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Samstag, 13. September 2014

Programmierung und Meta-Programmierung des menschlichen Biocomputers (3)


21. Ein verbundenes/unverbundenes P0 kann bewußt werden. Das heißt, getrennt von Aktivierungsprozeß. Eine Aktivierung impliziert nicht unbedingt, daß Bewußtsein vorhanden ist. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Bewußtsein und Aktivierung sind zwei getrennte Parameter. Mit anderen Worten, Programme können aktiviert werden und laufen, ohne daß man sich dessen bewußt ist. Und das ist auch gut so, denn sonst müßten wir tatsächlich jeden Schritt den wir in einem x-beliebigen P0 unternehmen. 
22. Ein bewußtgewordenes P0 kann unbewußt werden und verbunden/unverbunden bleiben. Siehe hierzu Punkt 23. 23. Verbinden/Unterbinden, verbunden/unverbunden, Identifikation/Disidentifikation (Gleichmachung/Ungleichmachung), bewußt/unbewußt, kontrollieren/kontrolliert werden, schaffen/zerstören usw. sind Variable, Parameter, die für sich genommen unabhängig, voneinander frei/neben- bzw. untergeordnet sind. Dieser hängt vom Verhältnis ab, das es zu einem selbst und zu jedem anderen P0 hat. 
24. Wird P0 gespeichert, wenn es negativ verstärkt worden ist, wirkt es in seinem Bereich (oder anders ausgedrückt, in seiner Einflußzone) so «als ob es fürs Überleben wichtig sei.» Diese Behauptung stammt direkt aus der Kindheit. 
Wenn man noch ein kleines Kind ist, steckt man den Finger in die Kerzenflamme, schreit vor Schmerz und hat von diesem Moment an bei allem, was man aus dieser Erfahrung selektiert, negative Verstärkung. Man kann im allgemeinen nehmen, was man will - Kerzen, Flammen, Hitze, Licht, die Anwesenden usw.; von da an mißt der kleine Biocomputer, was das Überleben betrifft, einem Teilbereich dieses Programms eine besondere Bedeutung zu. Als Außenstehender kann man nie sicher sagen, zu welchem Programm es gekommen ist, weil das Kind nicht mitteilen kann; man kann es nur aus seinem späteren Verhalten ableiten. 
25. Wird P0 gespeichert, wenn er positiv verstärkt worden ist, wird es in seinem Bereich für alles Lustbetonte/Vergnügliche/Spaßvolle unabdingbar. Am klarsten sieht man das am Phänomen des Sichverliebens: man bekommt von einer anderen Person eine positive Verstärkung, und eventuell wird man, was die sexuelle Befriedigung angeht, ganz von diesem Menschen abhängig, auch wenn das nicht ein sehr phantasievolles Resultat ist. Möglicherweise trifft das Gleiche auch auf die Zeit nach dem ersten Acid-Trip zu, Es wir grandios, und damit ist alles positiv verstärkt worden - man sagt folglich von diesem Moment an, Acid sei eine tolle Sache, ein Sakrament, und du ziehst damit los und versuchst das zu verbreiten und die Idee rüberzukriegen. Es ist der Vertrag mit der Chemie, der einem eine Menge positiver Verstärkung beschert hat, und von dem man möglicherweise nicht mehr wegkommt (da er notwendig ist, um in diesem Gebiet Vergnügen zu erlangen). 
26. P0 kann, wenn es neutral verstärkt worden ist, für die Integration in seinen Einflußsphären wichtig werden. 
27. Hochverstärkte Programme haben die Tendenz zu wiederholter Aktivierung und Anwendung. Wenn man die Unschuld verloren hat, will man weiterhin sexuellen Verkehr haben oder masturbieren oder was auch immer. Diese Programme sind hoch verstärkt, weil sie zufällig mit Systemen zusammenpassen, die in der eingebauten Struktur des ZNS äußerst leicht verstärkt werden. 
28. Ein Programm P0 kann ohne weiteres für lokale Zwecke angewendet werden. Der Begriff Programm bekommt hier Gesellschaft. Für die lokale Anwendung kann ein Programm als etwas Dynamisches/Statisches, als Prozeß/Nicht-Prozeß, als das. was man glaubt/nicht glaubt, definiert werden. Glauben und nicht glauben sind programmatischer Natur, und daran denkt man nur selten. Wenn man an okkulte Mächte nicht glaubt, ist man genauso fest programmiert, wie wenn man daran glaubt. Die gegenseitigen Paarungen lassen sich beliebig fortsetzen: denken/nicht denken, fühlen/nicht fühlen, handeln/nicht handeln, etwas Konzipiertres/Nicht-Konzipiertes, Wesenhaftes/Nicht-Wesenhaftes, null/unendlich, jede x-beliebige Zahl einschließlich realer, imaginärer und Hyperzahlen, Funktion/System/Struktur/Form/Substanz, real/nicht real, wahr/nicht wahr, Simulation/Nicht-Simulation, ob/als ob nicht, usw. Allgemein kann man sagen, daß jedes Konzept, jede Idee von Bedeutung, die hierunter fallen kann, ein Programm ist. Jedes P0 kann nach Belieben und persönlichem Ermessen definiert werden. Erst wenn P0 gestartet ist, kann es angewendet werden, Es handelt sich hier um nichts anderes als um einen Satz von Anweisungen, um selbst anfangen zu können. In der Provinz des Geistes ist das nur ein Teil der Instruktionen zur Navigation und Steuerung. 
29. Jedes psychoaktive chemische Mittel kann als P0 agieren. Es ist wichtig, daß wir Unterscheidungen treffen. die manche Leute gewöhnlich vergessen, wenn sie in den Tank gehen. Es kann vorkommen, daß manche Leute sagen:«Dieser Tank ist wirklich eine tolle Sache», weil sie das Buch, Programming and Metaprogramming in the Human Biocomputer, gelesen haben, und schon wird dem Tank ein Programm aufgedrückt.«Ich werde das gleiche im Tank machen wie John Lilly», sagen einige; und nachdem sie eine Stunde im Tank waren, sagen sie:«Es ist überhaupt nichts gewesen.» Warum hat sich nichts getan? Weil sie dachten, der Tank ist ein ä.R.- Agens mit einem eingebauten Programm, das automatisch aktiviert würde, und vergaßen, daß P0 kreiert werden muß, entweder von einem selbst oder von etwas anderem, daß es gespeichert werden muß. Das Versagen liegt darin, daß das Buch nicht gespeichert wurde. Sie dachten, sie hätten es gespeichert. Man muß ein Buch fünfmal lesen, bis man es gespeichert hat. Aber selbst dann hat man es nicht unbedingt intus. Freilich kann man zurückspulen und sich an manches genau erinnern, aber man kann es nicht aktivieren, weil es kein Programm ist. Ebenso verhält es sich, wenn man das Buch fünfmal liest; man kann P0 effizienter machen; man kann es auch entkräften. Zum Beispiel kann man die Teile in einem Buch, die man nicht mag, entkräften und auf diese Weise anfangen, andere mehr zur Wirkung kommen und dadurch den Kontrast immer stärker werden zu lassen. Wenn P0 stärker wird, können Teile davon die Schwelle zur Anwendbarkeit passieren. Viele vergessen dann, daß sie es nicht gespeichert, nicht verstärkt und nicht bis zu der Schwelle alterniert haben. wo es anwendbar ist. Ein Kochbuch sagt einem. wie man alle Bestandteile zusammenstellt und auf bestimmte Art kombiniert, aber nicht, wie es schmecken wird; die Motivation, das Rezept auszuprobieren, wird nicht gegeben. 
30. Ich0 ist mit P0 identisch. Mit anderen Worten, Ich0 ist man selbst und als solches ein Programm, das im Biocomputer generiert wird. Ebenso ist das i.R-Agens als Ich0, ein Programm. Wenn Ich0 nicht irgendein P0 ist, befindet man sich in einem Seinszustand, den Merell-Wolff «objektloses Bewußtseim» genannt hat. Dort gibt es kein P0 mehr. Sehr wichtig sind die physikalischen Programme, die unser Körper ausführt. Man kann jede Art neurophysiologischer Be ispiele für autorhythmische Programme wählen.
Unser Gehen, Laufen, Sitzen, Stehen, Sprechen stellt automatische Programme dar, die von uns aufgerufen werden können. Sie wiederholen sich laufend; sie sind Bandschleifen, die wir zu Metaprogrammen zusammenstellen können. (Ich möchte darauf hinweisen, daß nichts von alledem Bedeutung hat, solange man es nicht gespeichert hat und reaktivieren kann. Aber wenn man das tut, wird man bemerken, daß alles, was hier gesagt wurde, eine tiefe Wirkung auf den gesamten Biocomputer hat. Wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft, gehen von einer Behauptung wie:«P0 kann sich mit P1, P2 oder Pn identifizieren» Wellen aus, «Jedes Programm kann sich mit jedem anderen Programm identifizieren» ist nichtssagend, solange man an sich selbst beobachtet hat, wie es geschieht.) Mit dem Biocomputer hat es viel mehr auf sich. als man sich vorstellen kann. Der bewußte Geist ist nicht fähig, alles außer sich im Bewußtsein zu halten: der Apparat reicht dazu nicht aus. Um effizient operieren zu können, werden 99 Prozent davon unbewußt gemacht; nur was die Aspekte der Selbstprogrammierung, Erfahrung angeht. Wird im Bewußtsein behalten. Die Illusion des freien Willens ist pures weißes Rauschen, das alle möglichen Botschaften enthält: auf lange Sicht gesehen, wählen wir eine fabrizierte Sicherheit inmitten von Unbestimmtheiten.

Zitiert aus John C. Lilly, Die Programmierung der inneren Realität (i.R) und Simulationssphäre. P0 als nützlicher Metaglaube und seine Anwendung.

