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Freitag, 30. Mai 2014

Mehr Marcus: Einstein


Es macht daher einen sehr merkwürdigen Eindruck, wenn Einstein – von der Denkgewohnheit des Empirismus eingeschränkt – behauptet: das Trägheitsgesetz (das ja in der Erfahrung überhaupt nicht feststellbar ist) sei ein Erfahrungsgesetz, oder bemerkt: das Relativitätsprinzip empfehle sich durch seine „Einfachheit und Natürlichkeit“. Denn dies sind doch Eigenschaften, durch die sich allenfalls junge Mädchen, nicht aber physikalische Thesen empfehlen. Auch die Bedingungen des Relativitätsprinzips sind in keiner Erfahrung darstellbar, können also auch der Erfahrung nicht entnommen sein. Beide Gesetze sind mathematisch-physikalisch und a priori fundiert. 

(Tagebuch, 2. Nov. 1925)

Einstein und Lorentz machten aus dem Licht durch Veränderung der Masse eine Schein-Subordinate, weil es im Michelson-Morley-Experiment als Subordinate auftritt, obwohl es Koordinate ist. Daß also das Licht nicht unter das Subordinaten-Gesetz fällt, liegt an der Hypothese, die dies ausschließt. Ergo ist die Hypothese falsch. Unter keinen Umständen aber das Relativitätsprinzip – denn dieses behauptet nicht,

daß es keine Bewegung gäbe, die nicht unter das Subordinaten-Gesetz falle oder
daß alle Bewegungen darunter fallen müssen;
sondern es sagt hypothetisch:


Wenn eine Bewegung Koordinate ist, so tritt das Relativitätsprinzip mit seinem Additionstheorem ein. Bei Einstein wird also das Relativitätsprinzip gefälscht. 

(Marcus an Hugo Dingler, 28.3.1926)

Ernst Marcus

(weitergeleitet von Dr. Detlef Thiel)




Montag, 26. Mai 2014

Ulrich Woelk, Wellen


ohne Anfang und Ende sagte ich so weit sagte ich zu wissen daß es keine Grenze gibt dort draußen nichts woran man sich festhalten kann nur Blau und wieder Blau und Wellen und wieder Wellen und daß es einfach immer weiter geht sagte ich zu Lisa diese ständige Bewegung wir leben auf dem Boden eines Gefäßes das vom Universum geschüttelt wird das fasziniert mich erfüllt mich mit Ehrfurcht und manchmal sogar religiöser Zuversicht diese Wellen diese endlose Oberfläche ein Spiegel des Ganzen von dem wir ein Teil sind sagte ich damals zu Lisa als ich hier saß an derselben Stelle soweit hier eine Stelle nach zwanzig Jahren noch dieselbe sein kann wie ehedem und ich frage mich was sie jetzt wohl macht manchmal frage ich mich das wann haben wir uns aus den Augen verloren ich kann es nicht sagen wenn ich zurückschaue sehe ich keine Grenzen keine Markierungspunkte nur Zeit und je mehr ich zurückdenke um so rein zeithafter wird diese Zeit aber ich weiß noch daß wir Lisa und ich irgendwann hier saßen und ich über das Meer geredet habe die Weite und daß ich immer wieder herkommen muß ein Seelenritual sagte ich und sie sah hinaus und fands auch schön aber vielleicht doch nicht ganz so bildhaft religiös wie ich oh ja sagte sie ich glaube ich weiß was du meinst keinen Halt keine Grenzen keine Regeln nur Freiheit ja Freiheit war ein Wort daß wir damals so gut verstanden wie kein anderes ein Wort voller Versprechungen ein Abenteuerwort ein Liebeswort ein Duundichwort erstaunlich wie wenige Worte unseren Sehnsüchten damals genügten ich redete noch lange über das Meer und die Weite und die Grenzenlosigkeit und die Wellen und all das die Farbe nicht zu vergessen die Farbe deiner Augen sagte ich was ungefähr stimmte an diesem Tag an einem andern wäre es anders gewesen und eigentlich kann ich mich an die Farbe von Lisas Augen nur noch erinnern weil es so war weil es die Farbe des Meeres war die man nicht vergißt denke ich zwei Farben die einander sehr gleich waren und ich habe geredet bis ich irgendwann nicht mehr geredet habe und wir ineinandergeflossen sind und ich dachte dabei was schaffen all diese Wellen heran was bringen sie mit sich Wasser dachte ich Wasser und Melancholie aber ich wußte ja daß es eigentlich nicht so war daß es eine Illusion war diese Bewegung dieses Strömen aufs Land und die weichen Dünen eine Illusion die durch Nähe und Berührung zustande kommt denn weit draußen da wo die Wellen nur Wellen sind sind sie nur ein Auf und Ab ein ewiges Treten auf der Stelle jede Welle eine Bewegung in sich selbst das wußte ich damals und ich weiß es heute weiß es jetzt da ich hier sitze und mich erinnere so eigenartig blaß an Lisa wie lange waren wir zusammen es mögen ein paar Monate gewesen sein und jetzt sind diese Monate ein Moment am Horizont der Erinnerung ein Punkt den es noch nicht einmal gibt der eine Illusion ist wie der Horizont selbst eine perspektivische Illusion ist die sich auflösten würde wenn man sich verlassen und über sich selbst erheben könnte doch wozu sagte ich damals zu Lisa weil ich mich wohl fühlte in mir selbst als wir sinnlose Figuren in den Sand malten und mit unseren Körpern wieder fortwischten wir lachten und lauschten wie unsere Stimmen im Wind verklangen die Maßeinheit unseres Glücks waren Sekunden das denke ich während ich hier sitze und an Lisa denke zum ersten Mal wieder seit so langem und das Universum zupft an der Saite des Wassers auf das ich hinaussehe und dessen Farbe vielleicht die Farbe von damals ist glaube ich mich zu erinnern vielleicht dieses bestimmte Blau an das ich mich erinnere mehr als an Lisa selbst dieses Blau ohne Anfang und Ende und

