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Mittwoch, 29. Oktober 2014

Heliozentrische Egozentrale



department of volxvergnuegen präsentiert

Hartmut Geerken & Hartmut Andryczuk
Die Heliozentrische Egozentrale

Samstag 1.11.14 - 20 Uhr Glockenbachwerkstatt, Blumenstraße 7, München  | Eintritt 4 Euro

Hartmut Geerken & Hartmut Andryczuk lesen, sprechen, erzählen, diskutieren und spielen zu und über ihre Werke, die mit, neben, über dem Hybriden-Verlag (Berlin) - oder auch ohne ihn - entstanden sind. Dazu stellt Hubert Kretschmer Exponate aus seinem Künstlerbuch-Archiv aus.

Hartmut Geerken bezeichnet sich selbst als Autor, Komponist, Musiker, Filmemacher, darstellender Künstler, Schauspieler, Holzfäller, Shiitake- & Hummelzüchter, Mykologe, Archivar, Ausstellungsmacher und Herausgeber zahlreicher Autoren aus dem Umfeld des Literarischen Expressionismus und Dada.
Er veröffentlichte mehrere Bücher über Sun Ra und mit dessen Lyrik und Prosa und besitzt eines der größten Sun Ra-Archive, das 'Waitawhile Sun Ra Archive'. Seinen ersten Kontakt zu Sun Ra hatte Geerken als 18- oder 19-jähriger mittels eines Detektorempfängers neben seinem Bett: Eine Jazzsendung im Südwestfunk über den in Europa noch unbekannten Free-Jazz-Musiker. 1971 war er Leiter der Sprachabteilung des Goethe-Insituts Kairo und lud Sun Ra privat nach Ägypten ein - der spielte dann ein Konzert in seinem Wohnzimmer in Heliopolis!
Während seiner Arbeit für das Goetheinstitut in Kabul/Afghanistan organisierte er die jährlich stattfindenden 'Indo-Afghanisch-Europäischen Musikwochen' mit zahlreichen Konzerten, Seminaren, Ausstellungen und Filmen, ab 1977 bestritt er zusammen mit Wahab Madadi die erste regelmässig ausgestrahlte Jazz-Sendung von Radio Afghanistan.
Geerken gründete und leitete das 'Cairo Free Jazz Ensemble' und als Musiker spielte er mit der 'Cairo Jazz Band', 'Embryo' und 'Mondtrommler', 'The Cross', 'The Heliopolar Egg' , der 'Rock and Free Jazz Group Kabul', dem 'Trio Tchicai-Geerken-Moye' und mit dem 'Art Ensemble of Chicago', er unternahm ausgedehnte Tourneen vor allem durch Asien und Afrika. 
Neben zahlreichen weiteren Perfomances und Hörstücken war Geerken Schauspieler in fünf Filmen und zwei Theaterstücken von Herbert Achternbusch.
Der Schriftsteller und 'konkrete Poet' Geerken hat etliche eigene Texte, Bücher, Gedichtbände und Künstlerbücher veröffentlicht, unter anderem im Berliner Hybriden-Verlag. Über zwanzig Jahre lang nahm Geerken am 'Bielefelder Colloqium Neue Poesie' teil, einem internationalen Treffen von AutorInnen aus dem Umfeld der Konkreten Poesie. Seit einigen Jahren gibt er (zusammen mit Detlef Thiel) das 38-bändige Gesamtwerk von Salomo Friedlaender/Mynona heraus, von dem bisher 16 Bände erschienen sind.
Seit 1983 lebt der Perkussionist Geerken in Wartaweil am Ammersee, mit einer großen Sammlung von Gongs in seinem Garten. 

Hartmut Andrycuk hatte erste Auftritte und literarische Performances mit der Gruppe Solypse - Charmante Schamanen. Herausgabe der Solypse-Prospekte. Mitte der 1980er Jahre war er an Chanskaja stawka, einer Hommage an den russischen Futuristen Welimir Chlebnikow, beteiligt. Ende der 1980er Jahre gab Andryczuk die Zeitschrift teraz mowie - Hefte für experimentelle Literatur und Kunst mit über 100 Teilnehmern in diesem Bereich heraus. 1993 gründete er den Hybriden-Verlag, der sich zu einem internationalen Forum für zeitgenössische Künstlerbücher entwickelte. Kontinuierliche Zusammenarbeit erfolgte mit Wolfgang Müller/Die Tödliche Doris, Hartmut Geerken, Pierre Garnier, Freddy Flores Knistoff, Michael Lentz, Ulrich Woelk, Jaap Blonk, Herman de Vries und anderen.

Zusätzlich zeigt Hubert Kretschmer an diesem Abend in der Glockenbachwerkstatt eine Auswahl von Exponaten des Hybriden-Verlags aus seinem Archiv Künstlerbücher/Archive Artist Publications.

Filmreihe im iRRland, Bergmannstraße 8, München (Westend)
Eintritt frei

Samstag, 8.11.14, 19 Uhr

Hartmut Geerken: Die weisse Leinwand ist ein rotes Tuch 
Ein wilder Film aus dem Afghanistan der 70er Jahre, wo Hartmut Geerken bis zum Einmarsch der Sowjets lebte, collagiert und kombiniert mit den damaligen Medienbildern. Der 16mm-Film ist seit 1976 in Arbeit und dauert derzeit 16 Stunden. Ein ca. einstündiger Auszug dieses Found-Footage-Films wurde 2009 vom Hybriden Verlag zum ersten Mal in einer Edition im Rahmen von „mimas atlas # 8“ veröffentlicht.

Auswahl von Kurzfilmen und Dokumentationen aus
Djinn der Nordsee / VIDEODIARIUM 2004 / RITUALWORT - Literatur & Sprachvideos


Sa. 15.11.14, 19 Uhr

Hartmut Geerken/John Tchicai/Famoudou Don Moye:
The Freetown-Concert 
Moye tutet auf einem Muschelhorn. Tchicai, ganz in Weiß, schlägt Wasser in roter Plastikwanne. Die Kamera schwenkt für einige Minuten auf eine Wand, wo ein s/w-Ausschnitt läuft aus Geerkens found footage opus Die weiße Leinwand ist ein rotes Tuch – Felsbrocken-werfen im Sakko, Christian Burchard der Embryo, Wanderung in Afghanistan, verschneiter Schrott, US-Fetzen, Martin Luther King, die Monroe, europäischer Salat. Derweil repetiert Tchicai eine Phrase, Moye agiert solo. Kurze schwarze Pause, dann geht’s los. Milo Jazz, die siebenköpfige Trommelgruppe der National Dance Society von Sierra Leone, kocht uptempo mit einer so irrwitzigem Präzision, daß das bloße Wort Metronom schon zur Beleidigung wird. Moye dabei, close ups zeigen djembes, Schlitztrommel, kleine Trommeln und agogo. Tchicai erzählt und malt Bilder, er steht halb im Publikum, das auf Stühlen aufgereiht mit starrer Verwunderung das Geschehen verfolgt. Die Weißen bleiben konzertant steif sitzen, selten bewegen sie ihre Köpfe, man weiß nicht ob gelang-weilt oder amüsiert. Sehr hübsch die jungen Damen in der ersten Reihe, die, in Röcken, alle ihre linken Knie übers rechte gelegt haben. Die Schwarzen, meist in erlesenen Roben, scheinen zu wissen was da vorgeht. Waren etwa 200 Leute in der Halle? Walter Mertins von der deutschen Botschaft hatte mit klarem Auge eine ruhige Hand an der Videocamera, einer Neuheit in dieser Gegend. Blick um Blick addiert sich ein Gesamteindruck von dem denkwürdigen Ereignis am 6. April 1985 in Freetown. Tchicai deklamiert, Geerken präpariert Piano und Radio, was sich nahtlos in die schwarzen Kontexte einfügt. Die Kamera geht hinter die Bühne, schaut über verschiedene Schultern. Moye liefert eines dieser unendlich intensiven, nahtlos fließenden drum-Soli, oben der Paiste-Mond, dann oszillierendes cymbal work. Ein schwarzes Tanzpaar, und Geerken spielt eine seiner Lieblingsrollen, den Hauskasper: einen singenden Schlauch in eine tibetischen Kurztube gesteckt, schwingend und trötend, läuft er überall herum durchs Publikum. Am Schluß löst sich’s auf in ehrlichen starken Applaus, sie wollen doch more. – Dann was Anderes, ein rares ethnographisches Dokument. Gute 18 Minuten ohne Ton. Das regt an. Gefilmt von Geerken und Sigi Hauff, Super-8. Musikfest in Rokupr, einem Ort an der Grenze zu Guinea. Happy black folks: der Geist, der Baldachin, ein T-Shirt „Jumbo“, Cube, ineinander verfilzte Tän-zerklumpen, linksdrehend, riesige Zanzas, die Trommlerinnengruppe, Kinder, Farben, Durcheinander – – Im Hybriden Verlag des nimmermüden Hartmut Andryczuk ist also erschienen, was im Juniheft des JP, S. 78 angekündigt wurde. Der letzte Satz muß nur leicht korrigiert werden: Es sind doch nicht die Musiker, die sich an Lianen baumwärts schwingen, sondern, ganz am Schluß, ein Artist, der als fliegendes Spinnenwesen in einem Geflecht von Seilen zwischen zwei langen Stangen acht oder zehn Meter hoch in der Luft überm Publikum unglaubliche Faxen macht .... Afrika hoch! Sowas wie der Felix Ultraschall-Baumgartner war dort schon längst bekannt! Daß auch dies ein Denkmal für John Tchicai werden sollte, konnte keiner vorher wissen. (Detlef Thiel in „Jazzpodum", Februar 2013) 