(John C. Lilly, Das Tiefe Selbst, Basel 1983)

Sonntag, 7. September 2014

Programmierung und Meta-Programmierung des menschlichen Biocomputers (2)


9. P0 kann eine in der inneren Realität wirkende Kraft werden. P0 kann ein Eigenleben führen und sich gegebenenfalls selbst aktivieren. Langsam beginnt man zu glauben, es ist spontan, weil man es nicht selbst aktiviert hat. Es ist einfach aufgetaucht, ohne daß man es beim Namen genannt hat, ohne daß man die Adresse angegeben hat. Das spontane Erscheinen eines Programms bedeutet, daß es oberhalb der Schwelle zur Anwendbarkeit genügend Energie besitzt, um im Bewußtsein wie eine Alsob-außerirdische Entität zu erscheinen. 
10. P0 kann eine in der äußeren Realität wirkende Kraft erzeugen. Künstler kennen das. P0 kann auch ein ä.R.-Agens in jemand anderem erzeugen, wenn es an eine andere Person übertragen, genügend stark aktiviert und zu einem selbst rückgekoppelt wird. 
11. P0 kann ein in der äußeren Realität wirkendes Agens programmieren. Mit anderen Worten, P0 kann Elemente in sich tragen, die es ermöglichen, jemanden für etwas anderes zu programmieren. Eine andere Art ä.R.-Agens als die Kunst ist die menschliche Umwelt im allgemeinen, aber auch die Weit der Tiere, Kinder oder die Wohnungseinrichtung, kurzum alles außerhalb von einem selbst, wo immer man gerade etwas kreiert, das dann auf einen zurückwirkt. Wenn man ein ä.R.- Agens mit programmierenden Kapazitäten besitzt, kann man die Programmierung einem Programm überlassen. 
12. P0 kann alles enthalten, was man denken, fühlen, tun kann. 
13. P0 kann sich mit P1, P2 usw, bis Pn identifizieren. Mit anderen Worten, manche Programme verhalten sich wie ein Chamäleon; offensichtlich nehmen sie andere Namen und Adressen an, als ob sie andere Programme wären. Wenn man P2 nicht genau untersucht, mag man in ihm nicht das altbekannte P0 unter einem Decknamen wiedererkennen. Ein großer Teil der Psychoanalyse beruht darauf. Es geht darum, die Decknamen von P1 und P2 zu entlarven und dahinter das ältere P0 zu erkennen. 
14. P0 kann stärker werden, gleich bleiben oder schwächer werden, und zwar in folgenden Parameterbereichen: der enthaltenen Energie, Leistungsfähigkeit bzw. Stärke, Kraft und Verstärkung. Was unter Verstärkung zu verstehen ist, erklärt sich beim weiteren Lesen von selbst. 
15. Solange ein P0 weder positiv (+) noch negativ (-) noch plus/minus (+/-) noch plus und minus (±), d.h. neutral verstärkt ist, hat es keine Bedeutung. Diese Feststellung ist sehr wichtig. Anders ausgedrückt, in uns gibt es schlummernde Programme. Man hat buchstäblich hunderttausende latenter Programme im Inneren sitzen. Solange keines von ihnen weder positiv noch negativ noch neutral aufgeladen wird, bleibt es inaktiv. Es ist in der Tat sehr schwer, P0 ohne eine Art von Verstärkung zu speichern. Die Tatsache, daß P0 solange bedeutungslos ist, wie es nicht verstärkt wird, ist sehr wichtig; man kann in einem Buch lesen, das ein anderer geschrieben hat, und das Programm kann einem völlig entgehen. Erst wenn man einige Anstrengung hineinlegt und ihm positive oder negative oder neutrale Energie verleiht, wird es einen irgendwohin bringen. Aber solange man das nicht tut, wird es in der äußeren oder inneren Realität als ein äußeres latentes Programm verharren. Will man es als latentes Programm verinnerlichen, muß man die Schränke überwinden, die durch die Verstärkung aufgerichtet wird. Den programmspeichernden Prozessen wohnt eine Impedanz inne. Manche Leute haben eine höhere Schranke als andere. Hierzu gehört auch die uralte Idee der Beeinflußbarkeit. Manche Menschen nehmen jedes Programm an; anders ausgedrückt, sie sind höchst beeinflußbar, was bedeutet, daß sie hoch aufgerichtet oder zutiefst zu Fall gebracht werden können. Ich würde im positiven Sinne sagen, daß diese Leute ein Talent haben, Programme anzunehmen. 
16. Die Position eines P0 auf der Prioritätenliste (die Prioritätenliste ist ein Programm für sich) ist eine Funktion der Verstärkungskapazität hinsichtlich P0. Mit anderen Worten, was man für das Wichtigste hält, ist das, was die meiste Verstärkung bekommen hat. Diese Formulierungen sind, wie man sieht, ziemlich seicht. Ein latentes Programm, das mit sehr viel Energie gespeichert wurde, aber eine niedrige Aktivierungsschwelle hat, ist ein Programm, das in der unbewußten Latenz, mit der es im Ruhestand verharrt, bereits über Energie verfügt, die mit ihm zusammen gespeichert wurde und von dem Augenblick an assoziiert wird. Man muß an sich selbst erfahren, wie die eigenen Prioritäten verteilt sind. Die Prioritätenliste, die man hat, ist nicht etwas, mit dem man sich hinsetzt, um nach Belieben Programme zu konstruieren und zuzuweisen. Man muß sie untersuchen, um ihre Struktur zu erkennen. Gewöhnlich ist der Schreck groß, wenn man die eigentliche Struktur entdeckt. Es stellt sich heraus, daß das, was man immer ganz bewußt für das Wichtigste hielt, gar nicht das Wichtigste ist, sondern etwas ganz anderes diese Stelle einnimmt. Erinnern wir uns wieder an das unter Punkt 13 Gesagte: P0 kann sich mit P1, P2, Pn, usw. identifizieren. Als erstes müssen daher die Namen, die auf der Prioritätenliste stehen, untersucht werden. Sie könnten lediglich Decknamen sein, so daß man es bereits mit mindestens zwei Prioritätsebenen zu tun hat. Eine davon ist die echte, tatsächlich operierende Priorität. Eine außenstehende Person, die objektiv ist und einen gut kennt, kann einem helfen, die Prioritätenliste, so wie sie in der Außenwelt vorkommt, zu lesen, Diese kann man mit der eigenen Prioritätenliste vergleichen, so weit sie einem bewußt ist. In jeder diadischen Beziehung stößt man immer wieder auf Neues. 
17. Jedes P0 kann verstärkt werden: positiv (+), negativ (-), negativ/positiv (-/+) oder positiv/negativ (+/-) und neutral (±). Man kann jedes Programm wichtig machen, indem man es im positiven Sinne überbewertet oder im negativen Sinne schlecht macht oder verunglimpft. Dadurch wird es automatisch wichtig. Eine andere Möglichkeit ist leidenschaftbefreites, objektives Denken im neutralen Sinne. 
18. Jedes Programm P0 kann Kontrolle ausüben/kontrolliert werden. Das bedeutet, daß jedes Programm mit jedem anderen Programm in rückwirkender Beziehung steht. Auf der einen Seite wird es von einer Vielzahl anderer Programme kontrolliert, auf der anderen, also vom Output her gesehen, kontrolliert es andere Programme. 
19. Alle P0 in einem Biocomputer (B.C.) sind Teil des P0- Netzwerkes von P0 in diesem B.C.; sie sind damit verbunden/unverbunden. Der Unterschied zwischen verbundenen und unverbundenen Programmen erklärt sich durch das Folgende. 
20. Das P0-Netzwerk im Biocomputer enthält Programme, die zu anderen Programmen Verbindungen und Unterbrechungen (Unterbindungen) herstellen und außerdem mit verbundenen und unverbundenen Programmen verkehren. Eigentlich sollte vor den Begriffen«verbunden» und«unverbunden» ein alsob-Präfix stehen, denn in Wirklichkeit sind alle Programme miteinander verbunden. Man kann das Spiel spielen und sagen;«Ich werde jetzt (P0)+n, das nte P0 von allen anderen Programmen abbinden und es isolieren und zulassen, daß es andere programmiert oder von anderen programmiert wird.» Hierfür ist der Begriff der«Repression» bekannt, und wie Freud schon vor Jahren zeigte, macht dieser Akt der Repression, «die Unterbindung», alles andere als unterbinden. Das Programm wird lediglich von uns selbst und der bewußten Anwendung unsererseits abgeschnitten. Trotzdem bleibt es verbunden; es ist weiterhin aktiv, verstärkt, operativ, wie sehr man auch seine Existenz leugnen mag. 


Zitiert aus John C. Lilly, Die Programmierung der inneren Realität (i.R) und Simulationssphäre. P0 als nützlicher Metaglaube und seine Anwendung.
(John C. Lilly, Das Tiefe Selbst, Basel 1983)

Donnerstag, 4. September 2014

Programmierung und Meta-Programmierung des menschlichen Biocomputers (1)