(Text aus VOKABELKRIEGER I WASSER, Berlin – Rantum/Sylt 2006)


Montag, 19. Mai 2014

2 x Ernst Marcus

Ernst Marcus, Kritik des Aufbaus (Syllogismus)
 der speziellen Relativitätstheorie.
Und Kritik zur herrschenden Hypothese der Lichtausbreitung.

Die Mittelmäßigen: „Deutschland hat Großes geleistet“. Heine, Mozart, Goethe, Kant und Genossen haben Großes geleistet und ohne, ja gegen Euch Deutsche. Aber das deutsche Gemüt hat doch wohl Großes geleistet? Wie? Z. B. Nibelungenlied, Volkslieder. Nein! Das Volk hat solche Sachen nicht gemacht. Und die es machten, haben erst das sogenannte deutsche Gemüt erzeugt. Aha! Da kommt der Internationale heraus!

Wie? – Nein! Das ist weder national, noch international, weder modern, noch unmodern, sondern wahr! – Ihr mittelmäßigen Liliputaner! Die Koordination mit den Leuten von Brobdingnag ist sehr schmeichelhaft für Euch, aber Ihr habt nichts mit ihnen gemein, als Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, obwohl Ihr zufällig auf deutschem Boden in die Welt kamt. Ihr meint aber, weil Ihr Deutsche seid, Ihr wäret auch solche Riesen, hättet auch so ein bißchen deutsches Gemüt und deutsches Genie.

Ernst Marcus: Tagebuch 22.1.1928 (unveröffentlicht)


Von wem ging die Separatistenbewegung im Rheinland aus? Wer organisierte hier? – Offenbar ehrgeizige Herrschsüchtige, die sich zu Gliedern einer neuen Landeshoheit machen wollten, zu Herrschern, zu Regenten. Ohne sie wäre es nicht gegangen. Diese saubere Gesellschaft von Herrschaftsräubern (alias Usurpatoren) ist es, die einen neuen Staat zu gründen lieben. Sie hetzen. Sie wirken auf Leute ein, denen sie materiellen Vorteile vorspiegeln, und das Ideal der Heimatliebe. Und nun frage ich: Wie steht es mit der Feindschaft unter den Nationen? – Ganz dasselbe. Auch hier hetzen, weil sie herrschen oder die Herrschaft nicht verlieren wollen, die Leute von der Herrschsucht. Sie spiegeln Vorteile vor, warnen vor Nachteilen und fabrizieren die Liebe zum Vaterland und zur Nation. Mit diesen Schein-Idealen reißen sie Rechtschaffene mit.