DVD-Video. Erschienen in der Reihe „Elektronikengel“, Berlin 2012, 68 min

Auswahl von Kurzfilmen und Dokumentationen aus
Djinn der Nordsee / VIDEODIARIUM 2004 / RITUALWORT - Literatur & Sprachvideos

Sa. 22.11.14, 19 Uhr

Hartmut Geerken: kasr el nil
Die „Kasr-el-Nil“ ist eine Hauptverkehrsstraße in Kairo, wo Hartmut Geerken Leiter der Sprachabteilung des Goethe-Instituts war. Aus einem Hotelfenster filmte Geerken im Jahre 1967 die Szenerie des Verkehrs, der Gestalten und ihrer Schatten mit einem Super-8-Film. Unterlegt wird dieser Videokurzfilm mit dem Sound des Autors und Musikers, einer seltsamen Perkussion auf eine Steckdose sowie Umgebungsgeräuschen aus dem Radio. DVD-Video, Berlin 2010

Michael Lentz Lentz in Moskau
Der Autor beschimpft volltrunken russische Schlagerstars in einem Moskauer Hotel. Gesichtet von Oberst Andryczuk. Video-DVD, Dauer: 3:24 min. Berlin 2005

Auswahl von Kurzfilmen und Dokumentationen aus
Djinn der Nordsee / VIDEODIARIUM 2004 / RITUALWORT - Literatur & Sprachvideos

An jedem der drei Abende zeigen wir eine Auswahl von Kurzfilmen und Dokumentationen aus

Djinn der Nordsee 

24 Kurzfilme & Dokumentationen mit Wolfgang Müller, Valeri Scherstjanoi, Michael Lentz, Max Müller, Wolfram Spyra, Hartmut Andryczuk u.a. Ausgewählt und herausgegeben von Hartmut Andryczuk. Video-DVD von ca. einer Stunde Länge. mimas atlas # 5, Berlin 2007.

VIDEODIARIUM 2004 

Mit Wolfgang Müller, Valeri Scherstjanoi, Wolfram Spyra, Michael Lentz, Klaus Beyer, Jörg Buttgereit, Frank Behnke, Eugen Gomringer, Windows-Viren, dem Inox-zuhause-Museum, Fussgängerzone und Sporthotel Barsinghausen, Landeskrankenhaus Hildesheim, Kulturforum Berlin, Springe/Deister, Luxembourg, Gent, Art Frankfurt, Klippur frá Reykjavik im Frisörsalon Beige, V1/V2-Museum Peenemünde und diversen Orten von Elektronikenegls Botschaft mit seinen Dokumenattionen u.v.a.m. DVD, Berlin 2005


RITUALWORT - Literatur & Sprachvideos

Literatur- und Sprachperferformances von Valeri Scherstjanoi, Ulrike Draesner, Namosh, Tilmann Lehnert, Felix Martin Furtwängler, Sergej Birjukov, Jörg Schröder, Mara Genschel, Stephan Krass, Thomas Schulz, Jan Peter Bremer, Arne Rautenberg, Hadayatullah Hübsch, Maja Jantar, Ulrich Woelk, Wolfgang Müller, Hartmut Geerken und Hartmut Andryczuk.

Hartmut Geerken    www.hartmutgeerken.de 
Hartmut Andryczuk   www.hybriden-verlag.de
Hubert Kretschmer / Archive Artist Publications  www.artistbooks.de

Seit 1980 sammelt, archiviert und dokumentiert Hubert Kretschmer im Archive Artist Publications Künstler-Publikationen: Zeitschriften, Flugblätter, Künstlerbücher, Zines, Multiples, Plakate und vieles mehr. Inzwischen umfasst die Sammlung einige 10.000 Items und ist über eine im Internet öffentlich zugängliche Datenbank zu erforschen.
Mit dem Archiv hat Hubert Kretschmer stets das Ziel verfolgt, nicht nur seine Sammlung von Künstlerbüchern zu erweitern, sondern auch das Umfeld und den Zeitgeist zu dokumentieren, in dem die Bücher entstanden sind:
Multiples, Plakate, Einladungen, diverse Tonträger, Fotokopien, Briefmarken, Videos, Zines, CDs, Lieferverzeichnisse, Zeitschriften, Websites und Sekundärliteratur und Ausstellungskataloge.
Die Exponate spiegeln die Kunstströmungen der letzten dreißig Jahre bis heute wider:
die Ausläufer des Fluxus, des Happenings und der Aktionskunst, Mail Art, Stamp Art, die Neuen Wilden, Konkrete und visuelle Poesie, Konzeptkunst und Copy-Art.

Die Veranstaltung und die Filmreihe wird gefördert durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München.

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Legehennenbatterie

Plakat, signiert 40 €. Unsigniert – auch 40 €.

