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Mittwoch, 2. Dezember 2015

Ruth Sackner

Ruth & Marvin Sackner

Anfang der 1990er Jahre lag in meinem wackeligen Briefkasten im zweiten Hinterhof in der Urbanstraße in Berlin-Kreuzberg ein Brief mit gedruckten kyrillischen Zeichen und dem Absender „The Ruth & Marvin Sackner Archive of Visual and Concrete Poetry, Miami Beach“. Der Brief selbst war handschriftlich von Marvin Sackner geschrieben worden. Er erkundigte sich nach der Möglichkeit, die Zeitschrift „teraz mowie - Hefte für visuelle Poesie“ komplett zu erwerben. Den Tipp muss er aus Russland von den inzwischen verstorbenen Neofuturisten Serge Segay und Rea Nikonova bekommen haben. Und natürlich gab es die Möglichkeit, diese Hefte und noch viel mehr zu beziehen. Bei unseren weiteren Korrespondenzen wurde schnell deutlich, dass die Sackners das weltgrösste Archiv für Künstlerbücher und -editionen angesammelt hatten –  voller leidenschaftlicher Hingabe an die erworbenen Werke, mit denen sie ihr Haus gestalteten, Gäste aus aller Welt empfingen oder externe Ausstellungen konzipierten. Unter den Sammlern von Künstlerbüchern sind sie die Superstars. 

Man weiß nie so genau, wer bei einem Sammlerpaar dieser Klasse die Initiative für die private Sammlung ergreift. Ist sie geteilt? Gibt es gemeinsame Vorlieben, Abneigungen, gegensätzliche Impulse. Meine Korrespondenz  fand ausschliesslich mit Marvin statt.
Gelegentlich rief ich bei den Sackners an und einmal sprach ich mit Ruth über Menschen in öffentlichen Institutionen, die in herausragender Position sind, aber überhaupt keine Impulse für die Sammlung haben. Warum die ausgerechnet mit Kunst zu tun haben, weiß niemand. Beim Finanzamt wären sie vermutlich viel effektiver. Für Ruth waren das Menschen ohne langen Atem, ohne Leidenschaft für die Kunst, ohne Ausdauer. 

Eine Sammlung steht und fällt mit dem, der sie betreibt. Die Hasardeure waren mir da immer lieber als die Bürokraten, die dauernd wegen ihres Etats jammern. Und ich erinnere mich sehr gern an eine Bekannte in einer namhaften Bilbliothek, die gegen die Anordnung ihrer Direktorin, die lieber das Geld in die Digitalisierung des Bestands investieren wollte, weiterhin einfach Künstlerbücher erwarb und sich einen endlosen Kleinkrieg mit der Dame lieferte, bis sie nach etlichen Abmahnungsbescheiden per Gerichtsbeschluss rausgeschmissen wurde. Der Bestand der Bibliothek mag nun online verfügbar sein. Na und? Mich interessiert da eher der Dubuffet im Grafikschrank. 

Kurz bevor die Sackners als aktive Sammler aufhörten, besuchten sie mich noch einmal in Berlin. Wir verbrachten einen sehr entspannten Tag am Potsdamer Platz und in meinem 12 Quadratmeter großen Zimmer in Schöneberg, zu dritt auf wackeligen Stühlen, wobei einer zusammenkrachte. Ruth ist mir als eine attraktive, warmherzige Frau in Erinnerung geblieben. Heute schrieb mir Marvin, daß sie am 11. Oktober 2015 im Schlaf gestorben ist. 

H.A.

Sackner-Archive:

1 Kommentar:

  1. das Bild von den beiden - eine eindrucksvolle Ergänzung zu deinen Nachruf auf ein Sammlerleben, beide sind im MMM-Diarium ja immer wieder erwähnt ...

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