Translate

Samstag, 29. März 2014

Tschernobyl-Zyklus (3) – Die Liquidatoren


Die Explosion erzeugte eine noch nie dagewesene Situation. Am Himmel blies der Wind die Wolken in alle Richtungen, welche verstrahlten Regen fallen liessen, wo immer sie wollten. Auf der Erde flossen überall verseuchte Flüsse und auch die Erde selbst verstrahlte den Tod. In dieser Situation war es notwendig, einen gewissenTeil der Bevölkerung zu opfern, um die schlimmen Folgen des Unfalls zu verringern. Diese Opfer waren hauptsächlich Männer, älter als 32 Jahre, gesund und Erzeuger von mindestens zwei Kindern. Sie bekamen den Namen Liquidator. Ihre Aufgabe war: den Reaktor mit Beton einzuhüllen, um ihn herum einen Sarkophag anzufertigen damit er nicht mehr strahlen konnte, alle umliegende verseuchte Erde einzusammeln und sie in Endlager wegzuschaffen, die Strahlung von allem was von Wert sein konnte abzuwaschen, sich selbst zu verstrahlen und zu sterben. Natürlich hatten sie keinerlei Erfahrung, in verstrahlten Gebieten zu arbeiten. Es war eine hilflose Herde, die in der Zone eintraf und sie machte solchen Unsinn, der erstaunte, selbst in einem so erstaunlichen Land und in einer so erstaunlichen Zeit. Sie sammelten und assen Pilze aus dem verstrahlten Wald, sie fischten und salzten Fische ein aus den verstrahlten Teichen, sie versuchten so zu leben wie bisher und brachten sich so in grosse Gefahr.
Zu dieser Zeit hatte ich die nukleare Hochschule längst abgeschlossen und bereits mit funktionierenden Reaktoren gearbeitet. Mich als Liquidator in höchstem Amt, schickte  man näher an den Reaktor als alle anderen. Unter mir arbeiteten Leute, die bei Gott nichts verstanden, weder was sie zu tun hatten, noch wo sie sich befanden und die über mir, die Könige aus Kiew, kamen vorübergehend angereist, und ich musste ihnen berichten, was ich mit dem Reaktor mache, und sie wiederum berichteten ihren Vorgesetzten, was sie von mir erfuhren.
In meiner Nähe arbeiteten Kollegen und Freunde: Ärzte und Radiologen, die keinem Menschen helfen, sondern nur die irreversiblen Prozesse, die sich im Organismus ereigneten, beobachten konnten. Soldaten und Offiziere, die in ungleichem Kampf mit der Strahlung aufeinander trafen, konnten nur verlieren. Physiker und Ingenieure, die sich bis zu diesem Zeitpunkt kaum vorstellen konnten, wie ein Reaktor arbeitet. Aber wir alle plusterten uns auf wie Helden; freilich, die, die schlauer waren, taten es nur zum Schein. So war die Zusammensetzung der Liquidatoren zu dieser Zeit. 
Heute, 25 Jahre später, hat sich ihre Anzahl aufgrund der Todesfälle stark vermindert, doch die Anzahl der heldenhaften Trittbrettfahrer, die sich eingeschlichen haben,  ist plötzlich stark gestiegen. 
Ich werde ein paar kurze Szenen aus dem alltäglichen Leben der Liquidatoren beschreiben.
Die erste Gruppe von Liquidatoren waren 300 Wehrpflichtige.Ich gehe die Reihe entlang und schaue diesen Menschen in die Augen. Viele von ihnen haben grosse Angst, Angst vor dem Unbekannten. Von den 300 können nur zehn arbeiten, ohne ihren Kopf zu verlieren, die übrigen müssen irgendwie geschont und ein paar Monate später zurückgeschickt werden. 
Eine gewöhnliche Unterhaltung: „Chef, ich habe Familie, eine starke Frau. Wird mein Penis noch stehen oder nicht? Die Familie wird sonst auseinanderbrechen.“„Herr, aber woher soll ich das wissen? Bei jedem ist es anders.“
Ein anderes Gespräch. „Ich bin Schweissermeister. Ich bin Drechslermeister. Gib uns Arbeit, wir werden tun was du willst.“„Ich kann nicht, bei Gott, ich kann nicht, ich habe keine solche Arbeit. Ich habe absolut keine, nur eine so blöde - hebe einen Stein auf und wirf ihn weg.“
Noch eine Szene vor einer Gruppe in Reih und Glied. Frage: „Haben wir Schreiner?“ Einige treten vor. „Ihr könnt Särge machen.“ „Für wen?“ „Ich weiss noch nicht. Särge auf Vorrat.“