John C. Lilly, Der Scientist
1. Zu erzeugen ist ein Programm P0. All das spielt sich in der Provinz des Geistes ab; wir sprechen von einem Programm das von einem Ich0 erzeugt wird oder mit einem Mal auftritt. 
2. Ist P0 einmal erzeugt, kann es gespeichert werden. P0 kann in Erinnerung gerufen werden. 
3. Ist P0 einmal gespeichert, kann es wiederholt abgerufen werden. Erst wenn es gespeichert ist, kann man es wiederholen. Alles muß ins Gedächtnis zurückkehren und später, wenn es wiederholt werden soll, erneut abgerufen werden. 
4. Wird P0 genügend oft wiederholt, wird es stärker/schwächer. Hier ist die Rede von Verstärkung gegenüber Abschwächung, P0 kann sowohl das eine wie das andere. Mit anderen Worten. Kommt es zur Wiederholung des Programms, kann man es entweder inhibieren oder stimulieren - also verstärken oder abschwächen. 
5. P0 gewinnt an Stärke/Leistungsfähigkeit; es wird anwendbar. Diese feine Unterscheidung wird von vielen nicht gemacht, die über Programmierung reden. Das verinnerlichte Programm in der i.R. muß stark genug sein, um angewendet werden zu können: ist man dazu nicht imstande, kann es umgekehrt passieren, daß man selbst zum Werkzeug eines automatischen Programms wird. Wie gesagt, dies hängt ganz davon ab, wie stark das Programm im Inneren operiert; ob die Stärke eine bestimmte Schwelle überschritten hat. 
6. Wenn die Schwelle zur Anwendbarkeit erreicht ist, kann P0 aktiviert werden. Aktivierung bedeutet nicht, daß das Programm erneut abgespielt wird, sondern daß das Programm in seinen Operationen höchste aktuelle Priorität hat. Ohne weiteres Zutun läuft es nun ganz von alleine ab. Es ist gespeichert und im einzelnen bewußt verfügbar. P0 wird neu belebt; benutzt wird dazu Ich0. 
7. Die Aktivierung von P0 geschieht kraft der inneren oder äußeren Realität. Mit anderen Worten, man kann einen Metaglauben P0 bei sich selbst ins Leben rufen, oder er kann von jemand anderem ausgelöst werden, wobei im letzteren Fall P0 der Anlage nach bereits vorhanden sein muß. Sexuelle Programme sind hier Beispiel genug. Was ist unter einem gespeicherten Programm zu verstehen, und wann ist es anwendbar? Ein gespeichertes Programm befindet sich in einem latenten Zustand; es ist nicht entwickelt, aber die Vorlage ist da. Latente Programmvorlagen lassen sich mit einem unbeliebteren Film in einer Kamera vergleichen. Man löst den Verschluß ans, und der Film wird mit einem Bild belichtet. Das Bild aber wild erst sichtbar, wenn man den Film in einer Dunkelkammer entwickelt. Ähnlich verläuft der Prozeß bei der Aktivierung eines Programms. Das Programm ist in einer latenten Form gespeichert; man muß es herausnehmen und so verstärken, bis es manifest wird und seine Operation beginnt. Es ist eher so, als würde man bei einem Film starr Einzelphotos entwickeln und Musik, Gefühle und Handlungen zumischen. Das eigene Fühlen, Handeln, Denken usw. kann von diesen Programmen gesteuert werden. Die Entwicklung eines Programms ist nicht wie die Entwicklung eines Films oder Photos auf visuell Vorgegebenes beschränkt. Wenn ich bei mir Programme entdecke, die ich nicht anwenden kann, sind es meiner Erfahrung nach entweder solche, die ich nicht aktivieren kann, zu denen ich also keinen Schlüssel habe, um sie anzuschalten. obwohl sie manchmal ohne mein eigenes Zutun ablaufen, oder solche, die kurzweilig da sind, deren Aktivität ich aber nicht aufrechterhalten kann. Wie schwierig dies ist, zeigt sich am folgenden. 
8. P0 ist zum größten Teil unbewußt: um es anzuwenden, reicht es, seinen Namen und seine Speicheradresse aufzurufen. Eigentlich braucht man nur sehr geringe Informationen: es reicht, den Namen des Programms zu kennen. Der Name steht für das Programm, und dies er hat Bedeutung. In einer Hinsicht ist die Bedeutung bereits das Programm. Es wird mit der Bedeutung des Namens aktiviert und angewendet. Zur Aktivierung gehört auch die Adresse; man findet sie, indem man die ganze Assoziationskette durchläuft. In G. Spencer Browns Terminologie ist die Benennung des Programms der Programmaufruf bzw. der Wiederaufruf. Wenn es schon einmal abgerufen wurde. Die erstmalige Speicherung eines Programms ist ein Vorgang, den G. Spencer Braun «Verwendbarmachung» nennt. Die Aktivierung eines Programms nennt er Wiederverwendbarmachung. 

Zitiert aus John C. Lilly, Die Programmierung der inneren Realität (i.R) und Simulationssphäre. P0 als nützlicher Metaglaube und seine Anwendung.
(John C. Lilly, Das Tiefe Selbst, Basel 1983)

http://en.wikipedia.org/wiki/John_C._Lilly

Donnerstag, 28. August 2014

Es war einmal (Klaus Wowereit)

Tom of Finland, LIFE & WORK OF A GAY HERO

Früher konnte der Mann nichts falsch machen, inzwischen macht er nichts mehr richtig. Das Phänomen Klaus Wowereit hat sich überlebt.
Wer kennt ihn nicht: den Film Cabaret mit Liza Minnelli in der Hauptrolle? Die Verfilmung des Isherwood-Romans Goodbye to Berlin im Jahr 1972 war die wohl erfolgreichste Imagekampagne für das Berlin der Nachkriegszeit. Der Film erzählte vom Umbruch der „wilden Zwanziger“ Berlins in die düsteren Nazizeiten der dreißiger Jahre: Das moderne Großstadtleben als queer-androgyner Tanz auf dem Vulkan. Fasziniert von Cabaret war auch Popstar David Bowie. Er traf den inzwischen über 70-jährigen Schriftsteller Christopher Isherwood, um ihn nach seiner Zeit in den Berliner 1920er Jahren zu fragen. Berlin müsse doch damals eine total verrückte, freizügige Stadt gewesen sein? Doch Isherwood antwortete trocken, die Menschen würden halt dabei immer vergessen, dass er ein guter Schriftsteller sei.
Mit David Bowie und Iggy Pop zogen 1976 zum ersten Mal Weltstars auf die muffig-marode Insel West-Berlin. Es ist kein Zufall, dass nach David Bowies Einzug in eine Wohnung in der Hauptstraße 155 nur ein Jahr später, am 1. April 1977, zwei Hausnummern weiter das Café „Anderes Ufer“ eröffnete – das erste selbstbewusst schwul-lesbische Café Deutschlands ohne Einlasskontrolle und Sichtschutz. Dass die großformatige neo-expressionistische „Wilde Malerei“ aus Berlin wenige Jahre darauf folgte und zum weltweiten Exporthit wurde, wen wundert’s? So bunt und wild wie auf den Bildern von Salomé, Rainer Fetting, Elvira Bach und Helmut Middendorf sah die Wirklichkeit Westberlins allerdings nicht aus. Ganz im Gegenteil, stellte der kanadische Multimediakünstler und DAAD-Stipendiat Michael Morris bei seiner Ankunft 1980 ernüchtert fest: „Westberlin war grau, trüb, depressiv und im Winter war die Luft gefüllt vom Rauch der Kohleöfen.“
Die Frontstadt des Kalten Krieges war kein guter Ort für schnelle Karrieren, weder in der Kunst, noch im Journalismus, in Wirtschaft oder Management. Solche Karrieren waren eher möglich in Stuttgart, München, Hamburg, Köln oder Düsseldorf. Statt der erhofften Normalos strömten Menschen in die Halbstadt, die der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) nach den Kreuzberger Unruhen vom 1. Mai 1987 als „Antiberliner“ bezeichnete, die Mitglieder aller möglichen Subkulturen. Es gab also auf der einen Seite eine Szene, die das Westberliner Image stark prägte, und auf der anderen einen Regierenden Bürgermeister, der eher den Traum der Wilmersdorfer Witwen, Schrebergärtner und Kalten Krieger verkörperte. Seine Amtsperiode währte von 1984 bis 1989, wurde nur für wenige Monate von Walter Mompers rot-grünem Senat unterbrochen und quälte sich dann noch mithilfe der SPD bis 2001.
Der SPD gelang es wie durch ein Wunder, nahezu unbeschadet aus der Koalition auszusteigen: Denn wie aus dem Nichts tauchte 2001 ein gewisser Klaus Wowereit auf. Er vereinte Diepgens Schwiegersohn-Image mit dem der einstigen Antiberliner. Sein Satz „Ich bin schwul – und das ist auch gut so!“ war weit mehr als ein persönliches Bekenntnis. Es traf auch ein Lebensgefühl Berlins und klang wie ein schnoddriges: „Na und?“
Mit seiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister ging ein Aufatmen durch die Stadt. Die Versuche der Medien, ihm das Image des vergnügungssüchtigen Regierenden Partymeisters zu verpassen, waren mäßig erfolgreich. Selbst als Wowereit Sekt aus einem roten Stiletto der Kabarettistin Désireé Nick schlürfte, wirkte die Empörung der Boulevardpresse über den dekadenten Partylöwen konstruiert – schließlich illustriert die BZ ihre Sexannoncen selbst mit einem knallroten Stiletto. Ein weiterer Versuch, eine Kampagne aus dem homophoben Arsenal zu inszenieren, verpuffte wirkungslos: Der Regierende Bürgermeister hatte für das jährlich in Berlin stattfindende internationale Fetisch- und Ledertreffen „Folsom“ ein Grußwort geschrieben. Bild und BZ druckten Fotos von halbnackten Männern in Uniformen, mit Hundehalsband und in Fetischkleidung. Versehen mit Überschriften wie „Alles schon ganz normal in Berlin? Tag der offenen Hose in Schöneberg“ sollte der Skandal richtig in Fahrt kommen. Wowereit konterte den Versuch, ihn mit homophoben Klassikern zu beschädigen, äußerst souverän: Anfangs sei er sich gar nicht so sicher gewesen, ob er überhaupt ein Grußwort für das Folsom schreiben solle. Nach dieser Kampagne aber sei er überzeugt, dass es sogar dringend notwendig sei.
Wer die im April 2014 vorgestellten Briefmarken der finnischen Post mit den Motiven der schwulen Ledermänner von Pornozeichner Tom of Finland gesehen hat, wird sich wohl vorstellen können, dass Kinder mittlerweile wieder mehr Angst vor dem Weihnachtsmann haben als vor einem schwulen Ledermann. Auch die versprochene Entzauberung der PDS, der Linkspartei, mit der der Regierende Bürgermeister 2002 eine Koalition einging, geht auf Wowereits Konto. Nachdem der rot-rote Senat 75.000 senatseigene Wohnungen der GSW an Heuschrecken verscherbelte, musste wirklich niemand mehr Angst vor dem Kommunismus haben – nicht einmal Immobilienhaie. Die Folge: Gigantische Mietsteigerungen bis heute ohne Aussicht auf ein Ende. Sexy war Berlin da schon – nun wurden die Berliner arm.
Das Image der queeren Stadt als liberale Utopie traf sacht auf eine politische Praxis der Ausschlüsse. Während die Linkspartei in der Folge die Hälfte ihrer Berliner Wählerschaft verlor, gelang es Wowereit 2011 erneut, die Berliner Wahl zu gewinnen. Statt mit den Grünen koalierte er überraschend mit der nun frisch regenerierten CDU. Für die Wahlkampagne ließ sich der altgediente Regierungschef von Kindern mit einem Stoffkrokodil in die Nase beißen – ein geniales Wahlplakat! Motto: Sich selbst nicht so wichtig nehmen, menschlich sein, sich verletzlich zeigen. Die Werbekampagne wirkte, er traf damit noch einmal das Lebensgefühl der Stadt.
Mit dem Desaster um den neuen Großflughafen hat das Image von Klaus Wowereit erstmals ernsten Schaden genommen. Was früher angenehm schnoddrig und schlagfertig klang, wirkt nun plötzlich arrogant, ruppig und unangemessen. Wowereits zweites populäres Bonmot „Berlin ist arm, aber sexy“ tönt angesichts der zunehmenden Zahl von Zwangsräumungen als Folge der rasanten Mietsteigerungen, der vielen Bettler, Obdachlosen und Flaschensammler auf den Straßen inzwischen eher zynisch als witzig. Plötzlich erinnert man sich auch wieder daran, dass der rechtspopulistische Bücherschreiber Thilo Sarrazin viele Jahre Finanzsenator unter Wowereit war, mit seinen dubiosen S-Bahn-Wettgeschäften über 150 Millionen Euro an Steuergeldern verzockte und zugleich in seinem Urlaub im Selbstexperiment den Hartz-IV-Ernährungssatz testete und für mehr als ausreichend in Talkshows präsentierte, inklusive Billigschrippen und Kartoffelsalat für 3,76 Euro am Tag.
Wowereits Image ist beim Gegenteil dessen angelangt, wofür es einst stand: ideenlos, verbraucht und verfilzt. Zum Volksentscheid über die Bebauung des einstigen Flughafengeländes Tempelhof, der zeitgleich mit der Europawahl am 25. Mai stattfindet, versuchen die Grünen nun, mit Wowereits Negativ-Image ihr eigenes aufzubessern, ohne dabei politische Konzepte oder „Armutspolitik“ zu thematisieren.
Zu sehen ist auf dem Plakat ein Klaus Wowereit in blauem Anzug und Blümchenkrawatte, wie er sich abgewerkelt und zugleich bräsig im Regierungssessel fläzt: mühsam nach hinten gestrichene Haarsträhnen, Mundwinkel gleiten abwärts, Arme abgestützt, die Hände baumeln schlaff herunter. Dazu die Frage: „Würden Sie diesem Mann noch einen Flughafen anvertrauen?“ So wird der Körper des Regierenden heute zur Gegenfigur der schönen neuen Welt, welche die Grünen auf ihren Plakaten zur Europawahl präsentieren. Als da wären: zwei bildhübsche Frauen aus Kroatien mit Heiratswunsch, eine verführerisch schöne Frau Typus „Orientalin“, als Flüchtling und Europäerin. Sowie eine nette ältere Frau aus Ungarn, die für Toleranz wirbt und selbstverständlich eine Kittelschürze trägt – gegen diese schöne neue Welt steht ein abgetakelter Wowereit. Bildbotschaft: „Ein alter Mann macht schlapp.“ Oder andersherum gefragt: Sieht ein tatkräftiger Volker Bouffier als Regierungschef im schwarz-grünen Hessen gegen einen solchen Klaus Wowereit nicht einfach fantastisch aus? Macht macht eben sexy.