Ernst Marcus: Tagebuch 23.1.1928 (unveröfflenticht)

(weitergereicht von Dr. Detlef Thiel)



Montag, 12. Mai 2014

Türkenstraße 60, München


EINLADUNG
zur Ausstellung im Archive Artist Publications
Hartmut Andryczuk
Odenwald-Odyssee
 
Eröffnung am Freitag 16.5.2014 um 18 Uhr
am Fr und Sa jeweils offen von 12-18 Uhr,
sonst nach Vereinbarung, Telefon 0890 1234530
Ende 7.6.2014
Hartmut Andryczuk berichtet bei der Ausstellungseröffnung über die Odyssee und spricht über die Produktionen des Hybriden-Verlags.
Die Odenwald-Odyssee ist eine Art Logbuch und Langzeitdokumentation vom 30. Dezember 2012 bis zum 29. Dezember 2013. Die tagebuchähnliche Dokumentation beinhaltet noch zusätzlich 14 Originalarbeiten im Stil des Logbuchs, die bei Archive Artist Publications gesondert neben dem Künstlerbuch ausgestellt werden.
Die Themen der Odenwald-Odyssee sind universell:
humanistische Krematorien, 
die Medizin des neo-germanischen Irren Ryke Geert Hamer, 
der Suizid des Internet-Aktivisten Aaron Swartz, 
Aktienjunkies und ihre Prognosen, 
atypische Neuroleptika, 
der Super-Stern VY Canis Majoris, 
eine Künstler-Weltrangliste, 
die Drake-Formel für ausserirdische Zivilisationen etc.
Medizin, Astronomie, Physik, Chemie, Literatur, Kunst, Sport, Psychiatrie, Botanik, Geografie, Ökonomie, Philosophie,Ufologie und Etymologie: die Odenwald-Odyssee präferiert die Grenzbereiche der Wissenschaft und des Alltags.
Hubert Kretschmer
Archive Artist Publications
Türkenstraße 60 UG / 80799 München
tel 089 12345 30
archive-artist-publications.eu / artistbooks.de/blog

Sonntag, 11. Mai 2014

Tote Kapitäne & Meer

Amrumer Pädagogik in der Nähe der Kurklinik Satteldüne
2.5.14 – Fahrradfahrt zu den "sprechenden Grabsteinen" nach Nebel. Tote Kapitäne, wortkarge Friesen, die zeitlebens kaum geredet haben, erzählen nach ihrem Tode ihr ganzes Leben auf hoher See. 
2.5.14/2 – Nebeler Strandhalle. Lausiger Kuchen auf der Terrasse. Aber welch ein Glück, dass die Erde genau im richtigen Abstand zur Sonne steht. 1 Millionen Kilometer weiter weg oder näher dran und alles wäre vorbei.
3.5.14 – Ein Kaninchen im Garten. Abends eine Möwe zwischen den Saunagängen. Nein ich habe nichts zu essen. Und Möwen rauchen weder Eckstein noch Salem. Um Mitternacht wandele ich auf der "Oberen Wandelbahn", bleibe manchmal stehen, um 10 Sekunden lang auf einem Bein zu stehen.
4.5.14 – Es gibt hier Möwen, die ständig "Ficki-Ficki" rufen. Unentwegt - morgens, mittags, abends und sogar nachts: Ficki-Ficki, Ficki-Ficki, Ficki-Ficki – in schnellen und kurzen Sequenzen.
5.5.14 – Touristische Ausflugsfahrt mit dem Amrumer Inselbus, einen zweistöckigen Oldtimer. Wittdün, Stenodde, Süddorf, Nebel, Norddorf. Neue Informationen: die Hügelgräber der Wikinger in Steenodde, der Brand der reetgedeckten Friesenhäuser in den 1920er Jahren in Norddorf und die schönsten Toiletten der Insel im Nebeler Hotel Friedrichs. 
5.5.14/2 – Wenn jemand auf der Insel stirbt, bilden die Windmühlenflügel in Nebel ein Kreuz.
5.5.14/3 – Der Geist von Elisabeth Z. weht über den Wittdüner Dünen und sucht ihren Hybrid-Toyota.
6.5.14 – Chai-Torte im Café Schult, Norddorf.
7.5.14 – Text in einem Café, Wittdün: Schokolade ist Gottes Entschuldigung für Rosenkohl.
8.5.14 – Auf Amrum gibt es keine Unterwäsche. 
9.5.14 – Gegenüber unserer Ferienwohnung Mutter und Tochter. Mutter gehbehindert, Tochter gestresst. Die Mutter wirkt jünger als die Tochter. 