Die nächste Szene, genannt das "Anzüglein". Für die Arbeit in besonders gefährlichen Bereichen mit hoher Verstrahlung, hatten wir auf Bestellung einen speziell berechneten Schutzanzug herstellen lassen, der die Strahlung auf den menschlichen Körper reduziert. Die Berechnungen und die Herstellung nahmen erhebliche Zeit in Anspruch. Und da- endlich, kam unser Anzug. Fertig sah er aus, wie eine Weste und Unterhosen. Überall waren Taschen angenäht, die mit bleiernen Schrotkugeln gefüllt waren, etwa 10-12 cm dick. Ich forderte drei Jungen auf, diese Anzüge auszuladen, was sie nur mitgrösster Mühe bewerkstelligen konnten. Und leider, anziehen und tragen konnte diesen Anzug niemand. 

Андрей Дроздов-Рабе
Andreas Amsel-Rabe 

Mittwoch, 26. März 2014

Tschernobyl-Zyklus (2) – Prypjat


Nicht weit vom Atomkraftwerk entfernt, war eine Neubaustadt für das Dienstpersonal und für tausende von Einwohnern gebaut worden. In Prypjat gab es moderne Häuser und die ganze Infrastruktur zum Leben. Die Leute lebten gut und zufrieden. Rundherum war Wald voller Beeren und Pilze, es gab Flüsse und Seen mit Fischen. Die Menschen verdienten gutes Geld, sie schafften sich ein Auto an, ein Boot. Die Frauen und Kinder begannen Fett anzusetzen; Übergewicht wurde sogar zum Problem.
Und plötzlich ereignet sich im Kraftwerk die laute Explosion. Die ganze Stadt hört es und erstarrt mit der stummen Frage – was war das? Wieviel Zeit verging, bis die Leute merkten, dass gegen sie ein nuklearer Angriff begonnen hatte? Erst nach zwei, drei Tagen wurden die verwirrten Leute in Autobusse gesteckt und aus der Zone weggebracht. Das ganze Eigentum: Kleider, Nahrungsmittel, sogar das Geld und die Ausweise waren verstrahlt und mussten in der Zone zurückgelassen werden. Der Mensch wird weggeschickt, beinahe nackt, einer ungewissen Zukunft entgegen. Das gleicht dem Tod, nicht wahr?

Und hier das erste Bild, welches sich mir bot, als ich in der Zone der Explosion in der Eigenschaft als Liquidator ankam. Prypjat nach dem Unfall: Eine  hochmoderne Stadt, die Häuser, die Geschäfte, die Autos  stehen verlassen  an der Strasse. Es sieht aus, wie eine Fotografie des bewegten Lebens. Eine erstarrte, menschenleere Stadt. Die einzigen Lebewesen in der Stadt sind die Hunde: Bulldoggen, Schäferhunde, Hunde welche von ihren reichen Besitzern zurückgelassen worden waren, um nun unter den schweren Bedingungen der Strahlung zu leben. Die Hunde versammelten sich in Rudeln, wählten ihre Anführer und repräsentierten eine organisierte Kraft. Mit ihnen wurde nur die Armee fertig. Sie erschossen sie mit Maschinengewehren von den Türmen der SPW und so war die Stadt vollständig leer.
Andreas Amsel-Rabe
Андрей Дроздов-Рабе

Montag, 24. März 2014

Tschernobyl-Zyklus (1) – Andreas-Evangelium


Auf der griechischen Insel Gavdos hat der Hybriden-Freund Hartmut Geerken den russischen Nuklearphysiker Andreas Amsel-Rabe kennen gelernt, der in der Zeit der Reaktor-Katastrophe in Tschernonyl gearbeitet hat. Geerken bat ihn vor einiger Zeit, seine Geschichte aufzuschreiben. Die wird hier zum ersten Mal im „Daten-Messie“ in sechs Folgen veröffentlicht. Der Tschernobyl-Zyklus wird hier so übernommen, wie er gepostet wurde.
(H.A.)