Der Hybriden-Verlag ist auch in diesem Jahr bei der Frankfurter Buchmesse vertreten. Neben der ständigen Repräsentation von Künstlerbüchern mit Ulrich Woelk, Hartmut Geerken, Wolfgang Müller / Die Tödliche Doris, Herman de Vries, Michael Lentz, Valeska Gert, Gundi Feyrer, Jaap Blonk, Lea Draeger, Felix Martin Furtwängler, Ottfried Zielke u.a. gibt es als Neuerscheinung die Erstübersetzung von Lukas Dettwiler zu Bengt Emil Johnsons Poem „Zuhause“ mit Fotos von Hans Erixon. Bengt Emil Johnson (1936 – 2010) war Schriftsteller, Komponist, Rundfunkredakteur, Herausgeber und Ornithologe. Lukas Dettwiler studierte Nordische Philologie an den Universitäten Zürich und Uppsala und arbeitet als Archivar beim Schweizerischen Literaturarchiv in Bern. Der lyrische Text des Autors wurde hier zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Gefördert wurde das Buch vom Swedish Arts Council. 
Ausserdem hat Wolfgang Müller seine Materialsammlung „MÜLLUNG“ beendet. Die MÜLLUNG umfasst Archivarien, Briefe, Partituren, Fotos, Fundstücke, Manuskripte – direkt vom Schreibtisch des Missverständniswissenschaftlers. 
In der Medien-Editionsreihe Elektronikengel ist ein seltenes Dokument erschienen, ein etwa 10 Minuten langes Künstlervideo einer gemeinsamen Performance zwischen Mitgliedern der Gruppen Die Tödliche Doris und Einstürzende Neubauten  am 29. Mai 1982 im Lokal Risiko, Westberlin. Der Film zu der Edition Wassermusik stammt von Gustav-Adolf Schroeder
Mit dem Themenband RISIKO ist in diesem Jahr die 8. Ausgabe des VOKABELKRIEGERS erschienen, herausgegeben mit dem Kunst:Raum Sylt Quelle. Wie immer beinhaltet dieses Künstlerbuch-Periodikum, das einmal im Jahr erscheint, Erstveröffentlichungen und künstlerische Originalarbeiten. Beiträge sind diesmal von Martin Ahrends, Jorge Herrera, Jan Böttcher, Tanja Dückers, Hartmut Andryczuk, Franziska Marie Gerstenberg, Peter Zitzmann, Martin Grzimek, Hartmut Geerken, Katharina Hartwell, Gerhild Ebel, Wolfgang Hegewald, James Burns, Myriam Keil, Detlef Thiel, Christopher Kloebe, BrandStifter, Rebekka Knoll, Philippe Barcikowski, Daniel Mylow, Carsten Otte, Freddy Flores Knistoff, Monique Schwitter, Fritz Sauter, Michael Stauffer, Mikula Lüllwitz, Sybil Volks, Barbara Fahrner, Stefan Weidner, Egon Günther, Jose Estevao, Konstantin Ames und Clemens Weiss. 
Zu  guter Letzt gibt es mit Protokollen aus dem Diesseits ein neues Künstlerbuch von Hartmut Andryczuk mit Zeichnungen und Zitaten von Bewusstseinsforschern und Philosophen. Wie sagte doch Ludwig Wittgenstein: "Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. Die Gegenstände entsprechen im Bilde den Elementen des Bildes. Die Elemente des Bildes vertreten im Bild die Gegenstände. Das Bild besteht darin, daß sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zueinander verhalten. Das Bild ist eine Tatsache.“

Der Hybriden-Verlag auf der Frankfurter Buchmesse
8. bis 12. Oktober 2014

Halle 4.1 / L 21

Mittwoch, 24. September 2014

Victor Günthert

Links: Saxifraga granulata.
Rechts: Saxifraga paniculata

Für die deutsche Buchkunstszene war er einer der großen Sammler, der sich auf dem Gebiet der bibliophilen Bücher des 20. Jahrhunderts spezialisiert hatte. 
Er selbst eine äusserst distinguierte Erscheinung, groß gewachsen, buschige Augenbrauen, ein neugieriges und waches Wesen.

Zu jeder Frankfurter Buchmesse gehörte er zu der kleinen Schar von Privatsammlern, zu denen die Künstlerbuch-Verleger eine familiäre Beziehung aufbauten. Vor einigen Jahren verabschiedete er sich dann, zog sich mehr und mehr von der Szene zurück.

Ich erinnere mich gut an einen privaten Besuch bei ihm in München-Schwabing. Er zeigte mir einen Teil seiner Sammlung: die heute wertvollen Bücher der Cranach-Presse von Harry Graf Kessler und der Bremer Presse von Willy Wiegand. Sowohl die Cranach- wie auch die Bremer Presse gehören heute zu den herausragenden bibliophilen Erzeugnissen, die sich am Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die industrielle Buchproduktion wendeten.

Victor Günthert war aber nicht nur ein Spezialist der Bibliophilie; er sammelte auch zeitgenössische Künstlerbücher, die andere Präferenzen als Satz, Druck, Typografie, Einbandgestaltung oder Papierauswahl hatten. Zu ihnen gehörten auch die Künstler der Burgart-Presse von Jens Henkel, Felix Martin Furtwängler oder Ottfried Zielke. 

Zu einem Privatsammler kommt man nicht mit leeren Händen. Also hatte auch ich Künstlerbücher dabei. Nach Kaffee, Kuchen und Gesprächen über alpine Gärten packte ich meinen Bauchladen aus. Er schaute sich alles aufmerksam an, fand es großartig und meinte dann: „Hätte ich Sie einige Jahre vorher kennen gelernt, hätte ich alles von Ihnen gekauft. Nun bin ich aber zu alt, um dort noch einzusteigen.“ Das Fatale daran war, dass er einfach die Wahrheit sagte. Es war keine Strategie von ihm, keine Entschuldigung oder ein fragwürdiger Trost für mein misslungenes Geschäft. 

In den letzten Jahren war er mit der Katalogisierung seiner Sammlung beschäftigt. Leider ist das etwas, was viele Privatsammler immer tun wollen, es hinausschieben und dann vorher sterben. 

Auf der Buchkunst Weimar im letzten Jahr erschien Victor Günthert überraschend, sprach lange mit vielen Herausgebern und erwarb hier und da etwas. Ich sollte ihm in Mai besuchen, wenn ich in München sein würde. Also rief ich ihn im Mai diesen Jahres an. Da war er zu dem angegebenen Termin in Hamburg. Jetzt fahre ich im November wieder nach München und dachte daran, ihn zu besuchen, bis Cornelia Göbel, die Frau des Privatsammlers Reinhard Grüner anrief und mir mitteilte, dass Victor Günthert am 17. September gestorben ist. 


(H.A.)

Dienstag, 16. September 2014

Ur, Uhr, Ur-Uhr?

Apple Watch, Revision 2 oder 3?
„But there will be something, or several somethings, that will cause it to be misunderstood by those who are only able to frame new creations in the context of what came before them. Apple’s watch won’t fit in an existing mold. It won’t be a phone on your wrist. It won’t be a watch as we know it. We already have excellent phones. We already have excellent watches. For the Apple watch to be worth creating, it must be excellent at something else.“
Daring Fireball
Ich verstehe Apples neue Smartwatch nicht. Ist das eine Uhr? Ist das keine Uhr? Ist das mehr als eine Uhr? Und wozu soll sie gut sein? Zur Selbstoptimierung? Als kleiner Bruder des iPhones? Was mache ich damit? Mich benachrichtigen lassen, dass ich eine E-Mail erhalten habe, obwohl die gleiche Benachrichtigung auch 25 cm weiter signalisiert wird?- auf meinem iPhone, ohne das die Apple Watch gar nicht funktioniert. Und wenn ich ein Fitness-Freak und Gesundheits-Paranoiker bin, jeden Tag meine Schritte zähle, den Kalorienverbrauch registriere, Herzschlag und Blutdruck kontrolliere, so reicht die Ladung der Apple Watch doch nicht dazu aus, nachts noch meinen Schlafrhythmus zu optimieren. 
Als jahrelanger Nicht-Uhrenträger und Apple-Enthusiast fällt es mir schwer, von dieser Uhr, die keine Uhr ist, fasziniert zu sein. Sie ist nicht wasserdicht, hat kein GPS, ist vom Smartphone abhängig, hält nur einen Tag und ist ab Januar in ihrer günstigsten Ausführung vermutlich ab 350 € erhältlich. Ob der Akku dann problemlos nach einem Jahr ausgewechselt werden kann oder gleich die Uhr weggeschmissen werden muss, ist noch unklar.
Wenn schon eine Uhr, die keine Uhr mehr sein will, warum hat Jony Ive dann doch wieder eine Uhr designt und nicht einen Armreif oder ein Armband?
Zunächst scheint diese erste Revision einer Apple Watch ein Lifestyle-Produkt für Beta-Testern zu sein, die alles kaufen, was neu mit dem Apfel ist. Die Kinderwagen-Jogger mit den Beats-Kopfhörern in den trendigsten Sportklamotten. Das iPhone am Oberarm, die Apple Watch als Sports Edition am Handgelenk, 5-Tage-Bart und frisch intimrasiert.

