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Mittwoch, 11. Juli 2012

"Deutschebahngesichter"


Zu schön um wahr zu sein. So viel Platz im ICE.


Im ICE lese ich "Sprechfunk mit Verstorbenen" von Friedrich Jürgenson, der in den 1950er Jahren seine sogenannten Tonbandexperimente begann und dann später auf Radiofrequenzen wechselte, um mit der jenseitigen Welt in Kontakt zu treten.  Die Fahrt ist lang und mein Hintern tut weh. Neben mir sitzt ein Geisteswissenschaftler, der früher für das Radio gearbeitet hat und das Buch "Der Ego-Tunnel" von Thomas Metzinger liest. Ich beginne gleich ein Gespräch mit ihm. Mit der Hirnforschung beschäftigt er sich schon seit einigen Jahrzehnten. Meiner Kritik zu Metzinger stimmt er zu. Allerdings soll er erst einmal das Buch lesen. Ich schenke ihm noch einen "Virulent"-Katalog. Zwischendurch spricht er noch vom Higgs-Teilchen. Letztendlich suchen sie in ihren Teilchenbeschleunigern den Gottesbeweis. Am Ende des Gesprächs habe ich das Gefühl, nichts mehr von ihm im Zukunft zu hören. Er steigt in Nürnberg aus, um sich eine Dürer-Ausstellung anzuschauen. 
Im Zug komme ich mir vor wie eine Postsendung, die von A nach B verschickt wird. Ölsardinensituation. Beinfreiheit: Fehlanzeige. Offenbar hat man am meisten Platz, wenn man gerade dasitzt, die Füße aneinander stellt und die Arme nicht auf die Lehnen stützt, denn dann könnte man schon wieder seinen Nachbarn berühren. In der ersten Klasse ist es auch nicht viel besser. Wenn man Glück hat, ist der Speisewagen leer. Die meisten Reisenden fressen sowieso im Großraumwagen. Viele haben ihr Obst und ihre Brote in Tubberboxen mit gebracht und saufen ihr Mineralwasser aus Eineinhalbliterflaschen. Das ist auch nicht gerade schön: Leuten in beengten Situationen beim Fressen und Saufen zuzuschauen. Entweder sie fressen oder sie glotzen auf ihre Displays. Oder sie blättern in der Zeitschrift der Deutschen Bahn. Veronika Ferres ist diesmal nicht auf dem Titelblatt. Allein die Schaffner sind äußerst freundlich. Wie muss es ihnen dabei gehen, stundenlang im Zug zu sitzen, immer wiederkehrende Strecken abzufahren und sich dabei durch die engen Gänge zu kämpfen. ICE fahren beruhigt nicht. ICE fahren macht aggressiv. Die Gänge sind zu eng, die Koffer zu groß und die Leute zu blöd. Oft entstehen Staus. Es geht weder vor noch zurück.
Michael Lentz sprach vor Jahren nach seinem Ingeborg-Bachmann-Preis und seiner anschließenden Lesetour durch Deutschland von den "Deutschebahngesichtern". Das "Deutschebahngesicht" ist leicht grau vom schlechten Kaffee des Bordbistros, wirkt ein wenig stumpfsinnig und desinteressiert. Vermutlich hat es zu viele schlechte Filme auf seinem iPad geschaut oder mit seinem Acer-Laptop zu oft gedaddelt. Desinteressiert und schlecht durchblutet schleppt sich das „Deutschebahngesicht“ zur Toilette. Meist sind die besetzt. Oder aber verstopft. Und wenn sie nicht besetzt oder bekackt sind, ist der Seifenspender leer. Ich weiß auch nicht, wie man die Situation verbessern kann. Vielleicht sollten die Züge dreimal so lang sein und mehrere Konsummöglichkeiten bieten. Großraumwagen könnte man doch als Parfümerien ausbauen. Oder Wellness anbieten. Swingerclubs könnten mehrere Abteile von der Deutschen Bahn mieten, Buchhandlungen spezielle Reiseliteratur führen. Außen an den Zügen könnte Werbung laufen wie in den Fußballstadien. 
Sogenannte „Platzkarten“ sind völlig bescheuert. Man reserviert dabei immer die schlechtesten Plätze. Auf der langen Rückfahrt schaue ich von meinem reservierten Platz aus wieder in das Gesicht eines Kauenden. Der frisst rohe Paprikastreifen aus seiner Tubberbox. Das ist laut und wirkt so beschissen gesund. Eine Weile flüchte ich wieder in mein E-Book „Sprechfunk mit Verstorbenen“. Dann eile ich in den Speisewagen. 

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