Ich bin im Jahre 1947 in Berlin geboren von einem russischen Mädchen und einem deutschen Jungen, was zu dieser Zeit und an diesem Ort nicht üblich war. 
Ich träume davon ein deutscher Schriftsteller zu werden, in einer Sprache schreibend, die die Deutschen nicht verstehen. Ich strebe nach meinem Ideal – Hartmut Geerken. Es ist eine Ehre für mich, dass meine Geschichte im deutschsprachigen Raum nicht nur veröffentlicht, sondern dort auch begraben sein wird, so wie auch die Geschichten meines Lehrers.

Андрей Дроздов-Рабе
Andreas Amsel-Rabe

Родился я в 1947 году, в Берлине от русской девушки и немецкого парня, что в то время и в том месте было необычно. Мечтаю стать немецким писателем, пишущем на непонятном для немцев языке. Стремлюсь к моему идеалу - Гиркину Хартмуту. Почту за честь быть не только опубликованным в немецком языковом пространстве но и быть похороненым в нём, как мой учитель.

Андрей Дроздов-Рабе
Andreas Amsel-Rabe 


Tschernobyl, 26. April, im Jahre 1986 n.Chr. 

Das Andreas-Evangelium, 25 Jahre später

Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf ein Drittel der Flüsse und auf die Quellen. Der Name des Sterns ist Wermut. Ein Drittel des Wassers wurde bitter und viele Menschen starben durch das Wasser, weil es bitter geworden war.
Tschernobyl ist eine winzige, hebräische Siedlung in der Ukraine. Der Name bedeutet aus dem Ukrainischen übersetzt Wermut, das bitterste aller Kräuter. In der Tat wächst dieses Kraut dort sehr verbreitet. Allgemein ist Tschernobyl ein Ort von märchenhafter Schönheit: Kleine Häuschen, die in Gärten ertrinken, sauberes, klares Wasser in den Seen, überall leuchtendes Grün, Frieden und Ruhe. Doch der grosse Stern Wermut ist mit seiner Leuchtkraft nicht genug. In einigen Köpfen wurde die Idee geboren, an diesem paradiesischen Ort einen Atomreaktor mit hoher Leistungskraft zu bauen. Der Reaktor wurde durch die umliegenden Gewässer gekühlt und die Wasser wurden allmählich bitter. Der Reaktor arbeitete und arbeitete, aber die Vorhersehung des weisen Johannes erfüllte sich zur rechten Zeit.
Schwierig zu verstehen, was die Ursache der Tragödie dieser Tage war. Es gab dutzende Gründe, die zusammentrafen und sich aneinanderreihten für die Begegnung mit dem Engel. Ganz Russland befand sich zu dieser Zeit im Schüttelfrost. Das staatliche Kommando konnte keine koordinierten Handlungen vornehmen, die Direktion des Atomkraftwerkes von Tschernobyl verfügte nicht über die notwendige Qualifizierung usw. Im Frühling des Jahres 1986 grub sich auf der Stirn aller an diesem Prozess Beteiligten sichtbar das Siegel des Wahnsinns ein – die Ferse des Engels. Dieser Reaktor war nicht für Explosionen bestimmt, sondern nur für einen langsam gelenkten, stabilen Zustand. Im April fingen die Verantwortlichen jedoch an, den Reaktor mit Versuchen zu foltern, ihm Lebensbedingungen gebend, welche er nicht aushalten konnte. Und er antwortete mit einer Explosion, mit einer Katastrophe und mit dem Ausstoss von radioaktivem Abfall. Hier begann die reine Hölle. Die Angst ging um in den Seelen der Menschen in ganz Europa.
Nach diesem Unfall erschienen Anzeichen für andere Lebensformen des Menschen. Sowie das Atom gespalten war, strahlte von ihm eine gewaltige Energie aus, welche nun schwierig zu bewältigen ist. Diese Energie kann nicht nur erwärmen, sondern auch verbrennen, töten. Vor Tschernobyl war es theoretisch möglich vorauszusehen, wie es bei einem Krieg aussehen könnte. Tschernobyl zeigte mit der Ankunft dieser Kraft im europäischen Haus, in der Familie, im Körper des Europäers, wie so ein Krieg aussehen könnte; ohne jeden Krieg. Wie sollst du dich verhalten, wenn die Organe des Menschen die tödliche Gefahr, welche von der Kernkraft ausgeht, nicht fühlen können? Weder die Augen, noch die Ohren, noch die Haut können sehen, hören und fühlen, dass du bereits tödlich erkrankt bist. 

