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Donnerstag, 25. Juni 2015

Deutsche Bahn-Stereotypen Richtung Pforzheim


Heute streiken die Lokführer nicht. Ich nehme den ICE 595 am 18. Mai 2015. Der fährt vom Berliner Hauptbahnhof auf Gleis 13 planmäßig um 7 Uhr 34. Ich habe online gebucht, Bahn Card 25, Sparpreis – Berlin Pforzheim und Pforzheim – Berlin zum Preis von 178,75 € inklusive 29,54 € Mehrwertsteuer und 1,75 € Zahlungsmittelentgelt. Die Fahrkarte gilt nur für eingetragene Züge. Butter gibt es nicht mehr in den Speisewagen und an den Bahnhöfen. Der Belag der Sandwiches heisst Remoulade und so mutieren alle Speisewagen, Bistros, Bäckereien und Bord-Cafés zu Remoulade-Stationen. Das beste ist, man nimmt Brötchen, Brote und Brezel ohne Belag. 
Der Zug fährt pünktlich ab und verlässt die engen Gleise des Berliner Hauptbahnhofs mit ihren transparenten Schutzvorrichtungen, die den Blick bis in die untersten Tiefgeschosse dieses Hartmut-Mehdorn-Monstrums freigeben. Therapeuten können diesen Ort mit ihren Klaustrophobie-Klienten besuchen, um sie von ihrem psychischen Handicaps zu befreien. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen das vermutlich, obwohl die Suizid-Rate am Berliner Hauptbahnhof nicht signifikant angestiegen ist. Seit dem Unglück von Eschede mit 101 Toten, den ich bereits gebucht hatte, um anschliessend die Reise zu stornieren, heisst kein ICE mehr Wilhelm Conrad Röntgen. 
Im Großraumwagen finde ich gleich einen Platz, beginne mit den Zeichnungen der Deutschen Bahn-Stereotypen. Gegenüber unterhalten sich Vertreter über Adobe-Software, die sie aber nicht vertreiben. Und einer glotzt immer auf sein Smartphone-Display. Samsung 5,5 Zoll. Bartträger, vermutlich intim rasiert. Ich werde fortgejagt von einer Platzkarteninhaberin. Sie entschuldigt sich, tut ihr leid, der Stereotyp der Bahnleserin, skandinavische Literatur, 20. Jahrhundert. Es gibt die Bildschirm- und die Büchergucker. Und vereinzelt auch die Fenster-Glotzer. Und manche haben auch die Augen geschlossen, öffnen sie von Zeit zu Zeit schläfrig, um auf irgendwelche Profilbildchen in den sozialen Netzwerken zu schauen. Facebook, XING, You Tube, Linkedin…Der ICE als örtliche Narkose unter Diazepam und Propofol – wie vor der Darmspiegelung. Alle Platzanzeigen sind falsch. Menschen, die erst ab Braunschweig hinzusteigen sollten, sind jetzt schon da. Ich suche einen neuen Platz, zeichne weiter. Dann fragt mich ein Mädchen, ob neben mir noch ein Platz frei sein würde. Wenn es sein muss, ja. Kurz darauf ein Bartträger, dessen Platz ich belege. Ich habe genug, nehme das Blatt mit der halben Zeichnung und betrete ein geschlossenes Abteil. Ist hier noch frei? Keine eindeutige Antwort, nur müde Blicke. Einer tippt, der andere schläft. Nein, er schläft doch nicht sondern hört ein Hörbuch. Ich nehme vereinzelte Sätze wahr wie „Mit seinem Cabrio fand er genau die Parklücke, die sie für ihn vorgesehen hatte.“ Ist das ein sublimierter Porno für Psychologiestudenten? Dann höre ich nur noch die Tastenanschläge. Autisten bei der Arbeit. Niemand zeichnet oder schreibt mit der Hand. Der Hörbuch-Hörer grinst manchmal unverbindlich vor sich hin. Ich habe kein Netz. Auf der Rückseite der Zeichnungen notiere ich Uhrzeit, Ort und Datum. Da ich keine richtige Verbindung zum Satelliten habe, baut sich die Landkarte auf dem Bildschirm nur langsam auf. Zum anderen kann ich sie schlecht erkennen und so rate ich ungefähr meine Position nach dem Ende einer Zeichnung. Ich notiere Orte, von denen ich noch nie etwas gehört habe: „In der Nähe der Wüster Siedlung, 8:16 Uhr“ oder „Ein Stück von Weteritz entfernt, 8 Uhr 34“. Das Hohenstetter Holz muss bei Braunschweig liegen. Manche Orte bleiben auch unbestimmt – blinde Flecken in der Landschaft, kartografische Verstümmelungen. Die Zeichnungen entstehen in den Streckenabschnitten zwischen den großen Bahnhöfen. Wie viele Platzkartenbesitzerinnen lesen die Prominentengeschichten im Deutschen-Bahn-Magazin „Mobil“? 