Sprechende Steine: http://de.wikipedia.org/wiki/Sprechende_Steine

Sonntag, 13. April 2014

Tschernobyl-Zyklus (6) – Das Ende


Während  vieler Monate in der Zone, hatte ich begonnen, die Belastung und die Erschöpfung für Leib und Seele zu fühlen. Es schien mir überhaupt unmöglich, mich zu erholen. Wir mussten 15 Tage im Monat arbeiten, vorausgesetzt, dass wir in den folgenden 15 Tagen die Kräfte wiederherstellen konnten. Aber offenbar hatte sich in mir die verteufelte Strahlung angehäuft. 

Einmal fuhr ich nach der Arbeit am Reaktor nach Hause zur Erholung. Im Abteil des Zuges fuhren mit mir drei Normalbürger, zwei Frauen und ein Mann. Aus der äusseren Tasche meiner Jacke war wie gewohnt mein Geigerzähler zu sehen . Der Mann fragte mich, was das für ein Ding sei. Dummerweise sagte ich, dass ich aus Tschernobyl nach Hause fahre und dass dies der Zähler für die Strahlung sei. Aus der Toilette zurückkommend, fand ich die Reisegefährten nicht mehr im Abteil vor, sie hatten sich in einen anderen Wagen verflüchtigt. Die Schaffnerin sagte, dass die Leute aus den benachbarten Abteilen sie baten, mich woanders unterzubringen. Ich habe mich im Spiegel angestarrt und entdeckte die spezifische Todesblässe auf meiner Physiognomie. Offenbar rief es bei den Menschen Angst hervor. Ich verstand, dass mein Tschernobylepos zur Neige geht.

In die Zone zurückgekeht, begann ich, mich für die in mir angesammelte Dosis der Strahlung zu interessieren und entdeckte, dass sie mit dem lebenden Menschen schlecht vereinbar ist. Für die Ärzte war ich ein Exponat, ein Versuchsgegenstand. Obwohl ich mit Sicherheit invalide war, boten sie mir händevoll farbiger Tabletten an. Ich schaute meine Mitmenschen an, die diesem Unsinn vertraut hatten; ich war entsetzt und flüchtete wie ein gemeiner Feigling aus dem Krankenhaus. Hinterher bekam ich Empfehlungen, viel im Bett zu liegen und mich nicht der Sonne auszusetzen. Aber genau das Gegenteil muss man tun. 

Ich verdingte mich in der Steppe in der Brigade der Ackerbauern, erntete unter der sengenden Sonne, zusammen mit gewandten, erfahrenen Mädchen jeden Alters, den Kohl, die Rüben, fünf Kilometer lange Reihen. Sie waren aber menschlich und schonten mich. Sie liessen mich 10 Minuten arbeiten, dann durfte ich mich eine halbe Stunde an den Feldrand legen, dann wieder 10 Minuten arbeiten usw. Ich trank den selbstgebrannten Schnaps in gleichen Mengen wie sie und litt unter Erbrechen und Kraftlosigkeit. Nach einiger Zeit merkte ich, dass die Lebenden den Toten vom Tode gesundgepflegt hatten.

Seit jener Zeit habe ich irgendwie 25 Jahre überlebt und wollte endlich meine Tschernobylgeschichte beenden, aber der Teufel hat mich geritten, den Staat um eine Rente als Liquidator zu bitten. Ich besass alle Dokumente meiner Tätigkeiten, doch die erhabene Kommission von fünf mir unbekannten Bürokratinnen hatte entschieden, dass ich keine Funktion ausgeübt  hätte, nicht dort war, nicht diente, und hat mir eine Rente von 90 Euro ausgesetzt. O, Russland, meine Heimat! 

Doch das ist noch nicht das Ende. Ich habe mich auf gut Glück an die Königin Beatrix von den Niederlanden gewandt, bat sie um ihre Hilfe, da ich unter Einsatz meines Lebens, Europa vor vielen Unannehmlichkeiten, vor radioaktiver Verschmutzung geschützt habe. Es kam die Antwort: die Königin hilft niemandem persönlich. 


Also, das ist das ganze Ende. Ich bin bis jetzt lebendig, obwohl es überhaupt nicht sein kann -  „kuckuck“.