Und es werden unter uns seltsame Missgeburten und Mutanten geboren. Wie du dich verhalten sollst - diese Frage stellten sich vorher nur Atomwissenschaftler, Ärzte, Soldaten und Offiziere der Armee. Nun stellt sie sich friedlichen Bürgern, Frauen und Kindern.  

Montag, 17. März 2014

Adipöse Manga-Convention auf der Leipziger Buchmesse

Halle 3: durstige Papierschnitt-Vögel
Wo kommen die nur alle her? Mädchen mit weissen Strapsen, wo das Fleisch üppig hervorquellt als würden sie Stützstrümpfe tragen. Meterweise Bauchfett und Hüftrollen, gewaltige Waden und Oberschenkel. Mini-Faltenröcke, Roben, Schweineohren und -nasen, goldene, lila und rosa Haare. Die Originalität geht in der Masse dieses zur Schau gestellten Fettes auf Plateausohlen unter.

Es fehlen eigentlich dabei noch begleitende Tiere: ein Strauss oder Emu an einer goldenen Kette geführt, ein halber Elefant auf einem Gabelstapler von jemand gefahren, der einen noch blutenden Stierkopf trägt, eine Elfe mit Eselsohren, die von einer Boa constrictor gewürgt wird.

Ich habe meine Meinung über die Manga-Bewegung geändert. Ich hielt sie zunächst für einen No-Logo-Betrieb, ein Festival des Eigendesigns und der virtuellen Kunst. Die Massen der Manga-Convention auf der Leipziger Buchmesse, wo für Comics, Filme, Kostüme eine eigene Halle zur Verfügung gestellt wurde, haben mich eines besseren belehrt.  


Manga als Anti-Transgender. Die Frauen sind entweder Königinnen, Feen, Elfen oder Schweine und die wenigen kostümierten Männer Ritter oder Krieger. Die Rollenklischees zwingen die Phantasie in die Knie.

Montag, 10. März 2014

Ampelmann-Drama

… - Tian'anmen 1989 - Madrid 1808

Es ist eines der Bilder, das die Brutalität des Regimes aus der Perspektive der Opfer darstellt - eine Perspektive der Ohnmacht gegenüber einer unentrinnbaren, gesichtslosen Gewalt.

Der Betrachter des Bildes verspürt dabei ein gewisses Unwohlsein, findet er sich doch auf der Seite der Soldaten wieder, welche nur von seitlich zu sehen sind und als kalte, präzise Mordmaschinen agieren. Das Opfer hingegen wird individualisiert und durch die Farbgebung gezielt herausgehoben.

Der so vorgezeichnete Ablauf verdeutlicht die Ausweglosigkeit eines Kreislaufes, der nicht durch Erlösung zu durchbrechen ist.

Daran ändern auch die Hinweise auf eine christliche Ikonographie nichts: die "gekreuzigte" Haltung der Zentralfigur, das Rot ihrer Bekleidung als Farbe des Katholizismus, schließlich das strahlende Licht. Anders als im Märtyrertum folgt der Tod des Aufständischen keinem höheren Zweck, verweigert sich Erleuchtung und Heilserwartung. Das Opfer stirbt in Würde, fleht es doch nicht um Gnade, sondern bietet sich mit weit geöffneten Armen den Schüssen dar.