Wolfgang Müller

Samstag, 23. August 2014

Wo bist du zuhause?

Foto: © Hans Erixon

Wo bist du zuhause? 

Schreibe auf eine Ansichtskarte, dass die Aussicht entzückend ist, es erfreut 
vielleicht jemanden. 

Dass der Herbst hoch ist und klar wie der Anblick von Quellwasser. 

Erwähne, dass die Schafstelze nach Süden über den Hofplatz davon rannte

Rufe, dass alles wie früher ist; dass Nesseln, Mädesüss, 
Himbeerdickicht, Wald-Engelwurz... 

Schreibe, dass der Tod hier rein zufällig zuhause ist. 

Wenn du einkehren willst, musst du still sein. 

Du wirst gesehen, wenn nötig. 

Schreibe, bitte sehr. 

Nur keine Bange.


Bengt Emil Johnson


(Übersetzt aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler)

Die Edition Zuhause von Bengt Emil Johnson, übersetzt von Lukas Dettwiler - mit Fotos von Hans Erixon und einer Originalarbeit von Hartmut Geerken erscheint demnächst im Hybriden-Verlag)

Sonntag, 10. August 2014

Carlos Castaneda

H.A., Der Freizeit-Schamane (erscheint Herbst /Winter 2014)

Als junger Mann saß mir auf einer Bahnfahrt nach Kassel ein junger Mann gegenüber. Der kam aus Bolivien und sagte, dass er immer ein Messer bereit hält, dass er in seinen Stiefeln verstecken würde. Dann meinte er unvermittelt zu mir, ich würde ihn an Carlos Castaneda erinnern. Er gab vor ihn zu kennen. Vermutlich ein Spinner. 

Das war Ende der 1970er Jahre. Jeder, den ich kannte, kannte die Bücher von Castaneda. Don Juan Matus, der toltekische Schamane, wurde legendär. Die Welt, in die man beim Lesen eintauchte, war fremdartig, phantastisch, eine andere Wirklichkeit neben den konstruierten konventionellen Wirklichkeiten. 

In diesen ersten Büchern versuchte sich Castaneda als seriösen Anthropologen und Ethnologen vorzustellen, der Feldforschung in der Wüste von Sonora und anderswo betrieb. Für sein Buch „Die Reise nach Ixtlan“ bekam er sogar einen Doktortitel.

Spätestens hier wurde die Öffentlichkeit misstrauisch, was ein wenig merkwürdig erscheint, da schon für fragwürdigere Arbeiten Doktortitel vergeben wurden. Waren diese Berichte authentisch? Existierte Juan Matus oder Genaro Flores wirklich? Gibt es überhaupt einen Peyotl-Kult bei den Yaquis? Und es mehrten sich die Stimmen, die Castaneda als Betrüger und Scharlatan entlarven wollten. Man hatte dafür den Begriff des New-Age-Gurus. Castaneda war nicht mehr seriöse Wissenschaft sondern Esoterik.

Seriöse Wissenschaft und Esoterik, die sich seriös gibt – beide Bereiche können einem ziemlich auf die Nerven gehen. Was heute empirisch bewiesen erscheint, kann in 50 Jahren schon völliger Unsinn sein. Die Wissenschaftsgeschichte ist voller Beispiele. Andererseits versucht sich die Esoterik seriös zu geben, was oftmals ziemlich peinlich ist. 

Und Castaneda hat natürlich Nacheiferer. In dem Internetforen tauschen sich Adler-Wolfgang und Nagual-Wilfried mit einem Hobby-Gehirnforscher über den Sitz des Montagepunkts aus. 

Und? Entsprechen die Berichte von Carlos Castaneda über Juan Matus, anorganische Wesen, leuchtende Eier, Mescalito und den Fliegerwesen, denen die Menschen als Nahrung dienen nun der Wahrheit? Das ist eigentlich gar nicht wichtig. Castaneda ist ein Bestseller-Autor und seine Bücher sind in erster Linie einfach gut geschrieben. Wenn seine Berichte wahr sind, so sind sie hervorragende Dokumentationen. Entsprechen sie seiner eigenen Suggestion, sind sie einfach genial. 

Man weiß nicht so recht und die Fragen bleiben ungeklärt. 1998 starb der Autor an Leberkrebs und seine Mibewohnerinnen verschwanden daraufhin spurlos. In der Wüste von Nevada fand man nach Jahren ein menschliches Skelett, das man seiner Adoptivtochter zuordnen konnte. 

Der Mythos Castaneda begann in der Wüste und endete in der Wüste. Eigentlich ein Stoff für Hollywood. Ein filmischer Castaneda-Zyklus könnte in der Liga von "Harry Potter" oder dem "Herrn der Ringe" spielen. Aber niemand scheint sich da wirklich heranzutrauen. Dafür ist Castaneda dann doch zu speziell. 