Aber vielleicht gehöre ich auch zu jenen, die zunächst immer schimpfen und dann doch das Produkt kaufen. Nicht weil sie es brauchen, sondern weil es schön ist. 
(H.A.)

Samstag, 13. September 2014

Programmierung und Meta-Programmierung des menschlichen Biocomputers (3)


21. Ein verbundenes/unverbundenes P0 kann bewußt werden. Das heißt, getrennt von Aktivierungsprozeß. Eine Aktivierung impliziert nicht unbedingt, daß Bewußtsein vorhanden ist. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Bewußtsein und Aktivierung sind zwei getrennte Parameter. Mit anderen Worten, Programme können aktiviert werden und laufen, ohne daß man sich dessen bewußt ist. Und das ist auch gut so, denn sonst müßten wir tatsächlich jeden Schritt den wir in einem x-beliebigen P0 unternehmen. 
22. Ein bewußtgewordenes P0 kann unbewußt werden und verbunden/unverbunden bleiben. Siehe hierzu Punkt 23. 23. Verbinden/Unterbinden, verbunden/unverbunden, Identifikation/Disidentifikation (Gleichmachung/Ungleichmachung), bewußt/unbewußt, kontrollieren/kontrolliert werden, schaffen/zerstören usw. sind Variable, Parameter, die für sich genommen unabhängig, voneinander frei/neben- bzw. untergeordnet sind. Dieser hängt vom Verhältnis ab, das es zu einem selbst und zu jedem anderen P0 hat. 
24. Wird P0 gespeichert, wenn es negativ verstärkt worden ist, wirkt es in seinem Bereich (oder anders ausgedrückt, in seiner Einflußzone) so «als ob es fürs Überleben wichtig sei.» Diese Behauptung stammt direkt aus der Kindheit. 
Wenn man noch ein kleines Kind ist, steckt man den Finger in die Kerzenflamme, schreit vor Schmerz und hat von diesem Moment an bei allem, was man aus dieser Erfahrung selektiert, negative Verstärkung. Man kann im allgemeinen nehmen, was man will - Kerzen, Flammen, Hitze, Licht, die Anwesenden usw.; von da an mißt der kleine Biocomputer, was das Überleben betrifft, einem Teilbereich dieses Programms eine besondere Bedeutung zu. Als Außenstehender kann man nie sicher sagen, zu welchem Programm es gekommen ist, weil das Kind nicht mitteilen kann; man kann es nur aus seinem späteren Verhalten ableiten. 
25. Wird P0 gespeichert, wenn er positiv verstärkt worden ist, wird es in seinem Bereich für alles Lustbetonte/Vergnügliche/Spaßvolle unabdingbar. Am klarsten sieht man das am Phänomen des Sichverliebens: man bekommt von einer anderen Person eine positive Verstärkung, und eventuell wird man, was die sexuelle Befriedigung angeht, ganz von diesem Menschen abhängig, auch wenn das nicht ein sehr phantasievolles Resultat ist. Möglicherweise trifft das Gleiche auch auf die Zeit nach dem ersten Acid-Trip zu, Es wir grandios, und damit ist alles positiv verstärkt worden - man sagt folglich von diesem Moment an, Acid sei eine tolle Sache, ein Sakrament, und du ziehst damit los und versuchst das zu verbreiten und die Idee rüberzukriegen. Es ist der Vertrag mit der Chemie, der einem eine Menge positiver Verstärkung beschert hat, und von dem man möglicherweise nicht mehr wegkommt (da er notwendig ist, um in diesem Gebiet Vergnügen zu erlangen). 
26. P0 kann, wenn es neutral verstärkt worden ist, für die Integration in seinen Einflußsphären wichtig werden. 
27. Hochverstärkte Programme haben die Tendenz zu wiederholter Aktivierung und Anwendung. Wenn man die Unschuld verloren hat, will man weiterhin sexuellen Verkehr haben oder masturbieren oder was auch immer. Diese Programme sind hoch verstärkt, weil sie zufällig mit Systemen zusammenpassen, die in der eingebauten Struktur des ZNS äußerst leicht verstärkt werden. 
28. Ein Programm P0 kann ohne weiteres für lokale Zwecke angewendet werden. Der Begriff Programm bekommt hier Gesellschaft. Für die lokale Anwendung kann ein Programm als etwas Dynamisches/Statisches, als Prozeß/Nicht-Prozeß, als das. was man glaubt/nicht glaubt, definiert werden. Glauben und nicht glauben sind programmatischer Natur, und daran denkt man nur selten. Wenn man an okkulte Mächte nicht glaubt, ist man genauso fest programmiert, wie wenn man daran glaubt. Die gegenseitigen Paarungen lassen sich beliebig fortsetzen: denken/nicht denken, fühlen/nicht fühlen, handeln/nicht handeln, etwas Konzipiertres/Nicht-Konzipiertes, Wesenhaftes/Nicht-Wesenhaftes, null/unendlich, jede x-beliebige Zahl einschließlich realer, imaginärer und Hyperzahlen, Funktion/System/Struktur/Form/Substanz, real/nicht real, wahr/nicht wahr, Simulation/Nicht-Simulation, ob/als ob nicht, usw. Allgemein kann man sagen, daß jedes Konzept, jede Idee von Bedeutung, die hierunter fallen kann, ein Programm ist. Jedes P0 kann nach Belieben und persönlichem Ermessen definiert werden. Erst wenn P0 gestartet ist, kann es angewendet werden, Es handelt sich hier um nichts anderes als um einen Satz von Anweisungen, um selbst anfangen zu können. In der Provinz des Geistes ist das nur ein Teil der Instruktionen zur Navigation und Steuerung. 
29. Jedes psychoaktive chemische Mittel kann als P0 agieren. Es ist wichtig, daß wir Unterscheidungen treffen. die manche Leute gewöhnlich vergessen, wenn sie in den Tank gehen. Es kann vorkommen, daß manche Leute sagen:«Dieser Tank ist wirklich eine tolle Sache», weil sie das Buch, Programming and Metaprogramming in the Human Biocomputer, gelesen haben, und schon wird dem Tank ein Programm aufgedrückt.«Ich werde das gleiche im Tank machen wie John Lilly», sagen einige; und nachdem sie eine Stunde im Tank waren, sagen sie:«Es ist überhaupt nichts gewesen.» Warum hat sich nichts getan? Weil sie dachten, der Tank ist ein ä.R.- Agens mit einem eingebauten Programm, das automatisch aktiviert würde, und vergaßen, daß P0 kreiert werden muß, entweder von einem selbst oder von etwas anderem, daß es gespeichert werden muß. Das Versagen liegt darin, daß das Buch nicht gespeichert wurde. Sie dachten, sie hätten es gespeichert. Man muß ein Buch fünfmal lesen, bis man es gespeichert hat. Aber selbst dann hat man es nicht unbedingt intus. Freilich kann man zurückspulen und sich an manches genau erinnern, aber man kann es nicht aktivieren, weil es kein Programm ist. Ebenso verhält es sich, wenn man das Buch fünfmal liest; man kann P0 effizienter machen; man kann es auch entkräften. Zum Beispiel kann man die Teile in einem Buch, die man nicht mag, entkräften und auf diese Weise anfangen, andere mehr zur Wirkung kommen und dadurch den Kontrast immer stärker werden zu lassen. Wenn P0 stärker wird, können Teile davon die Schwelle zur Anwendbarkeit passieren. Viele vergessen dann, daß sie es nicht gespeichert, nicht verstärkt und nicht bis zu der Schwelle alterniert haben. wo es anwendbar ist. Ein Kochbuch sagt einem. wie man alle Bestandteile zusammenstellt und auf bestimmte Art kombiniert, aber nicht, wie es schmecken wird; die Motivation, das Rezept auszuprobieren, wird nicht gegeben. 
30. Ich0 ist mit P0 identisch. Mit anderen Worten, Ich0 ist man selbst und als solches ein Programm, das im Biocomputer generiert wird. Ebenso ist das i.R-Agens als Ich0, ein Programm. Wenn Ich0 nicht irgendein P0 ist, befindet man sich in einem Seinszustand, den Merell-Wolff «objektloses Bewußtseim» genannt hat. Dort gibt es kein P0 mehr. Sehr wichtig sind die physikalischen Programme, die unser Körper ausführt. Man kann jede Art neurophysiologischer Be ispiele für autorhythmische Programme wählen.
Unser Gehen, Laufen, Sitzen, Stehen, Sprechen stellt automatische Programme dar, die von uns aufgerufen werden können. Sie wiederholen sich laufend; sie sind Bandschleifen, die wir zu Metaprogrammen zusammenstellen können. (Ich möchte darauf hinweisen, daß nichts von alledem Bedeutung hat, solange man es nicht gespeichert hat und reaktivieren kann. Aber wenn man das tut, wird man bemerken, daß alles, was hier gesagt wurde, eine tiefe Wirkung auf den gesamten Biocomputer hat. Wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft, gehen von einer Behauptung wie:«P0 kann sich mit P1, P2 oder Pn identifizieren» Wellen aus, «Jedes Programm kann sich mit jedem anderen Programm identifizieren» ist nichtssagend, solange man an sich selbst beobachtet hat, wie es geschieht.) Mit dem Biocomputer hat es viel mehr auf sich. als man sich vorstellen kann. Der bewußte Geist ist nicht fähig, alles außer sich im Bewußtsein zu halten: der Apparat reicht dazu nicht aus. Um effizient operieren zu können, werden 99 Prozent davon unbewußt gemacht; nur was die Aspekte der Selbstprogrammierung, Erfahrung angeht. Wird im Bewußtsein behalten. Die Illusion des freien Willens ist pures weißes Rauschen, das alle möglichen Botschaften enthält: auf lange Sicht gesehen, wählen wir eine fabrizierte Sicherheit inmitten von Unbestimmtheiten.