Андрей Дроздов-Рабе

Andreas Amsel-Rabe

Donnerstag, 10. April 2014

Tschernobyl-Zyklus (5) – Der Pfarrer mit der Ikone


Unter dem Einfluss der radioaktiven Verseuchung befand sich auch die Kirche, und ich denke, es war nicht die einzige. Einmal kam der orthodoxe Pfarrer zu uns in die Zone, um die Tempelikonen mitzunehmen. Eine von ihnen wurde besonders verehrt in der Art eines wunderwirkenden Heiligenbildes. Wir messen die Strahlungsintensität der Ikone, sie erweist sich als ziemlich stark. Meine Warnung ist eindeutig: die Ikone darf nicht mitgenommen werden, sie muss in der Zone bleiben. Außerhalb der Zone kann sie Menschen, die sich ihr nähern, verstrahlen. Wir versuchen die Tafel der Ikone reinzuwaschen, aber es bringt nichts. Es war klar: die Ikone war zwei Mal heilig – einmal wegen dem unsichtbaren, geistigen, wunderschaffenden Licht, und ein andermal durch das Leuchten der hohen Strahlung. Kurz und gut gelang es mir nicht, den Vater zu überreden, und er hat die Ikone mitgenommen, sie illegal durch die Absperrung gebracht. Sein Glaube war stark, aber wenigstens wusste er, dass die Ikone außer Heilung auch den Tod bringen kann.

Einige Schlussfolgerungen, die ich nach Abschluss meiner Tätigkeit der Liquidation in der Tschernobylzone gemacht habe.

Die Sinnesorgane und die gewohnheitsmäßigen Verhaltensweisen des Menschen wurden der Prüfung unterzogen. Man muss wieder lernen zu leben, zu essen, zu schlafen und allen einfachen menschlichen Beschäftigungen nachzugehen, man muss nun alles anders tun. Die Augen sehen grüne Gräser, Teiche; die Ohren hören die Vögel. Man will sich ins Gras legen um sich auszuruhen, doch das Gerät zeigt eine hohe Strahlung an, und man darf nicht stehenbleiben, man muss sich von dieser Stelle sehr schnell wegbewegen. 


Das andere Bild: Betonwände, irgendwelche hässlichen Schächte, die abscheuliche Landschaft, das Auge will das nicht sehen - diese furchtbare Stelle. Aber die Geräte zeigen an, dass diese Stelle sauber ist, ihr könnt stehenbleiben, um euch zu erholen, neuen Atem zu schöpfen. Es gibt ganz andere Kriterien für die Erholung und für die Arbeit. Es ist wirklich so: traue deinen Augen nicht! Die Regeln für die Kleidung, die Mode, die Schönheit, die Sicherheit. Der weiße nagelneue Anzug, der dir gut passt, kann sich als schmutzig, von einer Minute auf die andere als verseucht erweisen. Wir bemühten uns, in der Zone unsere Speisesäle, den Ort unserer Nahrungsaufnahme, reinzuhalten. Beim Eingang steht ein Einlassgerät, welches anzeigt, dass du schmutzig bist, dass du strahlst. Du gehst wieder zurück, wäschst dich sauber, tauschst die Kleidung, aber das Einlassgerät lässt dich wieder nicht zum Essen durch. Das bedeutet, dass nicht die Kleidung schmutzig ist, sondern du selbst. Gott bewahre, dass dies nicht die Zukunft für uns alle werden wird.

Андрей Дроздов-Рабе
Andreas Amsel-Rabe 

Montag, 7. April 2014

Tschernobyl-Zyklus (4) – Der Ortsbewohner

Andreas Amsel-Rabe mit essbaren Knollenblätterpilzen

Einmal kommt einer der Liquidatoren zu mir. Er sagt:
„Ich bin komme aus Tschernobyl. Mich evakuierten sie zusammen mit meiner Familie aus unserem Haus. Um jeden Preis wollte ich hierher zurückkehren. Ich will nach Hause gehen, um zu schauen, wie es dort aussieht.“