BBC-Dokumentation: 
https://www.youtube.com/watch?v=hlI2gvSjJ4Q

Samstag, 26. Juli 2014

Best Western Hanse Kogge


Eine Bahnfahrt, völlig überfüllt mit Radfahrern und Kinderwagen von Berlin Südkreuz nach Züssow und von Züssow zur Insel Usedom; ein elektronisches Buch während der Bahnfahrt: John Lilly - Im Zentrum des Zyklons - mit Gurdjiewschen Schwingungszahlen; eine Hotel-Juniorchefin, vermutlich blondiert, überparfümiert mit etwa 5 cm langen angklebten Fingernägeln; eine Deutschlandfahne am Best Western Hotel Hanse Kogge, unsere Unterkunft; ein Appartement mit Blick auf Bahntrasse, Straße und Wellnessbereich "Bernstein Spa"; ungezählte Rollstühle und Rollatoren, die während des Frühstücksbüffets als Transportmittel dienen (Mortadella-Teller und halbierte Eier); der Chef des Hauses "Wald und Meer" einsam und Kreutzworträtsel lösend auf der Terrasse vor der Rezeption; ein geschlossener Imbiss rechts vom Hotel "Wald und Meer"; ein kariertes Thor Steinar-Hemd mit Steinar-Aufdruck, getragen von einem untersetzten Mann und in Begleitung einer adipösen Frau, deren fleischigen Schenkel aus den Shorts quellen; eine Adler-Tätowierung auf den Oberschenkeln eines jungen Mädchens; diverse Live-Konzerte nachgespielter Krach-Musik und kruden Mischungen: Udo Jürgens, Neil Young, Bob Dylan und Helene Fischer; diverse Undercut-Frisuren, die Seiten rasiert und oben Haupthaar oder wie bei der Chefin eines "mediterranen" Restaurants, eine Seite kahl, die andere rosa gefärbt und gelockt; eine Fahrradfahrt nach Zinnowitz. Geschäft mit "Marco Polo" - Klamotten und "Better rich", nicht besonders und völlig überteuert; diverse Nachmittage im Strandkorb Nr. 5 mit Blick auf die junge Familie Flodder (junger Vater mit "Lutscher"-Aufrduck zu seinem Kind: "Wenn du nicht gleich ruhig bist, stecke ich dich ins Bett"); diverse Reglementierungen im Hotel Hanse Kogge: es wird darum gebeten, nichts vom Frühstück-Buffet mitzunehmen. Das Hotel stellt (vermutlich kostenpflichtige) Lunch-Pakete bereit; die Wellnessabteilung darf nur mit Badelatschen betreten werden (Bademäntel kosten einmalig 5 Euro); ein Hinweisschild an der Tür zu den therapeutischen Anwendungen: "Diese Abteilung darf nur in Begleitung eines Therapeuten betreten werden"; weitere Adipositas-Studien am Strand - Bikinis mit Fettwülsten und tätowierten Innenschenkel-Ornamenten, Glatzköpfe mit grauen Ziegenbärten und Totenköpfen an den Gewichtheber-Oberarmen, ältere Herren mit dünnen Gesichtern und Blähbäuchen (Lübzer Pils hat diese Körper gebildet); Ostsee-Schwimmen von Buhne zu Buhne - 10 Bahnen = 1 Stunde); Hafenfest am Achterwasser mit normaler Schlagermusik, Rollstullfahrern und Heringsbrötchen; keine Kaiserbäder und keine weiteren Bernsteinbäder; kein Besuch in Peenemünde und in Trassenheide, der Hauptstadt der Schmetterlinge; ein guter Nachruf zu unserem verstorbenen Freund Garrelt Weerts von Tajana Wulf  im Berliner Tagesspiegel unter der Ùberschrift "Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar am liebsten. Ein Besucher, der über den Flur in das breite Berliner Zimmer tritt, weiter in das helle Balkonzimmer, über die Brüstung die Bundesallee entlangschaut und sich dann für einen Moment entschuldigen muss, ist verblüfft: Das Gästebad fällt nahezu kümmerlich aus. Man zwängt sich hinein, schließt die Tür – und steht vor der ganzen Welt.  In der Karte an der Wand, über alle Kontinente verteilt, stecken Nadeln mit roten, gelben, grünen und blauen Köpfen. Eine Stecknadelreihe zieht sich von Berlin über Moskau und Jekaterinburg bis nach Peking.  Die meisten Menschen sprechen nur darüber, das müsste man einmal machen, mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren. Garrelt und Hartmut stiegen tatsächlich in den Zug, mieteten ein Abteil mit Dusche, aus der das Wasser nur tropfenweise drang, fuhren durch Birkenwälder, den Ural, die mongolische Wüste, schliefen ein mit dem rhythmischen Rattern der Schienenstöße und wachten mit ihm wieder auf.  Sie nahmen auch andere Züge, den luxuriösen Blue Train durch Südafrika, den Ghan in Australien. Sie flogen nach Afrika und Mittelamerika. Sie durchquerten Europa. Länger als zwei Wochen aber waren sie erst unterwegs, nachdem Garrelt seine Hausarztpraxis aufgegeben hatte.  „Die Arbeit war für ihn das Wichtigste“, sagt Hartmut, „erst kam der Beruf, dann kam der Beruf.“ Er macht eine Pause. „Dann kam das Private. Ich musste lernen, damit umzugehen.“  Hartmut plante die Reisen. Die Urlaubszeit war knapp, 14 Tage im Jahr mussten reichen, länger sollten Garrelts Patienten nicht warten.  Er war geduldig mit den Kranken – umgekehrt konnte man das nicht immer behaupten. Er hörte ihnen zu, auch mitten in der Nacht, am Telefon, sagte nie: „Nun beruhigen sie sich mal, ich komme morgen früh“, sondern machte sich sofort auf den Weg. Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar die liebsten, auch später, nachdem er die Praxis abgegeben und die Beratung bei der Telefonseelsorge begonnen hatte. Besonders mochte er den Sommer, wenn die Sonne am Abend, wenn er losging, noch nicht untergegangen, und wenn er wieder nach Hause kam, schon wieder aufgegangen war. Er lief dann durch die Straßen, ganz allein, atmete die klare, unverbrauchte Luft.  So hatte er es früher schon getan, auf einem Bauernhof in der Nähe der Nordsee, wo er aufgewachsen war. Das platte Land, die Kühe, die Moore und Dünen, das war schön, doch fehlte eine höhere Schule. Niemand aus dem Dorf hatte bisher ein Gymnasium besucht, niemand sonst war je zur Universität gegangen. Garrelt immatrikulierte sich in Marburg und schloss sein Medizinstudium in Kiel ab. Aber nie gehörte er zu jenen Ärzten, die sich mit prätentiöser Miene als Halbgötter aufspielen. Als er selbst Hilfe brauchte, ein Kollege ihn mit den Worten: „Guten Tag, Herr Doktor“ begrüßte, winkte er ab: „Lassen sie den Doktor mal weg.“  1965 entschied er sich, in die Stadt zu gehen, in der die Leute nicht gleich hysterisch wurden, wenn ein Mann mit einem anderen zusammenwohnte. Er arbeitete als Assistenzarzt im Spandauer Krankenhaus, übernahm Notfalldienste und die Vertretung in der Praxis, die er später führte.  Dass es in der Heilkunst um mehr geht als um Erkältungen und verdorbene Mägen, dass Rücken schmerzen und Herzen stolpern, weil es der Seele schlecht geht, war Garrelt früh schon klar. In der Zeit, die ihm blieb, viel Schlaf brauchte er nie, hörte er Vorlesungen in Psychologie. Meist waren alle Pulte besetzt, oft musste er stehen. So ergab sich hin und wieder im Gedränge ein Gespräch mit einem jungen Mann, der ihn eines Nachmittags zum Wannsee einlud, ein Kommilitone habe dort sein Segelboot.   Mehr als 40 Jahre riss das Gespräch nicht ab, die beiden lebten und reisten zusammen bis zu dem Tag im Jahr 2002, an dem sich alles änderte, Garrelt nach Hause kam und zu Hartmut sagte: „Ich bin an Kamptokormie erkrankt.“   So heißt eine Variante der Parkinsonkrankheit, bei der sich der Rumpf tief nach vorn beugt. Man kann kaum stehen, gehen oder aufrecht sitzen, die Behandlung ist kompliziert. Garrelt ertrug die Schmerzen ohne Klage, ohne Missmut. Hartmut war für ihn da, all die Zeit.  Eine Stecknadelreihe auf der Weltkarte im Gästebad zieht sich von Miami über die Karibik und den Panamakanal bis nach San Diego. Die letzte gemeinsame Reise über das Meer." - ; weitere Beschallungen mit "Atemlos" und "Heart of Gold" (Gast: "Es ist aber ziemlich laut hier. Eigentlich habe ich auf Usedom Ruhe gesucht:" - Hotelangestellter: "Das ist hier im Sommer so. Was soll ich denn erst sagen. Ich muss bei dem Lärm auch noch arbeiten"); einige Fotos vom Inventar des muffigen Aufenthaltsraums im Hotel Best Western Hanse-Kogge mit der Freizeit-Bibliothek ("Die Nebel von Avalon") und ein Hinweisschild an der hoteleigenen Schuhputzmaschine "bei Benutzung der Schuhputzmaschine übernehmen wir keine Haftung für eventuell entstehende Schäden an ihren Schuhen"). 

Sonntag, 13. Juli 2014

Bauruinen in Brasil (ab dem 14. Juli 2014)


Brasilien weint? Seit letztem Dienstag, als die Fußball-Nationalmannschaft in einem WM-Halbfinalspiel 1:7 verlor? „Ich wollte dem Volk doch nur Freude bereiten und muss mich für die Leistung entschuldigen“, sagte der in Tränen aufgelöste teuerste Abwehrspieler der Welt, David Luiz. Zuvor hatte er beim Absingen der Nationalhymne noch das Trikot Nr. 10 des verletzten Messias Neymar hochgehalten. Welche Hybris angesichts großer Teile des leidenden Volks, deren Heimat durch die Bulldozzer plattgemacht wurde, um dem Bau neuer Stadien für die Weltmeisterschaft zu weichen – und welche Erniedrigung. Vor einem Jahr erklärten sich die Spieler noch mit dem brasilianischen Volk solidarisch. Diese Mannschaft wäre legendär geworden, wenn sie aus diesem Grunde gar nicht erst angetreten wäre – sozusagen den Generalstreik ausgerufen hätte. 


Vielleicht wäre der legendäre kolumbianische Drogenboss Pablo Escobar der bessere FIFA-Präsident gewesen. Zu Lebzeiten hat der zumindest den Müllhalden-Bewohnern in Bogota ein neues Zuhause finanziert.