Zitiert aus John C. Lilly, Die Programmierung der inneren Realität (i.R) und Simulationssphäre. P0 als nützlicher Metaglaube und seine Anwendung.

(John C. Lilly, Das Tiefe Selbst, Basel 1983)

Sonntag, 7. September 2014

Programmierung und Meta-Programmierung des menschlichen Biocomputers (2)


9. P0 kann eine in der inneren Realität wirkende Kraft werden. P0 kann ein Eigenleben führen und sich gegebenenfalls selbst aktivieren. Langsam beginnt man zu glauben, es ist spontan, weil man es nicht selbst aktiviert hat. Es ist einfach aufgetaucht, ohne daß man es beim Namen genannt hat, ohne daß man die Adresse angegeben hat. Das spontane Erscheinen eines Programms bedeutet, daß es oberhalb der Schwelle zur Anwendbarkeit genügend Energie besitzt, um im Bewußtsein wie eine Alsob-außerirdische Entität zu erscheinen. 
10. P0 kann eine in der äußeren Realität wirkende Kraft erzeugen. Künstler kennen das. P0 kann auch ein ä.R.-Agens in jemand anderem erzeugen, wenn es an eine andere Person übertragen, genügend stark aktiviert und zu einem selbst rückgekoppelt wird. 
11. P0 kann ein in der äußeren Realität wirkendes Agens programmieren. Mit anderen Worten, P0 kann Elemente in sich tragen, die es ermöglichen, jemanden für etwas anderes zu programmieren. Eine andere Art ä.R.-Agens als die Kunst ist die menschliche Umwelt im allgemeinen, aber auch die Weit der Tiere, Kinder oder die Wohnungseinrichtung, kurzum alles außerhalb von einem selbst, wo immer man gerade etwas kreiert, das dann auf einen zurückwirkt. Wenn man ein ä.R.- Agens mit programmierenden Kapazitäten besitzt, kann man die Programmierung einem Programm überlassen. 
12. P0 kann alles enthalten, was man denken, fühlen, tun kann. 
13. P0 kann sich mit P1, P2 usw, bis Pn identifizieren. Mit anderen Worten, manche Programme verhalten sich wie ein Chamäleon; offensichtlich nehmen sie andere Namen und Adressen an, als ob sie andere Programme wären. Wenn man P2 nicht genau untersucht, mag man in ihm nicht das altbekannte P0 unter einem Decknamen wiedererkennen. Ein großer Teil der Psychoanalyse beruht darauf. Es geht darum, die Decknamen von P1 und P2 zu entlarven und dahinter das ältere P0 zu erkennen. 
14. P0 kann stärker werden, gleich bleiben oder schwächer werden, und zwar in folgenden Parameterbereichen: der enthaltenen Energie, Leistungsfähigkeit bzw. Stärke, Kraft und Verstärkung. Was unter Verstärkung zu verstehen ist, erklärt sich beim weiteren Lesen von selbst. 
15. Solange ein P0 weder positiv (+) noch negativ (-) noch plus/minus (+/-) noch plus und minus (±), d.h. neutral verstärkt ist, hat es keine Bedeutung. Diese Feststellung ist sehr wichtig. Anders ausgedrückt, in uns gibt es schlummernde Programme. Man hat buchstäblich hunderttausende latenter Programme im Inneren sitzen. Solange keines von ihnen weder positiv noch negativ noch neutral aufgeladen wird, bleibt es inaktiv. Es ist in der Tat sehr schwer, P0 ohne eine Art von Verstärkung zu speichern. Die Tatsache, daß P0 solange bedeutungslos ist, wie es nicht verstärkt wird, ist sehr wichtig; man kann in einem Buch lesen, das ein anderer geschrieben hat, und das Programm kann einem völlig entgehen. Erst wenn man einige Anstrengung hineinlegt und ihm positive oder negative oder neutrale Energie verleiht, wird es einen irgendwohin bringen. Aber solange man das nicht tut, wird es in der äußeren oder inneren Realität als ein äußeres latentes Programm verharren. Will man es als latentes Programm verinnerlichen, muß man die Schränke überwinden, die durch die Verstärkung aufgerichtet wird. Den programmspeichernden Prozessen wohnt eine Impedanz inne. Manche Leute haben eine höhere Schranke als andere. Hierzu gehört auch die uralte Idee der Beeinflußbarkeit. Manche Menschen nehmen jedes Programm an; anders ausgedrückt, sie sind höchst beeinflußbar, was bedeutet, daß sie hoch aufgerichtet oder zutiefst zu Fall gebracht werden können. Ich würde im positiven Sinne sagen, daß diese Leute ein Talent haben, Programme anzunehmen. 
16. Die Position eines P0 auf der Prioritätenliste (die Prioritätenliste ist ein Programm für sich) ist eine Funktion der Verstärkungskapazität hinsichtlich P0. Mit anderen Worten, was man für das Wichtigste hält, ist das, was die meiste Verstärkung bekommen hat. Diese Formulierungen sind, wie man sieht, ziemlich seicht. Ein latentes Programm, das mit sehr viel Energie gespeichert wurde, aber eine niedrige Aktivierungsschwelle hat, ist ein Programm, das in der unbewußten Latenz, mit der es im Ruhestand verharrt, bereits über Energie verfügt, die mit ihm zusammen gespeichert wurde und von dem Augenblick an assoziiert wird. Man muß an sich selbst erfahren, wie die eigenen Prioritäten verteilt sind. Die Prioritätenliste, die man hat, ist nicht etwas, mit dem man sich hinsetzt, um nach Belieben Programme zu konstruieren und zuzuweisen. Man muß sie untersuchen, um ihre Struktur zu erkennen. Gewöhnlich ist der Schreck groß, wenn man die eigentliche Struktur entdeckt. Es stellt sich heraus, daß das, was man immer ganz bewußt für das Wichtigste hielt, gar nicht das Wichtigste ist, sondern etwas ganz anderes diese Stelle einnimmt. Erinnern wir uns wieder an das unter Punkt 13 Gesagte: P0 kann sich mit P1, P2, Pn, usw. identifizieren. Als erstes müssen daher die Namen, die auf der Prioritätenliste stehen, untersucht werden. Sie könnten lediglich Decknamen sein, so daß man es bereits mit mindestens zwei Prioritätsebenen zu tun hat. Eine davon ist die echte, tatsächlich operierende Priorität. Eine außenstehende Person, die objektiv ist und einen gut kennt, kann einem helfen, die Prioritätenliste, so wie sie in der Außenwelt vorkommt, zu lesen, Diese kann man mit der eigenen Prioritätenliste vergleichen, so weit sie einem bewußt ist. In jeder diadischen Beziehung stößt man immer wieder auf Neues. 
17. Jedes P0 kann verstärkt werden: positiv (+), negativ (-), negativ/positiv (-/+) oder positiv/negativ (+/-) und neutral (±). Man kann jedes Programm wichtig machen, indem man es im positiven Sinne überbewertet oder im negativen Sinne schlecht macht oder verunglimpft. Dadurch wird es automatisch wichtig. Eine andere Möglichkeit ist leidenschaftbefreites, objektives Denken im neutralen Sinne. 
18. Jedes Programm P0 kann Kontrolle ausüben/kontrolliert werden. Das bedeutet, daß jedes Programm mit jedem anderen Programm in rückwirkender Beziehung steht. Auf der einen Seite wird es von einer Vielzahl anderer Programme kontrolliert, auf der anderen, also vom Output her gesehen, kontrolliert es andere Programme. 
19. Alle P0 in einem Biocomputer (B.C.) sind Teil des P0- Netzwerkes von P0 in diesem B.C.; sie sind damit verbunden/unverbunden. Der Unterschied zwischen verbundenen und unverbundenen Programmen erklärt sich durch das Folgende. 
20. Das P0-Netzwerk im Biocomputer enthält Programme, die zu anderen Programmen Verbindungen und Unterbrechungen (Unterbindungen) herstellen und außerdem mit verbundenen und unverbundenen Programmen verkehren. Eigentlich sollte vor den Begriffen«verbunden» und«unverbunden» ein alsob-Präfix stehen, denn in Wirklichkeit sind alle Programme miteinander verbunden. Man kann das Spiel spielen und sagen;«Ich werde jetzt (P0)+n, das nte P0 von allen anderen Programmen abbinden und es isolieren und zulassen, daß es andere programmiert oder von anderen programmiert wird.» Hierfür ist der Begriff der«Repression» bekannt, und wie Freud schon vor Jahren zeigte, macht dieser Akt der Repression, «die Unterbindung», alles andere als unterbinden. Das Programm wird lediglich von uns selbst und der bewußten Anwendung unsererseits abgeschnitten. Trotzdem bleibt es verbunden; es ist weiterhin aktiv, verstärkt, operativ, wie sehr man auch seine Existenz leugnen mag. 