Er bat inständig um Genehmigung – also sind wir gefahren. Wir kommen nach Tschernobyl. Ein Weg aus Holzlatten, ein hölzernes Häuschen, ein Gärtlein. Ihm kommen die Tränen, seine Nase läuft. Er findet das Heft des Töchterchens mit den Sechsern, mit den Einsern, und ich folge ihm in die Strahlenintensität. Aber bei diesen Werten kann man gerade noch spazierengehen. Er fing an gereizt auf mich einzureden und wollte unbedingt auf den Friedhof zu den Eltern fahren. Der jüdische Friedhof ist riesig, das Städtchen scheint kleiner als der Friedhof zu sein. Wir gehen hin und das Gerät zeigt eine ziemliche Strahlenintensität an. Die Gräber sind wie üblich mit dem Davidstern versehen, doch wir müssen dringend von da weg. Ich musste ihn gewissermassen gewaltsam von dort herausholen.

Андрей Дроздов-Рабе
Andreas Amsel-Rabe 

Samstag, 29. März 2014

Tschernobyl-Zyklus (3) – Die Liquidatoren


Die Explosion erzeugte eine noch nie dagewesene Situation. Am Himmel blies der Wind die Wolken in alle Richtungen, welche verstrahlten Regen fallen liessen, wo immer sie wollten. Auf der Erde flossen überall verseuchte Flüsse und auch die Erde selbst verstrahlte den Tod. In dieser Situation war es notwendig, einen gewissenTeil der Bevölkerung zu opfern, um die schlimmen Folgen des Unfalls zu verringern. Diese Opfer waren hauptsächlich Männer, älter als 32 Jahre, gesund und Erzeuger von mindestens zwei Kindern. Sie bekamen den Namen Liquidator. Ihre Aufgabe war: den Reaktor mit Beton einzuhüllen, um ihn herum einen Sarkophag anzufertigen damit er nicht mehr strahlen konnte, alle umliegende verseuchte Erde einzusammeln und sie in Endlager wegzuschaffen, die Strahlung von allem was von Wert sein konnte abzuwaschen, sich selbst zu verstrahlen und zu sterben. Natürlich hatten sie keinerlei Erfahrung, in verstrahlten Gebieten zu arbeiten. Es war eine hilflose Herde, die in der Zone eintraf und sie machte solchen Unsinn, der erstaunte, selbst in einem so erstaunlichen Land und in einer so erstaunlichen Zeit. Sie sammelten und assen Pilze aus dem verstrahlten Wald, sie fischten und salzten Fische ein aus den verstrahlten Teichen, sie versuchten so zu leben wie bisher und brachten sich so in grosse Gefahr.
Zu dieser Zeit hatte ich die nukleare Hochschule längst abgeschlossen und bereits mit funktionierenden Reaktoren gearbeitet. Mich als Liquidator in höchstem Amt, schickte  man näher an den Reaktor als alle anderen. Unter mir arbeiteten Leute, die bei Gott nichts verstanden, weder was sie zu tun hatten, noch wo sie sich befanden und die über mir, die Könige aus Kiew, kamen vorübergehend angereist, und ich musste ihnen berichten, was ich mit dem Reaktor mache, und sie wiederum berichteten ihren Vorgesetzten, was sie von mir erfuhren.
In meiner Nähe arbeiteten Kollegen und Freunde: Ärzte und Radiologen, die keinem Menschen helfen, sondern nur die irreversiblen Prozesse, die sich im Organismus ereigneten, beobachten konnten. Soldaten und Offiziere, die in ungleichem Kampf mit der Strahlung aufeinander trafen, konnten nur verlieren. Physiker und Ingenieure, die sich bis zu diesem Zeitpunkt kaum vorstellen konnten, wie ein Reaktor arbeitet. Aber wir alle plusterten uns auf wie Helden; freilich, die, die schlauer waren, taten es nur zum Schein. So war die Zusammensetzung der Liquidatoren zu dieser Zeit. 
Heute, 25 Jahre später, hat sich ihre Anzahl aufgrund der Todesfälle stark vermindert, doch die Anzahl der heldenhaften Trittbrettfahrer, die sich eingeschlichen haben,  ist plötzlich stark gestiegen. 
Ich werde ein paar kurze Szenen aus dem alltäglichen Leben der Liquidatoren beschreiben.
Die erste Gruppe von Liquidatoren waren 300 Wehrpflichtige.Ich gehe die Reihe entlang und schaue diesen Menschen in die Augen. Viele von ihnen haben grosse Angst, Angst vor dem Unbekannten. Von den 300 können nur zehn arbeiten, ohne ihren Kopf zu verlieren, die übrigen müssen irgendwie geschont und ein paar Monate später zurückgeschickt werden. 
Eine gewöhnliche Unterhaltung: „Chef, ich habe Familie, eine starke Frau. Wird mein Penis noch stehen oder nicht? Die Familie wird sonst auseinanderbrechen.“„Herr, aber woher soll ich das wissen? Bei jedem ist es anders.“
Ein anderes Gespräch. „Ich bin Schweissermeister. Ich bin Drechslermeister. Gib uns Arbeit, wir werden tun was du willst.“„Ich kann nicht, bei Gott, ich kann nicht, ich habe keine solche Arbeit. Ich habe absolut keine, nur eine so blöde - hebe einen Stein auf und wirf ihn weg.“
Noch eine Szene vor einer Gruppe in Reih und Glied. Frage: „Haben wir Schreiner?“ Einige treten vor. „Ihr könnt Särge machen.“ „Für wen?“ „Ich weiss noch nicht. Särge auf Vorrat.“