Mittwoch, 9. Juli 2014

DIE HAND


Unsere Hand heisst Rex. Sie ist gutgebaut, kräftig und von elegantem Profil; je nach Rasse fällt die Eleganz kleiner oder grösser aus, bleibt aber meist am Boden eines Weinglases liegen und setzt sich dort langsam aber sicher, um zu immer mehr Reife zu gelangen, ab.
Viel geschüttelt oder gefackelt wird hier nicht. Unvorteilhaft wäre das Ausbleiben von Vorteilen; unsere Hand Rex hat damit aber keine Schwierigkeiten: je älter sie wird, umso leichter schleicht sich die Gicht in ihre verwelkende Schönheit und Eleganz ein – für den Moment aber lassen wir diesen Aspekt besser beiseite, denn noch ist sie jung, frisch, stark und kräftig, unsere und Matthias Hand, denn sie heisst Rex, ist ein König und voller Grosszügigkeit, Kraft, Eleganz und Schönheit, und noch springt sie jeder anderen, ihr vertrauensvoll entgegengestreckten Hand entgegen: mit wedelnden Ellenbogen, freundlich und immer aufs Ganze gehend.
Jede Hand ist verschieden, jeder König ist anders, es gibt kleine, dicke, dünne, lange oder kurze. Eines aber ist allen gemeinsam: sie wissen was sie wollen, immer haben sie ihr Ziel vor Augen. Das Fassen oder besser das Zufassen. Mäuse fassen und fangen ist schwer für eine Hand, zwei Hände sind da schon besser, denn zwei starke, feste und kräftig zupackende Hände braucht der Mensch, sie sind sein bester Freund. Mit ihnen kann er allen Gefahren trotzen, sich gegen jedweden Angreifer, Eindringling, Räuber und dergleichen verteidigen.
Aber Vorsicht! Hier ist Erziehung vonnöten, denn sie brauchen Drill, müssen abgerichtet werden, sie, die Hände eines jeden, damit sie nicht einmal ihm selbst, dem Hand- und Händehalter an die Gurgel springen. Nicht jeder hat eine Hand, auch das muss hier gesagt werden, die meisten Menschen besitzen zwei, zumal ich hier nicht über Füsse und dergleichen spreche – auch sie könnte man als sogenannte “zweite Hände” oder gar “linke Hände” ansehen, da ihnen und dergleichen das Zupacken und Fassen nicht so leicht fällt, dass es auf dem Boden jedweden Weinglases seine reifende Ruhe finden könnte.
Bleiben wir also bei den Händen: eine rechte und eine linke. Oft kommt es vor, dass sie sich bekriegen: jede Hand braucht ihren ganz eigenen Regierungsbezirk, nicht ohne Grund nennen die Menschen sie am liebsten Rex. Jede Hand ist ein Rex, egal, ob es die linke oder die rechte ist, jede Hand ist ein König, der sein Gut verteidigt und Zähne fletschend noch jedem Hirsch oder Kaninchen nachstellt. Die Lust des Jagens, die Jagdlust beider Hände steht seit Jahrtausenden tief eingegraben und aufrecht im Meer der Handinnenflächen, das jeden Moment über seine unzähligen Ufer und Strände brechen oder schlagen kann, denn manchmal jagen sie zweifelhaften Formen nach, die mehr als Gefahr in sich bergen. Die weiblichen und die männlichen Formen, denen sie mit der Zunge liebevoll über andere neue und unbekannte Hände fahren, andere und fremde Könige von unten bis oben abschlecken: speicheltropfend rahmen sie das angebetete Opfer mit all ihrer Liebe und Zuneigung ein, mach einer schon hat eine Hand geküsst, wenn nicht, sogar auf den Mund.
Ohne eigene Hand ist einer machtlos. 
Einer, der etwas zu verteidigen hat – nicht alle haben das - einer, der sein Herrschaftsgebiet erweitern will oder zumindest nicht von anderen eingeschränkt sehen will. Somit versteht es sich von selbst, dass sie gut abgerichtet sein müssen: allerlei Arbeit ist zu verrichten. Dafür fordern sie, unsere Hände, aber auch das, was ihnen zusteht.
Sie wollen gefüttert sein, sie brauchen Ausgang. 
Stadthände, Landhände: ein gutes fettes Hühnchen wird ungern verschmäht, so, dass es vorkommt, dass sogar der Besitzer, der Hand- und Händehalter kurzzeitig auf seine Macht verzichten muss, weil er sie in einem der üblichen Restaurants und Kioske verliert und nicht einmal mehr seiner eigenen Hand nachkommt, da diese längst und ohne viel zu fragen, zugepackt und zugefasst hat, um sich in herrlich saftiges Hühnchenfleisch zu verbeissen. 
Die Hand verstärkt die eigene Macht. Vergrössert das eigene Hoheitsgebiet. Die Wellen und Linien, geborgen in den Handinnenflächen, sagen alles über das Leben der Hände aus. Vor Jahrtausenden darin eingeritzt und vom Lauf der Zeit verformt, spiegeln sie das Schicksal jeden Hand- und Händehalters wieder, sagen ihm voraus, um welche neue Hand er anhalten wird, ja, welche Hände er in der Gesamtheit seines langen oder kurzen Lebens jemals halten wird. Auch die Ringe, die man ihm an die Finger steckt, spielen ihre Rolle. Die Finger, mit der einer seine Hände bedient und sie damit trainiert, verstärken die Kraft des Zuschlagens, Zupackens, können sie bei Gelegenheit aber auch schwächen. Manch einer schon hat einen Kugelschreiber umfasst und Verträge unterschrieben, die er lieber nicht unterschrieben hätte. Aber all dies steht in den Handinnenflächen geschrieben, Wellen und Linien, die das Leben eines jeden nach- sowie vorzeichnen. Auch hängt all dies von der jeweiligen Kraft und dem jeweiligen Willen des betreffenden Hand- und Händehalters selber ab, das soll heissen: die Hand hat viel Macht über ihn, aber nicht alle. 
Die Hand ist das Werkzeug, das den eigenen Willen unterstützt, ungewollte Eindringlinge (in die Hand oder anderswo) abschreckt oder ihnen den Garaus macht. Ja, man muss es hier sagen: schon manch eine Hand hat der anderen die Gurgel umgedreht. Entweder durch zu starkes Zupacken, Beissen, Reissen und das zu hohe Wellenschlagen der Handinnenflächen oder sogar durch böses Blut, das allzugerne schäumt und seinen Schaum durch die im Wind flatternden Fahnen hindurchbläst, dass es nur so bellt und sich am Ende noch mehrere Länder bekriegen. Gründe gibt es immer, immer tritt einer dem andern auf den Schlips. Deshalb auch braucht einer Hände, um den eigenen Schlips zu verteidigen, ja, um ihn zuerst einmal um den eigenen Hals zu binden, gerade so, als sei der Hand- und Händehalter seine eigene Hand selbst. Wer hatte nicht einmal Probleme mit dem Krawatte-Binden? Das Halsband einer jeden Hand, die sich damit den Anschein gibt, sie habe ihre eigenen Hände unter Kontrolle? Das ist Täuschung, auch hier ist Vorsicht geboten.
Hände lieben Sport. Was wäre ein Ball ohne Hände, um ihn zu werfen, zu schlagen oder gar zu fangen? Hände spielen leidenschaftlich gern mit einem Ball, ja, mit mehreren Bällen: wirft man einen Ball hinaus, ins Freie, springen sie lustvoll bellend, umgehend hinterher, fassen ihn mit unglaublicher Fleischeslust bald mit der Faust, bald mit dem Handrücken, um ihn Zähne fletschend und so rasch wie möglich dem Ball- und Händehalter zurückzubringen und unterwürfig vor die Füsse zu legen. Handball, Tennis, Federball: Hände lieben jede Art von Ballspiel. Natürlich muss trainiert werden. Sie müssen beweglich bleiben, schnell wie ein Sturm sein: Reaktionsfähigkeit ist gefragt. Spielt eine Hand mit einem Ball, ist es schön zuzuschauen, weil, zumal darauf dressiert, ihr kaum ein Ball entgeht.
Aber ein und noch einmal ist hier Vorsicht geboten. Man darf es nicht vergessen: Hände werden auch geschlagen. In die Mitte welliger und bergiger Handinnenflächen, auf die Schultern, auf die Pfoten, ein Handschlag besiegelt Verträge, Versprechen, ehrenhafte Worte oder untolerierbares Betragen.
Hände sind ein lieber Begleiter beim Spazierengehen; gern reissen sie den Bäumen Blätter aus und ab vom Wegesrand, gern reissen sie den Wegbegleitern Haut und Haare aus, gern turnen sie auf Baumkronen, so, dass einen Angst und Bewunderung wie vom Baum fallende Blätter befällt. Manchmal büchsen sie auch einfach aus und lassen einen allein auf unsicherem Wiesengrund stehen; allzugern öffnen sie den Hals von Kaninchen oder sonstigem Getier und dergleichen, weshalb man sie freilaufen lassen muss, denn Hände müssen das Gefühl von Freiheit spüren, sonst werden sie duckmäuserisch und sind nicht mehr schön anzusehn. Stolz müssen sie sein, leuchten und strahlen müssen sie, die stolzen Hände, auf die wir so stolz sind, und mit denen wir wie Insekten mit zerbrechlichen Fühlern über noch jedes Blatt Papier fahren, über jeden Geländewagen, der seine sanften Handinnenflächen in die trockene Erde geschickt eingraviert. Unsere geliebten Hände, sie legen leuchtende Gedanken frei, um sie in Natur, Wildnis und Papier mit dem eigenen Blut für die Ewigkeit zu versiegeln. 
Ja, Hände lieben Geschwindigkeit, sie lieben das Ziel, angelegte Ohren, denen sie nachlaufen wenn sie auf der Jagd sind: am liebsten verfolgen sie etwas, ein Kaninchen, einen Straftäter, jedwelches Getier und dergleichen. Man benutzt sie zum Jagen, Bogenschiessen, Hand- und Korbball und sogar als Spürhände, da ihr Geruchssinn besonders ausgeprägt ist: sie wissen, wie Angst riecht, erkennen sie sofort und schon haben sie zugebissen.
Immer kann man sich auf sie verlassen, mit ihnen davonreiten, in wilder Fahrt und mit wehenden Fahnen. Sie lieben es, nützlich zu sein, das macht den besten Freund des Menschen in ihnen aus, auch sind sie in der Lage, sich für ihn zu opfern, für ihn, ihren Hand- und Händehalter, ihren Besitzer, denn sie lieben es, treu und anhänglich zu sein, denn sie hängen an jedwedem Herrn wie ein Gürtel ohne Schloss. 
2 – MATTHIAS
Matthias hatte die Hand voller Wellen und Linien; ein grosses und aufgewühltes Meer, das ihm Angst machte, denn jeden Moment konnte es über ihn, Matthias sowie über seine eigenen Ufer und Strände brechen und schlagen. Matthias Hand war stark, auch hatte er sie unter Kontrolle: sie, seine geliebte Hand Rex hielt ihm die Welt auf schöne und schützende Distanz.
Das war aber nicht selbstverständlich.
Oft sprang, hüpfte und wedelte sie allzu gern in fremder Luft herum, vergass Matthias, ihren Besitzer, Hand- und Händehalter und sah sich plötzlich und ungewollt einer fremden Hand gegenüber.
Damit ging es los.
Matthias Hand Rex war mit einer guten Portion Misstrauen gesegnet und, obschon sie sich allzugern ausgab, sich freundlich anderen Händen entgegenstreckte oder ganz einfach gern winkend die Luft bewegte, behielt sie diese gute Portion Misstrauen immer für sich; eine Portion, die so gut war, dass sie sie mit keiner anderen Hand jemals teilen sollte.
Im Falle einer gewaltsamen Konfrontation mit einer anderen, starken und fordernden Hand jedoch, reagierte sie geistengegenwärtig und hielt jene dann siegessicher und mit fester Faust umschlossen.
Im Ganzen gesehen jedoch könnte man aber sagen, sie war lebenslustig, sprang gern in Wäldern und Parkanlagen herum und biss ab und zu auch gerne zu - man muss es ihr nachsehen: Lebenslust hat viele Farben und ist facettenreich.
Schlussfolgerung: die Hand gehorcht zuerst, greift danach an und beisst, wenn nötig, jeder ihr entgegengestreckten Hand rasch und zielsicher ins Gesicht.
Der jeweilige Hand- oder Händehalter hat Macht über sie, Rex, den König, weil er ihr Besitzer ist.