Zitiert aus John C. Lilly, Die Programmierung der inneren Realität (i.R) und Simulationssphäre. P0 als nützlicher Metaglaube und seine Anwendung.
(John C. Lilly, Das Tiefe Selbst, Basel 1983)

Donnerstag, 4. September 2014

Programmierung und Meta-Programmierung des menschlichen Biocomputers (1)

John C. Lilly, Der Scientist
1. Zu erzeugen ist ein Programm P0. All das spielt sich in der Provinz des Geistes ab; wir sprechen von einem Programm das von einem Ich0 erzeugt wird oder mit einem Mal auftritt. 
2. Ist P0 einmal erzeugt, kann es gespeichert werden. P0 kann in Erinnerung gerufen werden. 
3. Ist P0 einmal gespeichert, kann es wiederholt abgerufen werden. Erst wenn es gespeichert ist, kann man es wiederholen. Alles muß ins Gedächtnis zurückkehren und später, wenn es wiederholt werden soll, erneut abgerufen werden. 
4. Wird P0 genügend oft wiederholt, wird es stärker/schwächer. Hier ist die Rede von Verstärkung gegenüber Abschwächung, P0 kann sowohl das eine wie das andere. Mit anderen Worten. Kommt es zur Wiederholung des Programms, kann man es entweder inhibieren oder stimulieren - also verstärken oder abschwächen. 
5. P0 gewinnt an Stärke/Leistungsfähigkeit; es wird anwendbar. Diese feine Unterscheidung wird von vielen nicht gemacht, die über Programmierung reden. Das verinnerlichte Programm in der i.R. muß stark genug sein, um angewendet werden zu können: ist man dazu nicht imstande, kann es umgekehrt passieren, daß man selbst zum Werkzeug eines automatischen Programms wird. Wie gesagt, dies hängt ganz davon ab, wie stark das Programm im Inneren operiert; ob die Stärke eine bestimmte Schwelle überschritten hat. 
6. Wenn die Schwelle zur Anwendbarkeit erreicht ist, kann P0 aktiviert werden. Aktivierung bedeutet nicht, daß das Programm erneut abgespielt wird, sondern daß das Programm in seinen Operationen höchste aktuelle Priorität hat. Ohne weiteres Zutun läuft es nun ganz von alleine ab. Es ist gespeichert und im einzelnen bewußt verfügbar. P0 wird neu belebt; benutzt wird dazu Ich0. 
7. Die Aktivierung von P0 geschieht kraft der inneren oder äußeren Realität. Mit anderen Worten, man kann einen Metaglauben P0 bei sich selbst ins Leben rufen, oder er kann von jemand anderem ausgelöst werden, wobei im letzteren Fall P0 der Anlage nach bereits vorhanden sein muß. Sexuelle Programme sind hier Beispiel genug. Was ist unter einem gespeicherten Programm zu verstehen, und wann ist es anwendbar? Ein gespeichertes Programm befindet sich in einem latenten Zustand; es ist nicht entwickelt, aber die Vorlage ist da. Latente Programmvorlagen lassen sich mit einem unbeliebteren Film in einer Kamera vergleichen. Man löst den Verschluß ans, und der Film wird mit einem Bild belichtet. Das Bild aber wild erst sichtbar, wenn man den Film in einer Dunkelkammer entwickelt. Ähnlich verläuft der Prozeß bei der Aktivierung eines Programms. Das Programm ist in einer latenten Form gespeichert; man muß es herausnehmen und so verstärken, bis es manifest wird und seine Operation beginnt. Es ist eher so, als würde man bei einem Film starr Einzelphotos entwickeln und Musik, Gefühle und Handlungen zumischen. Das eigene Fühlen, Handeln, Denken usw. kann von diesen Programmen gesteuert werden. Die Entwicklung eines Programms ist nicht wie die Entwicklung eines Films oder Photos auf visuell Vorgegebenes beschränkt. Wenn ich bei mir Programme entdecke, die ich nicht anwenden kann, sind es meiner Erfahrung nach entweder solche, die ich nicht aktivieren kann, zu denen ich also keinen Schlüssel habe, um sie anzuschalten. obwohl sie manchmal ohne mein eigenes Zutun ablaufen, oder solche, die kurzweilig da sind, deren Aktivität ich aber nicht aufrechterhalten kann. Wie schwierig dies ist, zeigt sich am folgenden. 
8. P0 ist zum größten Teil unbewußt: um es anzuwenden, reicht es, seinen Namen und seine Speicheradresse aufzurufen. Eigentlich braucht man nur sehr geringe Informationen: es reicht, den Namen des Programms zu kennen. Der Name steht für das Programm, und dies er hat Bedeutung. In einer Hinsicht ist die Bedeutung bereits das Programm. Es wird mit der Bedeutung des Namens aktiviert und angewendet. Zur Aktivierung gehört auch die Adresse; man findet sie, indem man die ganze Assoziationskette durchläuft. In G. Spencer Browns Terminologie ist die Benennung des Programms der Programmaufruf bzw. der Wiederaufruf. Wenn es schon einmal abgerufen wurde. Die erstmalige Speicherung eines Programms ist ein Vorgang, den G. Spencer Braun «Verwendbarmachung» nennt. Die Aktivierung eines Programms nennt er Wiederverwendbarmachung. 