Die nächste Szene, genannt das "Anzüglein". Für die Arbeit in besonders gefährlichen Bereichen mit hoher Verstrahlung, hatten wir auf Bestellung einen speziell berechneten Schutzanzug herstellen lassen, der die Strahlung auf den menschlichen Körper reduziert. Die Berechnungen und die Herstellung nahmen erhebliche Zeit in Anspruch. Und da- endlich, kam unser Anzug. Fertig sah er aus, wie eine Weste und Unterhosen. Überall waren Taschen angenäht, die mit bleiernen Schrotkugeln gefüllt waren, etwa 10-12 cm dick. Ich forderte drei Jungen auf, diese Anzüge auszuladen, was sie nur mitgrösster Mühe bewerkstelligen konnten. Und leider, anziehen und tragen konnte diesen Anzug niemand. 

Андрей Дроздов-Рабе
Andreas Amsel-Rabe 

Mittwoch, 26. März 2014

Tschernobyl-Zyklus (2) – Prypjat


Nicht weit vom Atomkraftwerk entfernt, war eine Neubaustadt für das Dienstpersonal und für tausende von Einwohnern gebaut worden. In Prypjat gab es moderne Häuser und die ganze Infrastruktur zum Leben. Die Leute lebten gut und zufrieden. Rundherum war Wald voller Beeren und Pilze, es gab Flüsse und Seen mit Fischen. Die Menschen verdienten gutes Geld, sie schafften sich ein Auto an, ein Boot. Die Frauen und Kinder begannen Fett anzusetzen; Übergewicht wurde sogar zum Problem.
Und plötzlich ereignet sich im Kraftwerk die laute Explosion. Die ganze Stadt hört es und erstarrt mit der stummen Frage – was war das? Wieviel Zeit verging, bis die Leute merkten, dass gegen sie ein nuklearer Angriff begonnen hatte? Erst nach zwei, drei Tagen wurden die verwirrten Leute in Autobusse gesteckt und aus der Zone weggebracht. Das ganze Eigentum: Kleider, Nahrungsmittel, sogar das Geld und die Ausweise waren verstrahlt und mussten in der Zone zurückgelassen werden. Der Mensch wird weggeschickt, beinahe nackt, einer ungewissen Zukunft entgegen. Das gleicht dem Tod, nicht wahr?

Und hier das erste Bild, welches sich mir bot, als ich in der Zone der Explosion in der Eigenschaft als Liquidator ankam. Prypjat nach dem Unfall: Eine  hochmoderne Stadt, die Häuser, die Geschäfte, die Autos  stehen verlassen  an der Strasse. Es sieht aus, wie eine Fotografie des bewegten Lebens. Eine erstarrte, menschenleere Stadt. Die einzigen Lebewesen in der Stadt sind die Hunde: Bulldoggen, Schäferhunde, Hunde welche von ihren reichen Besitzern zurückgelassen worden waren, um nun unter den schweren Bedingungen der Strahlung zu leben. Die Hunde versammelten sich in Rudeln, wählten ihre Anführer und repräsentierten eine organisierte Kraft. Mit ihnen wurde nur die Armee fertig. Sie erschossen sie mit Maschinengewehren von den Türmen der SPW und so war die Stadt vollständig leer.
Andreas Amsel-Rabe
Андрей Дроздов-Рабе