11 Prozent? In diesem Abteil ist keine. Der Tasten-Autist verlässt den ICE in Hildesheim. Manchmal  mache ich die Augen zu, aber das ist verschwendete Zeit. Ich will fertig werden mit dieser Serie. Pro Zeichnung 25 oder 35 Minuten, pro Buch 16 Seiten. Ich muss mich beeilen. Die Fahrt nach Pforzheim dauert weniger als 8 Stunden. Eine Frau in einem blauen Business-Hemd, entweder Diakonin oder Pädagogin ersetzt den Laptopanschläger, liest Victor Hugo im Original und verlässt das Abteil wieder in Fulda. Zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Fulda rauche ich eine „Salem“ auf der Bahntoilette. Die Zigarrettenmarken „Salem“ und „Eckstein“ gibt es schon seit Jahrzehnten, aber ab Juni 2015 existieren sie nicht mehr und werden dann „Reval“. Das heimliche Rauchen kenne ich noch aus der Schulzeit, wo wir uns in den Büschen am Sportplatz der Realschule versteckten oder hinter dem Edeka-Markt – immer wachsam, dass uns die Lehrer nicht entdeckten. Nun hat mich diese Zeit im reifen Alter auf der Bahntoilette wieder eingeholt. Danach gehe ich ein paar Schritte zwischen den Abteilen, stehe auf einem Bein, schüttele meine Arme. Dies wird bald zum allgemeinen Erscheinungsbild der Reisenden gehören, wenn sich die Apple Watch demnächst bei den Konsumenten durchgesetzt hat und sie jede Stunde an den Slogan erinnert „Sitzen ist der neue Krebs“. Die sogenannte Smartwatch löst dann am Handgelenk einen Vibrationsalarm aus und ihre Trägerinnen und Träger machen dann leichte Dehn-Übungen im Abteil oder joggen kurz durch den ganzen Zug bis zum Panoramawagen. 
Der Anteil der Bartträger hat sich im Verhältnis zu den Glattrasierten erhöht, wobei die Hipster- und Salafisten-Bartträger Brust- , Achsel- und Intimhaar rasieren während die Glattrasierten körperbehaart bleiben. Der Trend hat auch schon die Silverrücken mit ihren schwarzen Nerdbrillen und grauen Rollkragenpullovern erfasst; gleichgültig, ob sie FAZ, Süddeutsche oder Lettre lesen. 
Mein Hörbuch-Schläfer bekommt einen Anruf. „Guten Tag, Herr Berger…Ja…Ja…Ja…Hm…Ja, gut…Ich schaue es mir an, wenn ich im Büro bin…Schönen Tag noch und vielen Dank für die Info…“ Beschissene, stereotype Freundlichkeit. Wie in Godards Aphaville: Wie geht es Ihnen? – Ausgezeichnet, Danke/Bitte. Ohne sich zu verabschieden, steigt der in Frankfurt/Main aus und wird von einem Haudegen mit langem Nasenhaar und Analoguhr ersetzt. Der fährt mit mir bis Mannheim und macht tatsächlich nichts. Schaut nicht auf irgendeinen Bildschirm, liest auch in keinem Buch, kaut nicht, schluckt nicht und glotzt auch nicht aus dem Fenster. Sehr angenehm.
Mannheim ab 12 Uhr 36, Karlsruhe an 12 Uhr 58. Weiter soll es in Karlsruhe ab 13 Uhr 6 bis zu meinem Reiseziel gehen. Aber der Zug fährt nicht, fällt aus. Gegenüber steht ein anderer mit Reiseziel Pforzheim ab 13 Uhr 21. Der fällt auch aus. Ich höre „Reisende nach Pforzheim steigen bitte in den ICE nach Hamburg auf Gleis 10 um 13 Uhr 10“. Ich frage eine Zugbegleiterin auf Gleis 10. „Pforzheim? Davon weiß ich nichts. Darüber haben wir keine Info“. Der Zug fährt ohne mich ab – über Bruchsal und Heidelberg. Man sagt mir beim überfüllten Service-Point der Deutschen Bahn, dass ich auf Gleis 8 den Zug nach Karlsruhe-Durchach nehmen soll, um von dort mit der S-Bahn nach Pforzheim zu fahren, aber auf Gleis 8 fährt kein Zug nach Durlach. Die S-Bahnen zur S-Bahn fahren auf Gleis 4. In Durlach wissen sie nicht, wann die S-Bahnen nach Pforzheim fahren. Vermutlich unregelmässig. Mal kommt eine nach 5 Minuten, mal nach einer Stunde. Aber sie fahren auf Gleis 11. Ich habe Glück. Meine fährt bereits schon in 6 Minuten, aber die hält dann auch auf jedem Bahnhof alle 1 bis 2 Kilometer und manchmal bis zu 10 Minuten. Neben mir sitzt eine Dame aus Pforzheim mit einer Halbtagsstelle in Karlsruhe. Letzte Woche war sie auf dieser Strecke etwa fünf Stunden unterwegs, musste mit anderen S-Bahn-Reisenden auf einem dieser namenlosen Bahnhöfe ohne Café, Sitzgelegenheit und Ansprechpartner drei Stunden lang warten.
Niemand konnte darüber Auskunft geben, wann die Reise weitergeht. Normal dauert die von Karlsruhe 25 Minuten.
Ich habe Glück. Nach einer Stunde komme ich in Pforzheim an, setze mich in ein Café und sehe einen gehbehinderten Mann mit seiner Krücke über eine Stufe stolpern und vor mir zu Boden stürzen. Ich helfe ihm auf. „Haben Sie sich verletzt?“ – „Nein, geht schon.“

(H.A.)

2 Kommentare:

  1. jürgen julius irmer25. Juni 2015 um 23:36

    ...dir apple nerd hab` ich längst unterstellt, daß du mit dem watch hirn- und herzschrittmacher verkabelt bist. gut zu wissen, daß nicht.
    wenn du mal wieder einen alten mann mit nasenbart, der nur vor sich hinstiert sehen willst: willkommen in johannisthal!...

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  2. schon spaßig, wie du zwischen deine Stereotypen schlüpfst und quasi einer von ihnen bist, um dann als sarkastischer Schilderer wieder aus der eben eingenommenen Rolle zu fallen - Zusammenspielverderber!

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