Zitiert aus John C. Lilly, Die Programmierung der inneren Realität (i.R) und Simulationssphäre. P0 als nützlicher Metaglaube und seine Anwendung.
(John C. Lilly, Das Tiefe Selbst, Basel 1983)

http://en.wikipedia.org/wiki/John_C._Lilly

Donnerstag, 28. August 2014

Es war einmal (Klaus Wowereit)

Tom of Finland, LIFE & WORK OF A GAY HERO

Früher konnte der Mann nichts falsch machen, inzwischen macht er nichts mehr richtig. Das Phänomen Klaus Wowereit hat sich überlebt.
Wer kennt ihn nicht: den Film Cabaret mit Liza Minnelli in der Hauptrolle? Die Verfilmung des Isherwood-Romans Goodbye to Berlin im Jahr 1972 war die wohl erfolgreichste Imagekampagne für das Berlin der Nachkriegszeit. Der Film erzählte vom Umbruch der „wilden Zwanziger“ Berlins in die düsteren Nazizeiten der dreißiger Jahre: Das moderne Großstadtleben als queer-androgyner Tanz auf dem Vulkan. Fasziniert von Cabaret war auch Popstar David Bowie. Er traf den inzwischen über 70-jährigen Schriftsteller Christopher Isherwood, um ihn nach seiner Zeit in den Berliner 1920er Jahren zu fragen. Berlin müsse doch damals eine total verrückte, freizügige Stadt gewesen sein? Doch Isherwood antwortete trocken, die Menschen würden halt dabei immer vergessen, dass er ein guter Schriftsteller sei.
Mit David Bowie und Iggy Pop zogen 1976 zum ersten Mal Weltstars auf die muffig-marode Insel West-Berlin. Es ist kein Zufall, dass nach David Bowies Einzug in eine Wohnung in der Hauptstraße 155 nur ein Jahr später, am 1. April 1977, zwei Hausnummern weiter das Café „Anderes Ufer“ eröffnete – das erste selbstbewusst schwul-lesbische Café Deutschlands ohne Einlasskontrolle und Sichtschutz. Dass die großformatige neo-expressionistische „Wilde Malerei“ aus Berlin wenige Jahre darauf folgte und zum weltweiten Exporthit wurde, wen wundert’s? So bunt und wild wie auf den Bildern von Salomé, Rainer Fetting, Elvira Bach und Helmut Middendorf sah die Wirklichkeit Westberlins allerdings nicht aus. Ganz im Gegenteil, stellte der kanadische Multimediakünstler und DAAD-Stipendiat Michael Morris bei seiner Ankunft 1980 ernüchtert fest: „Westberlin war grau, trüb, depressiv und im Winter war die Luft gefüllt vom Rauch der Kohleöfen.“
Die Frontstadt des Kalten Krieges war kein guter Ort für schnelle Karrieren, weder in der Kunst, noch im Journalismus, in Wirtschaft oder Management. Solche Karrieren waren eher möglich in Stuttgart, München, Hamburg, Köln oder Düsseldorf. Statt der erhofften Normalos strömten Menschen in die Halbstadt, die der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) nach den Kreuzberger Unruhen vom 1. Mai 1987 als „Antiberliner“ bezeichnete, die Mitglieder aller möglichen Subkulturen. Es gab also auf der einen Seite eine Szene, die das Westberliner Image stark prägte, und auf der anderen einen Regierenden Bürgermeister, der eher den Traum der Wilmersdorfer Witwen, Schrebergärtner und Kalten Krieger verkörperte. Seine Amtsperiode währte von 1984 bis 1989, wurde nur für wenige Monate von Walter Mompers rot-grünem Senat unterbrochen und quälte sich dann noch mithilfe der SPD bis 2001.
Der SPD gelang es wie durch ein Wunder, nahezu unbeschadet aus der Koalition auszusteigen: Denn wie aus dem Nichts tauchte 2001 ein gewisser Klaus Wowereit auf. Er vereinte Diepgens Schwiegersohn-Image mit dem der einstigen Antiberliner. Sein Satz „Ich bin schwul – und das ist auch gut so!“ war weit mehr als ein persönliches Bekenntnis. Es traf auch ein Lebensgefühl Berlins und klang wie ein schnoddriges: „Na und?“
Mit seiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister ging ein Aufatmen durch die Stadt. Die Versuche der Medien, ihm das Image des vergnügungssüchtigen Regierenden Partymeisters zu verpassen, waren mäßig erfolgreich. Selbst als Wowereit Sekt aus einem roten Stiletto der Kabarettistin Désireé Nick schlürfte, wirkte die Empörung der Boulevardpresse über den dekadenten Partylöwen konstruiert – schließlich illustriert die BZ ihre Sexannoncen selbst mit einem knallroten Stiletto. Ein weiterer Versuch, eine Kampagne aus dem homophoben Arsenal zu inszenieren, verpuffte wirkungslos: Der Regierende Bürgermeister hatte für das jährlich in Berlin stattfindende internationale Fetisch- und Ledertreffen „Folsom“ ein Grußwort geschrieben. Bild und BZ druckten Fotos von halbnackten Männern in Uniformen, mit Hundehalsband und in Fetischkleidung. Versehen mit Überschriften wie „Alles schon ganz normal in Berlin? Tag der offenen Hose in Schöneberg“ sollte der Skandal richtig in Fahrt kommen. Wowereit konterte den Versuch, ihn mit homophoben Klassikern zu beschädigen, äußerst souverän: Anfangs sei er sich gar nicht so sicher gewesen, ob er überhaupt ein Grußwort für das Folsom schreiben solle. Nach dieser Kampagne aber sei er überzeugt, dass es sogar dringend notwendig sei.
Wer die im April 2014 vorgestellten Briefmarken der finnischen Post mit den Motiven der schwulen Ledermänner von Pornozeichner Tom of Finland gesehen hat, wird sich wohl vorstellen können, dass Kinder mittlerweile wieder mehr Angst vor dem Weihnachtsmann haben als vor einem schwulen Ledermann. Auch die versprochene Entzauberung der PDS, der Linkspartei, mit der der Regierende Bürgermeister 2002 eine Koalition einging, geht auf Wowereits Konto. Nachdem der rot-rote Senat 75.000 senatseigene Wohnungen der GSW an Heuschrecken verscherbelte, musste wirklich niemand mehr Angst vor dem Kommunismus haben – nicht einmal Immobilienhaie. Die Folge: Gigantische Mietsteigerungen bis heute ohne Aussicht auf ein Ende. Sexy war Berlin da schon – nun wurden die Berliner arm.
Das Image der queeren Stadt als liberale Utopie traf sacht auf eine politische Praxis der Ausschlüsse. Während die Linkspartei in der Folge die Hälfte ihrer Berliner Wählerschaft verlor, gelang es Wowereit 2011 erneut, die Berliner Wahl zu gewinnen. Statt mit den Grünen koalierte er überraschend mit der nun frisch regenerierten CDU. Für die Wahlkampagne ließ sich der altgediente Regierungschef von Kindern mit einem Stoffkrokodil in die Nase beißen – ein geniales Wahlplakat! Motto: Sich selbst nicht so wichtig nehmen, menschlich sein, sich verletzlich zeigen. Die Werbekampagne wirkte, er traf damit noch einmal das Lebensgefühl der Stadt.
Mit dem Desaster um den neuen Großflughafen hat das Image von Klaus Wowereit erstmals ernsten Schaden genommen. Was früher angenehm schnoddrig und schlagfertig klang, wirkt nun plötzlich arrogant, ruppig und unangemessen. Wowereits zweites populäres Bonmot „Berlin ist arm, aber sexy“ tönt angesichts der zunehmenden Zahl von Zwangsräumungen als Folge der rasanten Mietsteigerungen, der vielen Bettler, Obdachlosen und Flaschensammler auf den Straßen inzwischen eher zynisch als witzig. Plötzlich erinnert man sich auch wieder daran, dass der rechtspopulistische Bücherschreiber Thilo Sarrazin viele Jahre Finanzsenator unter Wowereit war, mit seinen dubiosen S-Bahn-Wettgeschäften über 150 Millionen Euro an Steuergeldern verzockte und zugleich in seinem Urlaub im Selbstexperiment den Hartz-IV-Ernährungssatz testete und für mehr als ausreichend in Talkshows präsentierte, inklusive Billigschrippen und Kartoffelsalat für 3,76 Euro am Tag.
Wowereits Image ist beim Gegenteil dessen angelangt, wofür es einst stand: ideenlos, verbraucht und verfilzt. Zum Volksentscheid über die Bebauung des einstigen Flughafengeländes Tempelhof, der zeitgleich mit der Europawahl am 25. Mai stattfindet, versuchen die Grünen nun, mit Wowereits Negativ-Image ihr eigenes aufzubessern, ohne dabei politische Konzepte oder „Armutspolitik“ zu thematisieren.
Zu sehen ist auf dem Plakat ein Klaus Wowereit in blauem Anzug und Blümchenkrawatte, wie er sich abgewerkelt und zugleich bräsig im Regierungssessel fläzt: mühsam nach hinten gestrichene Haarsträhnen, Mundwinkel gleiten abwärts, Arme abgestützt, die Hände baumeln schlaff herunter. Dazu die Frage: „Würden Sie diesem Mann noch einen Flughafen anvertrauen?“ So wird der Körper des Regierenden heute zur Gegenfigur der schönen neuen Welt, welche die Grünen auf ihren Plakaten zur Europawahl präsentieren. Als da wären: zwei bildhübsche Frauen aus Kroatien mit Heiratswunsch, eine verführerisch schöne Frau Typus „Orientalin“, als Flüchtling und Europäerin. Sowie eine nette ältere Frau aus Ungarn, die für Toleranz wirbt und selbstverständlich eine Kittelschürze trägt – gegen diese schöne neue Welt steht ein abgetakelter Wowereit. Bildbotschaft: „Ein alter Mann macht schlapp.“ Oder andersherum gefragt: Sieht ein tatkräftiger Volker Bouffier als Regierungschef im schwarz-grünen Hessen gegen einen solchen Klaus Wowereit nicht einfach fantastisch aus? Macht macht eben sexy.