Er gibt ihr zu fressen, trainiert sie, richtet sie ab, rollt sie zuweilen und als Ausgleich liebevoll zur Schnecke ein und kann sich so sicher sein, dass, sobald sich eine fremde Hand nähert, die seine ohne zu zögern, rasch und ohne zu fragen: zufasst. Zuerst freundlich, aber distanziert. Auf Abstand. 
Hält eine Hand die andere zu lange umfasst, ist Vorsicht geboten: hier geht es um Territorialansprüche, Gebiets- und Geistesaufteilungen.
An jenem Tage ging mir Matthias einfach nicht zur Hand, er war nicht zu bremsen. So nah ich Rex auch zu ihm hinbrachte, er verschmähte ihn, wandte sich ab, schnöde, zog an der Leine, presste mir das Blut im Handgelenk ab. Mit seinen Beinen, die ihm am Körper hingen wie Würste. Alles war unklar. Matthias gehörte gar nicht mir, aber er gab mir die Pfote, als sei ich sein ständiger Begleiter. Er gehörte der Nachbarin, die ihn liebte und aufzog, ihn mit ihrem Handgelenk festhielt, so sehr, dass sich ihre Handinnenflächen immer mehr verbogen, sich ihr Leben stetig veränderte. Weshalb die Unruhe? fragte mich am Abend der Freund der Nachbarin, gab mir seine Hand Rex und Matthias heimlich einen Tritt, sodass sein Rex und mein Rex lächelte - wir wussten, was gemeint war, der Nachbar und ich. 
Dazu kam, dass der Nachbar gern anderen die Hand zerquetschte und danach wie weiche Knochen zerbiss. Er war ein Haudegen. Zusammen mit seiner Hand Rex, die er immer ganz nah bei sich trug, meist hing sie ihm vom Handgelenk schlaff herunter und schaukelte in der Luft, als sei Matthias jederzeit bereit, einen enormen Satz auf alle zu zu machen: “Du musst den Hund ganz nah bei dir halten”. Der Hundesachverständige hatte es erklärt: die Hand Rex muss immer ganz nah am Hund gehalten werden, sodass er nicht einfach davonstürzen kann, dich rücklings an deiner eigenen Hand Rex hinter sich herziehen kann, sodass dir unter Umständen noch deine eigene Hand abfällt. Nein, nicht wirklich abfällt, natürlich, aber der Druck der Leine kann so gross werden, dass die Blutzufuhr gesperrt wird, dir die Hand Rex für eine Weile tatsächlich abstirbt. Matthias wusste natürlich instinktiv, was der Nachbar da mit ihm vorhatte und nahm meine oder die Hand des Nachbarn in die seine und sprang dann mit einem grossen Satz so plötzlich auf und davon, dass die Nachbarin auf ihr eigenes Gesicht fiel. “So geht es nicht”, sagte entsetzt der Nachbar, zog Matthias zuerst an den Ohren und dann wieder an seiner eigenen Hand Rex zu sich heran und tätschelte ihm den Bauch, um ihn vorerst zu beruhigen. Die Nachbarin lag leblos und stumm auf dem Boden, auf ihrem eigenen Gesicht, die Hände ganz nah bei den Augen: “Die Gefahr ist zu gross!” rief da plötzlich jemand, wir, die wir alle im Aufzug, und wie Vieh zusammengepfercht standen. Danach sagte erst einmal niemand mehr etwas; alle liessen wir uns, gelähmt von den orkanartig anschwellenden Wellenbergen der sich immer stärker ausbreitenden Angst wiegen und schaukeln. Normalerweise wusste der Nachbarn was in Extremsituationen zu tun sei. Er zog dann auch Matthias an seiner Hand Rex ganz nah zu sich heran, hielt beide im Augenblick von der wie tot daliegenden Nachbarin, der eigentlichen Hundehalterin, fern. “Könnte ich den Hund einklappen wie meine Hand, wäre alles leichter. Einfacher.” Er atmete einmal tief durch. Einen kurzen Moment lang und so tief, dass Matthias laut aufjaulte, dem Nachbarn an die Hand Rex sprang und sie mit einem kurzen und raschen Biss durchtrennte. Sie fiel einfach von ihm ab. Sprühregen spritzte sein Blut auf die jetzt am Boden liegende Hand Rex, Matthias, die Nachbarin und uns, die restlichen Aufzugbesucher. Alle waren wir entsetzt.
Matthias hatte dem Nachbarn seine Hand Rex abgebissen. Das Blut spritzte wie Regen auf die Köpfe, die Leiber, verschiedene Kleider und alle alten und neu hinzugekommenen Hände, die ihre Besitzer schnell am Kopf kratzten. Alles geschah rasend schnell; ausserdem trug jeder noch an seinen eigenen Beinen, die separat neben Matthias Korb einen Platz gefunden hatten. Matthias hatte seinen Korb nie gemocht; die immer noch am Boden und wie tot daliegende Nachbarin hatte ihn vor einem Jahr gekauft und Matthias daran wie ihre eigene Hand Rex hinter sich hergezogen: es war ein unwürdiges Schauspiel gewesen, als der Korb an der Hand der Nachbarin einfach so im Aufzug umgefallen war.
“Und was machen wir jetzt mit Matthias, bzw. der abgebissenen und heimatlos gewordenen Hand Rex des Nachbarn?” Sagte irgendein anonymer Aufzugbesucher, bekam aber keine Antwort.
Zum Glück rappelte sich jetzt die Nachbarin, die eigentliche Hundebesitzerin, vom Boden auf. Alles deutete daraufhin, dass sie keinen grossen Schaden erlitten hatte. Kurz sah sie mich an, verdrehte mir das Handgelenk und versprach, jedes Problem sofort zu lösen.
Dann zog sich der Nachbar mit seiner verbleibenden Hand Rex die Hosenbeine nervös nach oben und liess sie sofort wieder fallen. Matthias schnappte natürlich prompt danach. “Dieser Hund ist so gefährlich wie meine Hand!” rief er dann aufgeregt und sah die Nachbarin vorwurfsvoll an: “Jeden Moment kann sie voller Wucht ausschlagen, wie eine Wünschelrute und dann weiss neimand mehr, welches Stündlein den armen Hund nun geschlagen hat. Ich habe diesen Hund niemals geschlagen, meine Hand Rex auch nicht, denn immer schlafen meine beiden Hände willig in meiner Hosentasche. Ich kann es also nicht gewesen sein. Ausserdem fehlt mir jetzt eine Hand, ich weiss nicht, wo ich sie hingesteckt habe”, worauf die Nachbarin ihren Oberarm entblösste und eine Tättowierung herzeigte, die Matthias, lächelnd und sich in ihrem Arm wiegend, darstellte. Daraufhin fing Matthias zustimmend zu bellen an, sodass sich alle nach ihm umdrehten, zur gegenüberliegenden Wand, an die Matthias in hohem Bogen neuen Sprühregen hinpinkelte. 
“Diese Schweine,” räusperte sich der Hausmeister zu Wort und suchte nach einem sauberen Schwamm, um das Blut von Matthias und der Hand Rex des Nachbarn aufzuwischen. “Wo ist meine Hand denn nur geblieben” liess dieser sich jetzt mit schwacher Stimme vernehmen; er war , nachdem ihm Matthias die Hand Rex abgebissen hatte, erheblich schwächer geworden und lag jetzt auf dem Boden wie die Nachbarin vorher: Matthias schleckte ihn von oben bis unten ganz ab. “Sie ist doch da”, säuselte diese, offenbar zu neuem und besserem Leben erblüht, nahm ihn liebevoll in den Arm und wiegte ihn sanft hin- und her, um an die Tättowierung auf ihrem Oberarm zu erinnern und dann mit dem Zeigefinger auf Matthias zu zeigen. Der schleckte und schleckte. “Da! Da! Liegt sie doch, da liegt Rex, deine Hand und bewegt sich, schleckt dir die Zunge ab, wird glatt und seidig!” Riefen wir dann alle auf einmal und begannen die Hand Rex des Nachbarn zu studieren: sie bewegte sich selbstständig vor Matthias hin und her. 
Es war Rex gewesen, er hatte Matthias eins übergewischt und war dann schwanzwedelnd hin und her über den Fussboden gefahren, gerade so, als wolle er ihn auf-putzen. Putz? Sitz! Rief der Nachbar, nahm seine Hand wieder in die Hand und schnallte sie sich ans Handgelenk. “So eine Hand habe ich noch nie gesehen, tanzt, springt, bellt und schleckt und tut doch auch ihren gewohnten Dienst. Unglaublich!” Dann sagte der Nachbar: “Hab ich doch gesagt: so einen Hund muss man beidhändig bedienen, ihn straff am rechten Oberkörper ansetzen, dann spannen und einfach loslassen.” Daraufhin sprang die Hand Rex mitten in den Satz des Nachbarn, während der zu ihr, der Hand Rex sagte:“Du kannst nicht auf den Knopf mit der Aufschrift “5” drücken, wenn du in den ersten Stock, nach unten, fahren sollst.” Alle nickten, nur die Hand tat immer noch nicht, was sie sollte. Stattdessen sprang sie Matthias an den Hals, umklammerte ihn am Hand- und Halsgelenk und würgte ihn. Währenddessen floss dem Nachbarn wieder das Blut aus dem Handgelenk heraus, seine Hand Rex machte sich jetzt an den Aufzugknöpfen zu schaffen. Die Nachbarin insistierte, es müsse ein Arzt gerufen werden, denn wer weiss, wo die Hand Rex, bevor all das hier geschehen war, noch überall herumgelungert hätte – sie wolle das natürlich nicht wirklich wissen, es ginge sie ja auch nichts an, eigentlich, aber der Hund Matthias, den ginge es etwas an, schliesslich sei es wichtig zu wissen, was und wen er denn den ganzen Tag so zusammenbeisse. 
“Matthias! Wo ist nur der Hund geblieben?” Die hundehaltende Nachbarin rief jetzt mit solch erstaunlicher Ausdrucks- und Nachdruckskraft, dass der Aufzug sofort und abrupt stehenblieb, sich die Türen endlich öffneten und alle hinaus, ins Freie traten, während der Nachbar versuchte, das Vorgefallene zu erklären und den davonströmenden Aufzugbesuchern nachrief: “Was ist geschehen? Meine Hand machte einen Satz, um Matthias zu bezwingen, leider fiel das Ergebnis so aus, dass sich meine Hand samt seiner Buchstaben selbstständig machte und sich das Maul von Matthias derart verbiss, sodass beide nicht mehr voneinander loskamen. Die beteiligten Buchstaben schwirrten nur so herum, formierten sich zu einem grossen und gelben Nebel, der schliesslich sanft über dem kleinen Flusslauf jenseits des Aufzugs schwebte.” - “Dann müssen beide dort sein”, folgerte die Nachbarin folgerichtig und stiftete Matthias sowie alle anderen davonströmenden Aufzugbesucher an, ihren Weg nach dorthin einzuschlagen, wenn es sein müsse, sogar mit Pferdepeitschen.” “Nein”, rief jetzt Matthias, der Hund, lachte und wickelte sich Rex, die Hand des Nachbarn, verkehrt um den Kopf herum, sodass er wie ein Inder aussah und ging aus dem Gebäude hinaus, geradeso, als sei überhaupt nichts geschehen.
Moral: Keine Hand ist frei. Immer sie steht sie unter Stress und Drill. Deshalb wird sie jeden Tag trainiert (damit sie den Mut nicht verliert). Vom Kugelschreiber, der sie führt, von den Wörtern, die sie mithilfe des Kugelschreibers ausführt und ausfährt, in Kreisen, Parkanlagen und geraden und schrägen Pinselstrichen fährt sie ganze Welten zu Buchstaben und Aussagen aus. Als sei sie für nichts anderes gemacht worden. Die Hand ist auch zum Schreiben da, zum Umklammern des Kugelschreibers, ja, sogar zum Zwiebelschälen. Immer will sie sich bewegen, stillsitzen liegt ihr nicht, sie braucht Bewegung, sie braucht viel Bewegung. Immer will sie etwas tun. Entweder sie tobt im Garten herum und wühlt die Erde auf oder sie reisst andere Hände an sich. Nie ist sie zufrieden. Diese Hand, die Rex heisst und ein König ist, beisst, schnappt zu, schliesst sich wie Stahl, gibt nicht nach, lässt nicht locker. Verbissen hält sie den Kugelschreiber fest und schreibt und schreibt. Warum schreibt sie, warum beisst sie? Sie ist verrückt geworden, die Hand Rex ist verrückt geworden, greift nach allem, was sich bewegt: die Wörter. Überall fliegen sie herum, beissen sich durch die Luft wie ein Hund, schnappen nach allem, was es gibt, beissen sich an jeder Sache fest und haben sie für immer in der Hand. Heisst sie beispielsweise “Matthias”, denken wir natürlich an Matthias, mal grösser, mal kleiner, mal mehr Rex, mal weniger, aber immer denken und sehen wir dasselbe Bild, dann, wenn die Hand zuschnappt und einfach plötzlich Matthias heisst.

