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Samstag, 19. September 2015

die liegende schöne auf chlebnikovs grab


im september 1998 war ich mit einer gruppe deutscher autoren auf lesereise in russland. wer war dabei? wer blieb mir im kopf? thomas kling, bodo hell, papenfuss-gorek, günter hirt, sascha wonders… manchmal stiess sascha anderson dazu & schmiss aufdringlich & peinlicherweise in einer teuren moskauer dollar-bar eine runde, obwohl das eigentlich keiner wollte. bei einer veranstaltung übersetzte prigow spontan simultan meinen text. im moskauer lenin-mausoleum wurden bodo hell & ich von polizisten verwarnt, weil wir flüsterten. im riesigen kaufhaus gum dagegen konnten wir ungestört reden. es gab dort ein neues klavier für umgerechnet 40 mark. irgendwer brachte welimir chlebnikow (1885-1922) ins gespräch. jemand wusste, dass er auf einem moskauer friedhof beerdigt sei. wir beschlossen, sein grab zu suchen. alle schwärmten in verschiedene richtungen aus & durchsuchten systematisch die gräberreihen. nach nicht allzulanger zeit ein erfolgsschrei! da lag sie, die schöne mongolin wie der grosse buddha von wat pho, aber nur etwa einen meter lang. es ist eine jahrhunderte alte grabstele, die ursprünglich in der weiten tungusischen steppe ein grab geziert haben mag, aufrecht zu etwa einem drittel in die erde eingegraben. jetzt liegt sie seit fast hundert jahren auf dem vergessenen grab von einem der wichtigsten dichter des 20. jahrhunderts, versteckt im gebüsch. – seltsam, die ursprünglich für eine aufrechte position konzipierte figur nun liegend zu sehen, der kopf ohne stütze aus dem körper herausragend. ein zweifacher umsturz, aus fleisch & aus stein. 


hartmut geerken 

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