Wolfgang Müller

Samstag, 23. August 2014

Wo bist du zuhause?

Foto: © Hans Erixon

Wo bist du zuhause? 

Schreibe auf eine Ansichtskarte, dass die Aussicht entzückend ist, es erfreut 
vielleicht jemanden. 

Dass der Herbst hoch ist und klar wie der Anblick von Quellwasser. 

Erwähne, dass die Schafstelze nach Süden über den Hofplatz davon rannte

Rufe, dass alles wie früher ist; dass Nesseln, Mädesüss, 
Himbeerdickicht, Wald-Engelwurz... 

Schreibe, dass der Tod hier rein zufällig zuhause ist. 

Wenn du einkehren willst, musst du still sein. 

Du wirst gesehen, wenn nötig. 

Schreibe, bitte sehr. 

Nur keine Bange.


Bengt Emil Johnson


(Übersetzt aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler)

Die Edition Zuhause von Bengt Emil Johnson, übersetzt von Lukas Dettwiler - mit Fotos von Hans Erixon und einer Originalarbeit von Hartmut Geerken erscheint demnächst im Hybriden-Verlag)

Sonntag, 10. August 2014

Carlos Castaneda

H.A., Der Freizeit-Schamane (erscheint Herbst /Winter 2014)

Als junger Mann saß mir auf einer Bahnfahrt nach Kassel ein junger Mann gegenüber. Der kam aus Bolivien und sagte, dass er immer ein Messer bereit hält, dass er in seinen Stiefeln verstecken würde. Dann meinte er unvermittelt zu mir, ich würde ihn an Carlos Castaneda erinnern. Er gab vor ihn zu kennen. Vermutlich ein Spinner. 

Das war Ende der 1970er Jahre. Jeder, den ich kannte, kannte die Bücher von Castaneda. Don Juan Matus, der toltekische Schamane, wurde legendär. Die Welt, in die man beim Lesen eintauchte, war fremdartig, phantastisch, eine andere Wirklichkeit neben den konstruierten konventionellen Wirklichkeiten. 

In diesen ersten Büchern versuchte sich Castaneda als seriösen Anthropologen und Ethnologen vorzustellen, der Feldforschung in der Wüste von Sonora und anderswo betrieb. Für sein Buch „Die Reise nach Ixtlan“ bekam er sogar einen Doktortitel.

Spätestens hier wurde die Öffentlichkeit misstrauisch, was ein wenig merkwürdig erscheint, da schon für fragwürdigere Arbeiten Doktortitel vergeben wurden. Waren diese Berichte authentisch? Existierte Juan Matus oder Genaro Flores wirklich? Gibt es überhaupt einen Peyotl-Kult bei den Yaquis? Und es mehrten sich die Stimmen, die Castaneda als Betrüger und Scharlatan entlarven wollten. Man hatte dafür den Begriff des New-Age-Gurus. Castaneda war nicht mehr seriöse Wissenschaft sondern Esoterik.

Seriöse Wissenschaft und Esoterik, die sich seriös gibt – beide Bereiche können einem ziemlich auf die Nerven gehen. Was heute empirisch bewiesen erscheint, kann in 50 Jahren schon völliger Unsinn sein. Die Wissenschaftsgeschichte ist voller Beispiele. Andererseits versucht sich die Esoterik seriös zu geben, was oftmals ziemlich peinlich ist. 

Und Castaneda hat natürlich Nacheiferer. In dem Internetforen tauschen sich Adler-Wolfgang und Nagual-Wilfried mit einem Hobby-Gehirnforscher über den Sitz des Montagepunkts aus. 

Und? Entsprechen die Berichte von Carlos Castaneda über Juan Matus, anorganische Wesen, leuchtende Eier, Mescalito und den Fliegerwesen, denen die Menschen als Nahrung dienen nun der Wahrheit? Das ist eigentlich gar nicht wichtig. Castaneda ist ein Bestseller-Autor und seine Bücher sind in erster Linie einfach gut geschrieben. Wenn seine Berichte wahr sind, so sind sie hervorragende Dokumentationen. Entsprechen sie seiner eigenen Suggestion, sind sie einfach genial. 

Man weiß nicht so recht und die Fragen bleiben ungeklärt. 1998 starb der Autor an Leberkrebs und seine Mibewohnerinnen verschwanden daraufhin spurlos. In der Wüste von Nevada fand man nach Jahren ein menschliches Skelett, das man seiner Adoptivtochter zuordnen konnte. 

Der Mythos Castaneda begann in der Wüste und endete in der Wüste. Eigentlich ein Stoff für Hollywood. Ein filmischer Castaneda-Zyklus könnte in der Liga von "Harry Potter" oder dem "Herrn der Ringe" spielen. Aber niemand scheint sich da wirklich heranzutrauen. Dafür ist Castaneda dann doch zu speziell. 

BBC-Dokumentation: 
https://www.youtube.com/watch?v=hlI2gvSjJ4Q