gebrauch. Es ist paradox, sich nur zur Entmannung zu ermannen. Es lag nicht am Helden, der Manns genug war, Weib sein zu wollen. Ironischerweise wurde er von dem an in jeder besseren Badeanstalt für einen leibhaftigen Juden gehalten ....
Steinach prozessiert noch heut mit K’loheit ums Honorar. Er soll hinzulernen und seine Methode verbessern. Das Vaterland wartet auf Wiederholung des Experiments (man lese Preisausschreiben vormaliger Dynasten). Am tragischsten aber sind doch die Helden, die sich lächerlich machen. Man denke sich einen Napoleon, der im Momente seiner Krönung „hätschi!“ macht .... K’loheit und ’X’lenz mußten sich ihr Lachen verbärbeißen.

Mynona

Berliner Börsen-Courier Nr. 366 (6. August 1924). 2. Fassung (danach der Text): Eulenspiegel. Zeitschrift für Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (hg. Heinrich Zille, Otto Nagel & Bruno W. Reimann, Berlin) 1, Nr. 1 (1. April 1928)
Friedlaender/Mynona: Gesammelte Schriften, Bd. 8, 2008, 65 ff.

(Mit Dank an Dr. Detlef Thiel)


Samstag, 19. September 2015

die liegende schöne auf chlebnikovs grab


im september 1998 war ich mit einer gruppe deutscher autoren auf lesereise in russland. wer war dabei? wer blieb mir im kopf? thomas kling, bodo hell, papenfuss-gorek, günter hirt, sascha wonders… manchmal stiess sascha anderson dazu & schmiss aufdringlich & peinlicherweise in einer teuren moskauer dollar-bar eine runde, obwohl das eigentlich keiner wollte. bei einer veranstaltung übersetzte prigow spontan simultan meinen text. im moskauer lenin-mausoleum wurden bodo hell & ich von polizisten verwarnt, weil wir flüsterten. im riesigen kaufhaus gum dagegen konnten wir ungestört reden. es gab dort ein neues klavier für umgerechnet 40 mark. irgendwer brachte welimir chlebnikow (1885-1922) ins gespräch. jemand wusste, dass er auf einem moskauer friedhof beerdigt sei. wir beschlossen, sein grab zu suchen. alle schwärmten in verschiedene richtungen aus & durchsuchten systematisch die gräberreihen. nach nicht allzulanger zeit ein erfolgsschrei! da lag sie, die schöne mongolin wie der grosse buddha von wat pho, aber nur etwa einen meter lang. es ist eine jahrhunderte alte grabstele, die ursprünglich in der weiten tungusischen steppe ein grab geziert haben mag, aufrecht zu etwa einem drittel in die erde eingegraben. jetzt liegt sie seit fast hundert jahren auf dem vergessenen grab von einem der wichtigsten dichter des 20. jahrhunderts, versteckt im gebüsch. – seltsam, die ursprünglich für eine aufrechte position konzipierte figur nun liegend zu sehen, der kopf ohne stütze aus dem körper herausragend. ein zweifacher umsturz, aus fleisch & aus stein. 


hartmut geerken 

Sonntag, 6. September 2015

über das plötzliche zusammenzucken


beim überfliegen der kleinanzeigen in alten zeitungen kann es vorkommen, dass man belustig kichert oder dass es einem kalt über den rücken läuft. bei letzterem prallt etwas mit etwas anderem  zusammen, & das resultat erzeugt eine ungewollte, vorher nie gekannte spannung oder reibung.

als ich im jahr 1971 mit dem musiker & philosophen sun ra im palmengarten des mena house hotels am fusse der grossen cheopspyramide flanierte, sprachen wir über musik & deren einfluss auf die amerikanischen gewerkschaften. in diesem zusammenhang sagte er, dass es beim zusammenbringen von zwei bestimmten worten zu explosionen kommen könne. wörter verhielten sich wie chemische substanzen.

ich dachte ursprünglich, dies sei spinnerei, interessante spinnerei. als aber mein auge zufällig in einem jüdisch-palästinensischen ‚mitteilungsblatt‘ aus dem jahre 1945 auf die annonce der firma von dr. zwi in tel-aviv fiel, wurde mir sun ras aussage vollkommen einleuchtend.

es mag wohl wanzen & dschukken (was das immer sei) gegeben haben, aber so eine  anzeige wollte ich zu jener epoche in jener zeitung lieber nicht gesehen haben.


hartmut geerken