Die grobe Darstellung und die fehlende Darstellung des Raumes tragen zu der Modernität des Bildes bei.

R.M.

Donnerstag, 6. März 2014

Energiebeutel und Zeitblase

Foto: Anno Dittmer, Die Tödliche Doris frühstückt (1981)
Wolfgang Müller, Dagmar Dimitroff und Nikolaus Utermöhlen

Wo die Natur dem lernenden Schaf nicht die Kraft verweigert, ein gutes Schaf zu sein, kann es der Mehrheit unserer Menschenkollegen doch nicht bestimmt sein, als geschmackvoll gemustertes Räupchen durch den Kosmos zu purzeln.

Dem Schaf kommt es aufgrund seiner schafigen Identität zu, sich ausschließlich mit seiner materiellen Existenz zu beschäftigen.

Es ist dem Tod völlig ausgeliefert und frisst deshalb vorher so viel es kann.
Der Tod kann es zu jeder Stunde ereilen, und so erfüllt es fleißig seine, ihm von der Natur auferlegten Aufgaben und hat einmal im Schlaf Zeit.

Die Zeit liegt hinter uns, zwischen Asien und Europa, neben einer „Fotokopie der Geburtsurkunde der Menschheit“, man trifft dort ein paar zerlumpte Soldaten, darunter den Schwätzer (Bazon) Brock und einen armen Irren, der sich tatsächlich totgelacht hat, als ihn eine Vision des auf dem Wasser wandelnden Petrus ereilte.

In Wirklichkeit aber steckt die Zeit in einer mikroskopisch kleinen Hirnblase, die als pralles Säckchen zwischen den beiden Energiebeuteln des menschlichen Gehirns klebt.

Sind die Energiebeutel eines Menschen ausreichend mit Nahrung versorgt, der Stoffwechsel intakt, können diese eine solche Größe annehmen, dass sie die Zeitblase zusammendrücken, und die Zeit somit zu einem nebensächlichen Thema für den Betreffenden machen. Das Wachstum der Energiebeutel wird durch die Wachstumsbereitschaft des jeweiligen Energiebeutelträgers bestimmt. Es kann statistisch belegt werden, dass die sozialen und genetischen Zwischenhäutchen in keinem direkten Zusammenhang mit dem Energiebeutelwachstum stehen. Dass es trotzdem nur wenigen Menschen gelingt, die Zeitblase zu zerdrücken, ohne dass dies eine bloße Begleiterscheinung des Todes wäre, hat seine Ursache in den allgemein gefürchteten, aber notwendigen Wachstumsschmerzen. Wachstumsschmerzen treten bei gesunden Menschen zwischen dem 17. Und 28. Lebensjahr auf, äußern sich als Zahnschmerz, Gelenkschmerz, Weltschmerz und Kopfschmerz. Sie sind daran zu erkennen, dass sie aus heiterem Himmel fallen, von Ärzten falsch diagnostiziert werden, und von witzelnden Dämonen besessen sind, die dem Wachsenden suggerieren, er habe Rheuma, Krebs oder die Gicht. Spätestens in dieser Phase hat jeder Energiebeutelträger seine erste ernsthafte Begegnung mit dem Tod. Viele begehen Selbstmord. Einige wenige überstehen diesen Kampf schadlos.


Sie zerdrücken die Zeitblase, deren Saft nun durch sämtliche Gehirnwindungen läuft, um schließlich durch eine winzige Öffnung in der Schädeldecke, die ungefähr den Durchmesser einer Stecknadel hat, herauszuspritzen. Dieser Vorgang leitet das zweite gefährliche Abenteuer des Energiebeutelträgers ein. Er muss jetzt darauf achten, dass niemand die kleine rote Wunde entdeckt, die er von nun an mit sich trägt. Auch hat er von diesem Zeitpunkt an nicht mehr das Recht sich mit überflüssigen philosophischen Gesellschaftsspielen zu beschäftigen. Dies würde seine Wunde erneut aufbrechen lassen, womit er für die Menschheit nutzlos würde, die ihn dann den Ärzten und sogenannten Dämonen überließe.

