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Donnerstag, 26. Juni 2014

Aërosophie



Des Morgens hat man schöne kalte Luft, ich ging aus. Am Dönhoffsplatz traf ich den Marsbewohner Myno Deusp, er hielt Vortrag vor ein paar Leuten, die Droschkenkutscher zu sein schienen; auch einige leichte Mädchen standen dabei und stenographierten eifrig. Aber kaum war das letzte Wort verklungen, da stellte ich mich ihm vor und bat ihn um einige Erläuterungen. „Sind Sie auch Droschkenkutscher?“ fragte er angestrengt. Ich sagte: „Logischer.“ Diese Antwort schien ihn mächtig zu rühren. „Sie haben unmenschlicher Weise nicht nein gesagt, und deswegen sollen Sie mich zu ,fassen’ kriegen. Ich will Ihnen den ganzen Zauber beibringen – aber nicht hier. Folgen Sie mir!“ Damit ergriff er mich bei der Hand, ich fühlte mein Eigengewicht, als ob mein Schwerpunkt sich verschoben hätte, wohltuend alteriert; wir erhoben uns in den Luftraum, standen einige hundert Meter über dem Kreuzberg still und leicht in der Luft, und Myno sprach: „Also, damit Sie den Vortrag von vorhin nachträglich besser verstehen, – das Zeichen ∞ bedeutet doch ,unendlich’? Na! Ich meine man bloß: man soll im ∞ so leben, wie man mit ∞ zählt! Nämlich nicht vom Anfang, den es nicht gibt, bis zum Ende, das es auch nicht gibt; sondern vom Nichts, von der Null als wie von der reinen Mitte aus, nach Minus und Plus des ∞ hin. Achten Sie nun wohl auf die Torheit der menschlichen Vernunft, daß sie das Nichts des Unterschieds im ∞ als Tod verstehe! Also, wenn die Weltkraft unerschöpflich wäre, so würde der Mensch sie doch ,fertig’ kriegen, ,konstant’ kriegen – ohne die leiseste Ahnung vom Leben dieses Scheintodes, dieser Lebensstarre, dieser Lebens-Null!!!! (Myno spie auf den Berg.) Verstehen Sie! Der Mensch begreift das ∞ niemals, weil er glaubt, es sei ohne Grenze; und die Grenze nicht, weil er wähnt, sie sei das ,Endliche’ im ∞ !!!! Daraus muß ein hübscher Blödsinn werden. Kraft, sagt er, nimmt nicht ab noch zu, daher ist sie nie gleich ∞. Himmel! Deswegen nur, wegen dieser elendigen logischen und sinnlichen Versündigung an seinem ∞ bleibt der Mensch der Mensch. Wir Martianer kennen eine sehr gefährliche Krankheit, nämlich das Sterben vor Lachen über den Menschen; über seine possierlichen Allüren im Umgange mit seinem persönlichen, leibeigenen ∞. Besonders der Tragik dieses Tieres widersteht so leicht kein Zwerchfell.
Hamlet ist bei uns eine Lachsalven erregende Parodie, ohne daß wir eine Silbe zu ändern brauchten. Ein Wort von Schiller bringt uns um. Unser witzigster Autor ist Schopenhauer aus Danzig. Das menschliche Lachen ist uns eher antipathisch; amüsanter ist der qualvolle Mensch, ich verrate Ihnen, daß die vereinigten Bewohner sämtlicher Planeten des Sonnensystems sich die Erde als unfreiwillige Lustspielbühne eingerichtet haben.“ Er gab mir einen Stoß in die Seite, daß ich in der Luft auf dem Kopfe stand; er drehte mich liebreich wieder um und wollte Abschied nehmen. „Erlauben Sie, Herr Deusp,“ sagte ich, „bevor Sie verreisen, möchte ich meine Erdschwere wiederhaben; und übrigens, nehmen Sie Rücksicht auf meine Fassungskraft! Erklären Sie, statt zu lachen!“
Myno winkte, plötzlich hatten wir mitten in den Lüften zwei Klubsessel unter uns; es war herrlich!
„Das ∞“, dozierte Myno, „scheint ne kolossale Sache, ist aber für Personen, die mit umzugehen wissen, man bloß ein Kinderspiel; ein Widerspiel. Es ist nämlich, wo und wie Sie es nur finden, ein Unterschied, ein Selbstunterschied, und sein Selbst ist Person, – denn ,Ich’ ist nur Pseudonym der ewig anonymen Person. Einen Selbstunterschied nennt man Polarität: Das ∞ ist eben nicht einfältig schlicht, sondern polargeschlechtlich. Sie werden begreifen, welchen Fehler man macht, wenn man, es zu erwägen, weder eine Wage benutzt noch den Wägenden in Betracht zieht! Und nur eine grobe Krämerwage würde, auf jeder ihrer beiden Schalen mit ∞ belastet, mit ihrer Zunge tödlich einstehen und uns vom Gleichgewicht eines ∞ eine leblose Vorstellung geben. Bei ,Konstanz’, bei ,Erhaltung’ hat der Mensch kein Arg daraus, daß doch hier ein ∞ gegen ein ∞ sich aufhebe. Diese Aufhebung ist doch ein kraftstrotzendes Drittes! Diese haarfeine Messerschneide, über die der Unterschied einer ganzen Welt balanciert, erachtet der Mensch als nichts! Er sieht den Unterschied dieses Nichts nicht! Sein Aberglaube an die Einartigkeit des ∞ verdirbt ihm das Auge für dessen wahre Übereinstimmung mit sich selbst, die aus dessen echtem Selbstwiderstreit hervorgeht, – und die sogenannte Erhaltung aller Kraft ist ja ein totgeborenes Kind, so lange man diesen Ehestand der Kraft (des ∞) verkennt! Mit einem Schlußwort: die Kraft wehrt sich nicht etwa gegen das ∞, also keineswegs gegen unermeßliche Verluste und Gewinne: sondern allein gegen das Fehlen einer sie ,erhaltenden’, das bedeutet aber: kompensierenden, balancierenden, also keineswegs toten, sondern blühenden Mitte.“
„Mitte! Mitte? ’s klingt so wunderlich“, meinte ich. Myno ließ die Klubsessel verschwinden; wir standen kerzengrade in der Luft, es briselte angenehm, der Himmel überzog sich mit leichten Wolken. Myno knöpfte sich den flatternden schwarzen Rock zu und sagte so laut, daß ich fürchtete man höre es bis unten: „Die echt lebendige Mitte des ∞ ist eben Person, ist eben persönlich. Da hat zum Beispiel auch die Zahlunendlichkeit in ihrer Mitte eine Lücke, ein Loch, das der Arithmetiker persönlich ausfüllen sollte; statt dessen zählt er nichts und wieder nichts = 0! – Oha! Der Mensch ist ein wahres Labsal für einen alten Martianer!“ Er winkte eine Wolke heran und verschwand in ihr, es guckte nur noch ein schwarzes Zipfelchen seines Rockes hervor. Ich sank wie im Lift glimpflich auf den Kreuzberg; die Kutscher sahen so vergnügt aus.

(Mynona)


Der Sturm 2, Nr. 89 (Dez. 1911), 709; Ndr. in: Grotesken I, waitawhile 2008, 159 ff.

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