Gundi Feyrer

(Der Text stammt aus dem Buch DAS RAUSCHEN DER TAGE. Phantastische Geschichten und anderes Irren, Texte und Zeichnungen)

http://www.ritterbooks.com/index.php?id=23&tx_ttnews%5Btt_news%5D=414&tx_ttnews%5Bpointer%5D=&tx_ttnews%5BbackPid%5D=3&cHash=4d167a7705


Dienstag, 1. Juli 2014

Beschreibung meiner Braut



Welches Dasein! Ich kleidete mich in Sonnen, gürtete mir die Milchstraße um! Welche Kraft! Ich bin ein elektrisches Fluidum, durchsternt ätherisch. Frucht, Frucht auf allen meinen Himmelsbahnen. Schwingung, Sehnen, Erfüllen. Ich riesele von Licht, ich bin überall, immer, alles in allem ... Eines Nachts gegen eins – ich schlief im Umfange eines Planetensystems – höre ich in einem meiner Myriaden Ohren (meine Lokalisationsreflexe funktionieren exzellent) mich flehentlich genannt werden, in einem hinsterbenden Seufzer, den ich aber doch für eine Frechheit hielt: „Mein Seelenbräutigam!“ Wie wurde mir so übel! War ich, aus, Versehen, in irgendeiner meiner parties honteuses verlobt? Trotz dem scharfen Sicherheitsdienst meiner kosmisch trainierten Organe? – Und nochmals ertönte, hinsterbender noch, jener impertinente Anruf: „Mein Seelenbräutigam.“ Da riß mir die Geduld. Ich orientierte mich dynamisch – und siehe da, auf irgendeiner Winkelplanetenoberfläche stand eine in Abteilungen dividierte Kiste, „Haus“ genannt. In einer der Zellen dieses Hauses lag, auf einer dürren Pritsche, ein kleiner Gegenstand von länglicher Form, wenig mehr als ein Meter lang, aber nur etwa ein Drittelmeter breit und noch weniger dick. An dem einen Ende seiner Länge saß etwas Kugelähnliches, fast ganz mit einer strahlenartigen, fadenförmigen, blonden Masse bedeckt. Der Teil der Kugel, welcher frei von dieser Masse war, enthielt eine Art Loch von rötlicher Färbung. Inwendig in diesem Schlunde saß ein kleiner roter Körper, der sich gegen kleine elfenbeingelbe Stückchen bewegte und dabei die Töne hervorbrachte, welche mich in meiner Himmelstrunkenheit so sehr gestört hatten: „Mein Seelenbräutigam!“ erklang es wieder. Dabei zuckte der ganze längliche Apparat in der wunderlichsten Weise. Ja, seine Länge richtete sich halb aufwärts im rechten Winkel zur unteren, und ich bemerkte jetzt erst, daß die untere Länge in zwei zylinderartige Formen gespaltet war, und daß an der oberen Länge ähnliche, nur kleinere dünnere, Längskörper zum Vorschein kamen und seltsam ausgespannt wurden. – Dieses sonderbare Ding, obgleich es mich ja gar nicht wahrnehmen konnte, nannte mich also Bräutigam. Nicht genug aber damit! Über dem kleinen Schlunde saß ein bleicher Gipfel, Giebel oder Vorsprung, und über diesem rechts und links zwei kleine glatte, bläuliche, eigentümlich rollende Kugeloberflächenteile. Die Töne, mit denen es mich Bräutigam nannte, gingen in eine ganz andere, widerwärtig quietschige Lage über, und zugleich sickerte aus dem Giebel sowie aus der Umgebung jener bläulichen Globen eine tropfenartige helle Flüssigkeit. Der eine obere Längskörper drückte eine weiße, lappenartige Substanz dagegen und auf den Schlund, so daß nun die Töne ganz dumpf hervordrangen. Damit aber noch nicht genug, – das ganze corpus streckte sich senkrecht in die Höhe, bewegte sich auf den unteren getrennten Längskörpern von der Pritsche und fiel dann mit einem ziemlich lauten Geräusche um, etwa ein dutzend Mal „Seelenbräutigam“ ausstoßend. Dabei nahm ich die mir bis dahin verborgene Seite des Blockes wahr, nämlich diejenige, worauf er gelegen hatte; sie unterschied sich, wie es schien, wenig von der entgegengesetzten. Es fiel mir nur auf, daß zwei buckelartige Erhöhungen auf der einen Seite oben, auf der entgegengesetzten dagegen unten angebracht waren. Die Seitenflächen, einander ähnlich, waren viel schmäler. Ich behorchte und auskultierte nun diesen Körper und fand ihn von einem kurztaktigen Rhythmus erschüttert. Wie aber käme eine Uhr dazu, statt die Stunde zu schlagen, mich Bräutigam zu rufen?! Echtes, eigentliches Leben, das wußte ich, hatte niemand als ich allein. Es war also offenbar einer meiner magischen Reflexe und Echos, wodurch ich hier gleichsam Schabernack mit mir selber trieb. Diese Art treffe ich mitunter auf Planetenoberflächen; fühle mich unangenehm, ungezieferhaft davon berührt. Eine Sekunde später erblickte ich aber einen sehr ähnlichen Körper, dicht vor der „Hauskiste“. Dieser Körper unterschied sich von dem anderen besonders dadurch, daß er auch über und unter der schlundartigen Öffnung und zu deren Seiten mit jener faden- oder strahlenförmigen Masse bewachsen war. Diesem Körper spürte ich einen magnetischen Zug zu jenem ersteren sehr deutlich an. Es war mir ein erwünschter Wink, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Ich lenkte mit meiner gesammelten inneren Kraft jenen „Seelenbräutigam“ tönenden Körper zum Sturz aus der Hauskiste, um ihn mit jenem magnetischen Körper zu vereinigen. Tatsächlich fiel der Körper sehr geschickt mitten auf den anderen hinab. Beide Körper gerieten dabei aus der senkrechten mehr in die horizontale Lage, worin sie nur noch ein einziger zu sein und innigst aneinander zu haften schienen. Die verdammten Seelenbräutigamsgeräusche hörten sofort auf, wurden aber durch mir viel sympathischere, mehr schmatzige und zietschende ersetzt. Ich will mir dieses Mittel merken, falls noch einmal sich ein länglicher Körper für meine, der Seele, Braut halten sollte. Überhaupt Körper! Sie stören mich sonst nicht, aber wenn sie nicht ehrlich Körper, sondern lebendig, wohl gar liebevoll tun wollen, sind sie mir, ich kann es nicht zu Ende sagen, wie schauerlich, ekelhaft, tödlich zuwider. Glücklicherweise vermag ich sie, wie im besagten Falle, durchaus wieder zu mechanisieren. Denn ich bin das elektrische Fluidum, durchsternt ätherisch: Frucht, Frucht auf allen meinen Himmelsbahnen. Ich riesele von Licht. Ich allein, ich allein bin die Seele, und die Körper tönen mich nur wider und sind auch dann nur Körper, wenn aus ihrem lächerlichen Schlunde Seelenlaute zu dringen scheinen.

(Mynona)


Der Sturm 9, Nr. 8 (15. Nov. 1918), 110; Ndr. in: Grotesken I, waitawhile 2008, 404 ff.