Textauszug aus Dagmar Dimitroff, Energiebeutel und Zeitblase, veröffentlicht in:

Die Tödliche Doris, Interviews

herausgegeben in der Reihe "mimas atlas # 16" im Hybriden-Verlag, Berlin

(mit freundlicher Genehmigung des Merve-Verlags)


Montag, 3. März 2014

Real Dolls

"Venusse"
Gemeint sind hier als übergeordneter Begriff Sexpuppen für die es im Wesentlichen zwei Hauptvarianten gibt. 1. Gummipuppen, die aufgeblasen werden. 2. „Real Dolls“, die von Größe und Aussehen her Schaufensterpuppen ähneln. Beiden Typen gemeinsam ist, dass sie oft mit Vibratoreffekt versehene Öffnungen besitzen, die einen koitusähnlichen Verkehr erlauben. Auch bewegliche Glieder finden sich zumeist bei den teuren Exemplaren beider Typen. Männliche Puppen verfügen hin und wieder auch über einen aufblasbaren Penis. Alternativ werden sie mit einem Dildo geliefert, der per Saugnapf an der Puppe fixiert wird. Aufblaspuppen muten meist wie Karikaturen an. Sie sind dafür aber oft sehr preiswert, zudem leichter zu transportieren, zu lagern und insgesamt unauffälliger (da die Luft abgelassen werden kann). Feste Puppen wirken natürlicher, sind dafür auch sperriger – und teurer. Je nach Ausstattung können derartige Puppen mehrere tausend Euro kosten. Der Aufwand bei derartigen Puppen wird inzwischen soweit getrieben, dass manche Hersteller versuchen, Atmung und Orgasmus (bis hin zur Hauterwärmung) zu imitieren. Auch Modelle, die nur Nachbauten einzelner Geschlechtsteile darstellen, werden der Kategorie Sexpuppen zugeordnet. Meist handelt es sich um originalgetreue Nachbauten bekannter Pornodarsteller. Die meisten dieser Puppen sind weiblich und bestehen aus Vagina und Anus, aber auch männliche Modelle mit Anus und teilweise Hoden sind erhältlich.Die Preise für Sexpuppen im Handel reichen von ca. 10 € für aufblasbare Gummi-Puppen bis hin zu mehreren tausend Euro für Luxus-Puppen aus hautähnlichem, realistischem Material. Sexpuppen können ein gelegentliches Hilfsmittel sein, um vorübergehende Einsamkeit zu überbrücken, sie können aber auch zum Fetisch werden (Pygmalionismus). In einer wissenschaftlichen Arbeit wiesen die Forscher Ellen Kleist und Harald Moi auf die Möglichkeit der Übertragung von Gonorrhoe durch Gummipuppen bei ungeschütztem Verkehr und Benutzung derselben Puppe durch mehrere Personen hin. Diese Arbeit wurde 1996 mit dem Ig-Nobelpreis ausgezeichnet.Vor allem durch Paulus Mankers Alma-Show ist der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden, dass sich Oskar Kokoschka im Juli 1918 bei der Münchener Puppenmacherin Hermine Moos eine lebensgroße Puppe nach dem Vorbild Alma Mahlers anfertigen ließ. Die Puppe sollte Kokoschka als Ersatz für seine verlorene Geliebte dienen, enttäuschte ihn aber so, dass er sie bald zerstört hat. In den vergangenen Jahren wurde die lebensgroße Alma-Puppe eigens nach Kokoschkas Plänen nachgebaut. Eine billige Variante liefert die thailändische Polizei in folgender Meldung: „Angehörige der Border Patrol Police in entlegenen Gegenden erhalten aufblasbare Sex-Puppen, Made in Japan, damit sie nicht so einsam sind. Die erste Sexpuppe wurde in die Provinz Nan geschickt und Irma la Douce genannt. Ein Sprecher der Polizei sagt: "Wir versuchen, einem natürlichen Problem gesunder junger Männer abzuhelfen, die lange Zeit weg von Mädchen sind. Sie opfern ihr Leben für uns und wir sollten etwas für ihr Vergnügen tun."

Fußnote zu: Susanne Nickel & Hartmut Andryczuk, Venusse (Künstleredition, Berlin 2014)