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Montag, 29. Dezember 2014

das märchen von den fehlenden messerbänkchen

Nummeriert oder nicht nummeriert?

martin lagosse (er war damals klein & blieb auch so) war 1953/54 bei einem der ersten deutsch-französischen schüleraustausche nach dem 2. weltkrieg, mein austauschpartner. er war es, der zuerst in unserer familie in dusslingen vier wochen lang gast war. danach (oder im jahr danach) war ich gast in seiner familie in bordeaux. so ging das dann jahrelang, unsere beiden väter freundeten sich auch an, obwohl sie sich, wie sie feststellten, im ersten weltkrieg in den ardennen wahrscheinlich an der front gegenüberlagen. lange nachdem martin & ich keinen kontakt mehr hatten, standen unsere väter noch in kontakt, besuchten sich, tauschten briefmarken. martin & ich korrespondierten von 1955 bis 1961. alle seine briefe haben sich bei mir erhalten, meine an ihn hat er verloren.

es muss um 1961 gewesen sein, als sofi, meine damalige geliebte & ich martin in paris, wo er inzwischen mit seiner frau hélène wohnte, besuchten. wir verbrachten einen halben tag zusammen & sofi & ich fuhren schockiert über die spiessige lebensart der beiden wieder von dannen. danach gab es keinerlei kontakt mehr zwischen uns.

2014 fuhr sofi mit unserer enkelin fauzeya nach paris, weil fauzeya in der schule französisch hatte & sofi sie dabei etwas unterstützen wollte. in paris wollte sofi martin anrufen, hat es dann aber doch nicht getan. etwa eine woche nach ihrer rückkehr, erhielt ich eine email von martin (nach über 50 jahren!), er habe mich im netz entdeckt & hallo & soso & treffen müsste man sich mal wieder...

es ging wohl nicht anders: wir entschlossen uns, dass wir uns treffen. ende  november fuhren wir mit dem zug nach paris. martin holte uns am gare de l'est  ab. ich hatte vergessen, wie klein er war. er reichte mir grade bis zur schulter, dabei war er genauso alt wie ich: 75. sein etwas watschelnder gang & seine kleinen schritte in schuhgrösse 37 waren dieselben wie als 14jähriger. auffallend auch seine sprache. wir waren ja während unserer pubertät in kontakt, & ich erinnere mich noch sehr genau, dass in dieser zeit des stimmbruchs seine stimme von tief, immer wieder auf die kinderstimmbänder überschwappte, unvermittelt & vor allem wenn er aufgeregt war. dieses phänomen hat er auch als 75jähriger beibehalten. ob dies auch auf einen sonstigen pubertären zustand schliessen liess?

kurz: wir betraten sein super-appartement auf einer insel in der seine & der schock schlug sofort wieder zu! in der verspiegelten garderobe schuhe ausziehen. überall penibel geputzte glastische auf verspielten perserteppichen (die wir gar nicht mögen). ein paar fingerabdrücke auf dem toaster vermerkt martin kritisch hélène gegenüber. eine numerierte corbusierliege vor dem grossbildschirm (auf dem wir uns stundenlang bilder aus sri lanka & indien ansehen mussten). auf die nummerierung der liege wurden wir speziell auf der unteren seite des gestänges hingewiesen. wir mussten mit unseren fingern die eingestanzte nummer fühlen. chinesisches mobiliar. die wände voll mit bildern von picasso, dubuffet, dali... aber alle von martin persönlich kopiert! an einer wand eine peitsche & ein schwert. auch schwerter über dem türsturz. ein hoher topf mit spazierstöcken. mehrere mit bajonettartigen versteckten stahlspitzen. wallende & geraffte vorhänge wie im versailler schloss. 

deckenlüster aus murano. stühle im salle à manger von knoll. bücherregale bis an die decke, gefüllt mit 40 bänden zola, 25 bänden von dem, 15 bände von jenem, vergoldete rücken, nur beim einstellen ins regal einmal berührt. ich frage: wo steht die pornografie? & er deutet etwas verschämt nach ganz oben links. ich nehme die edelstahlleiter zum erreichen der bücher in den oberen regalen & stelle sie in richtung pornografie, steige hinauf & lese ein paar titel laut von den buchrücken ab. kurz danach stand die leiter wieder an ihrer ursprünglichen stelle! im badezimmer wird uns das komplizierte funktionieren der dusche erklärt: dies & das darf man auf keinen fall berühren, geschweige denn verstellen. goldener kamm, goldener handspiegel... (aber alles vergoldetes plastik). die halb aufgerollte zahnpastatube mir einer silbernen spezialklemme über dem aufgerollten teil. blumen überall. einzelne blüten, ganze bouquets, alle aus plastik im trockenen stehend. schon telefonisch hatte mir martin damit gedroht, dass das mittagessen nach unserer ankunft in der küche stattfände, das diner aber im salle à manger. das verhiess nichts gutes! aber die realisierung dieser ankündigung war das non-plus-ultra: auf dem damasttischtuch silbernes besteck, gläser wie orgelpfeifen, ausgedruckte tischkärtchen (für uns vier!) steckten in massiven silbernen quaderchen. eine ausgedruckte speisekarte verzeichnete penibel alle gänge. nur die messerbänkchen fehlten! ausgesuchte, von ihm nummerierte weine aus dem temperierten weinschrank. zum hauptgang ein 25 jahre alter bordeaux etc. etc . die speisekarte habe ich an mich genommen. sie liegt jetzt bei seinen briefen von 1955! - martin & hélène kamen ununterbrochen, wo wir auch sassen & führten ihren äusseren reichtum vor: eine schwere schale aus china, ein figürchen aus usbekistan, auf das schöne licht einer dali-kopie wies er mich in zwei tagen mindestens dreimal hin. die louvre-replik eins ägyptischen kopfes auf dem schrank, in dem sein deutsches bundesverdienstkreuz am bande exponiert lag, von speziellem spot angestrahlt. ein foto von de gaulle an büchern lehnend. eine vietnamesische teekanne aus koralle (wie sie sagten) war sicher aus einem anderen material. vier opulente fotoalben mussten wir überstehen, ausschliesslich gruppenfotos aus seinem berufsleben & von verleihungen. vitrinen voll mit gut abgestaubten memorabilia. wertvolles neben billigstem flughafenramsch. dazwischen auch ein gerahmtes foto von sofi & mir. in der fotogalerie seines computers bilder von meinen auftritten, die er aus dem netz herunterlud. hunderte fotos von sarkozys carla bruni, von der abendgarderobe bis zum nacktfoto. auch von angela merkel ein nacktfoto aus ihrer fdj-zeit!

eine sterilität sondergleichen, in der sich der gast wie im gefängnis fühlt, vergewaltigt von einer ausschliesslich oberflächlich materiell orientierten gesellschaft & ihren ritualen. die sterilität seltsamerweise unterbrochen durch hingebungsvolles teller ablecken im restaurant! es gab nie fragen von ihrer seite, was wir so machen, wie wir leben. nur eine frage von hélène an mich: wie oft musst du deinen bart schneiden?! - ich habe alles nur überstehen können, indem ich die situation schliesslich mit den augen eines verhaltensforschers oder anthropologen sah & aus rücksichtnahme auf sofi & ihre ebenfalls zweitägige leidenszeit. was war das für ein gegenentwurf ... zu unserem leben & zu dem, was uns beschäftigt!

als wir wieder zu hause ankamen, stieg sofi in die badewanne & murmelte vor sich hin: "martin abwaschen!"

mahmoud susu

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