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Freitag, 20. April 2012

Kosmonaut der Buchkunst




Es waren von Anfang an Individualisten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts und im beginnenden 20. Jahrhundert dem Zusammenwirken von avancierter Ausgestaltung literarischer Texte und ihrer Illustration zu neuer Blüte verhalfen. Ob William Morris, James Cobden-Sanderson (Doves Press), Harry Graf Kessler (Cranach Presse) oder Willy Wiegand (Bremer Presse) – Herzblut und Überzeugung, Qualität der Formgebung steigere die Wirkung der Inhalte, trieb ehrgeizige Typen um, die den Standard des industriell produzierten Buchs nicht befriedigend finden konnten und ihm die Aura des Besonderen, zumal handwerklich Exquisiten, zurückgewinnen wollten - der Pressendruck nahm seinen Lauf. Und ob in Russland Künstler wie Tatlin, Gontscharowa, Malewitsch und El Lissitzky radikale Neuerungen ins Buch führten oder in Frankreich Verleger wie Vollard, Kahnweiler, Skira, Tériade – immer waren es einzelne Protagonisten, die ihre seitenweisen Unternehmungen riskierten ungeachtet von wenig Hoffnung, auf dem Markt zu reüssieren. 
In der Sammlung von Büchern des Klingspor Museums, die künstlerische Haltung deutlich werden lassen, sind es zudem Namen wie Oskar Kokoschka (Die träumenden Knaben, 1908),  Ernst Ludwig Kirchner (G. Heym, Umbra Vitae, 1924),  Franz Masereel (Stundenbuch, 1919), Hendrik N. Werkmann (Next Call, 1923-26) oder HAP Grieshaber (Poesia typografica, 1957), die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Buch nutzen, um die Wahrnehmung der eigenen Person mit dem kritischen Beobachten des gesellschaftlichen Procedere in Wort und Bild zum Ausdruck zu bringen. Weniger evident politisch und doch ein aufmerksam um sich blickender Künstler war auch Rudolf Koch. Neben seinen religiösen Werken schuf er mit dem Offenbacher Blumenbuch ein Naturstück, das in die Geschichte der Buchkunst weit nach hinten (Herbarium) und nach vorne (Konzeptkunst) Bezüge herstellt. Gesellschaft und Natur – beide Bereiche verbinden sich wohl überlegt im Schaffen von Hartmut Andryczuk. Er zielt auf das Gesellschaftliche und auf die Natur (Garten und Landschaft) und verbindet sie zu einer Art Kosmologie ganz eigener Prägung. Andryczuk bezieht eine Position des Selber-Machens und Anregens anderer, etwas zu machen – gemeinsam zu machen – , die nicht allein dasteht in der Szene des Verbindens von Buch und Kunstschaffen, die er aber im besonderen profiliert. Was er unternimmt, er geht es geradlinig an, ohne indes im mindesten linientreu seiner Zeit zur Seite zu kommen – Kritik an der Genügsamkeit mit dem status quo ist ebenso Programm wie die – vor den Piraten schon virulente – kreative Ausfindung von dem was sich neu, unklar, entdeckenswert im Feld der Kommunikation und der Technologie abzeichnet. 
„...Die wilde Malerei fanden wir beinahe ausnahmslos doof“, bezieht Hartmut Andryczuk im Interview mit dem befreundeten Künstler Wolfgang Müller zur Situation seiner künstlerischen Orientierung Mitte der 1980er Jahre Position. Also Abgrenzung, das passt zu der Ausstrahlung des immer direkten, unverblümten, nach vorne heraus Agierenden.... „Man legte mir nahe, große Bilder zu malen. Ich probierte es zweimal auf alten Postsäcken und hielt nichts davon. Ich blieb lieber beim Notizhaften, Flüchtigen, dem intimen kleinen Format oder bei den Polaroids, die man während des Entwicklungsvorgangs noch mit Stift oder Schreibmaschine bearbeiten konnte“. 
Auch das bezeichnend. Nicht das etablierte Format reizt ihn, sondern die Entdeckung immer neuer, momentaner, wie eben aufnotierter Veranschaulichungen seiner Beobachtungen und Ansichten. Nicht der weit und flüssig schwingende Pinsel, nicht die überwältigende Leinwand, sondern eine Fülle von Blättern, geheftet, verbucht, auf denen sich Einfälle und Aussagen, Skizzen ansammeln...bald Comic, bald talk, Filzer, Buntstift, etwas Cobra etwas Keith Haring etwas weniger art brut, vielmehr: Andryczuk - unterschwelliges KONTRAstieren... und die Dinge sich verlieren und anknüpfen lassen und beweglich halten gegenüber den Erwartungshaltungen von Kunstgemeinden, die sich sicher sind, von nichts mehr erschüttert werden zu können – ...Mitte der 1990 er Jahre, vielleicht auch erst 2000, als sich die Gruppierung 13+ in Berlin formiert, als „Papierboote“, das Treffen der BuchkünstlerInnen mit Stand auf der Buchmesse im Museum zur Regel geworden sind, lerne ich Andryczuk allmählich kennen; an der Seite von Warnke, Furtwängler und anderen bekannten Namen der Buchkunst der Achtziger Jahre, wie Hartmut Honzera die Szene der das Künstlerbuch neu Akzentuierenden in einem Aufsatz 1984 taufte. An den Beginn kann ich mich nicht erinnern; irgendwie passt das zur Arbeit des Künstlers, Arrangeurs, Veranstalters, Verlegers... Andryczuk. So bedächtig er wirkt, so unaufhaltsam rege geht er seinen Vorstellungen nach. Eine Umtriebigkeit, die sich etwas Ungreifbares bewahrt. So kommen mir auch viele seiner Buchseiten vor; seine Bezeichnungen, mit Figürlichem und/oder Buchstäblichem, lösen die feste Bindung an das linear Zeilenhafte auf. Versprengt über die Fläche, konterkarieren sie den Lesefluss, stechen hervor und provozieren in grafischer Renitenz.  
Ein wichtiger Bezug liegt für Hartmut Andryczuk in seiner Begegnung mit dem (besonders in der Kunst der ehemaligen DDR) wegweisenden Guillermo Deisler (1940-1995) und dessen Strategie der grafischen, literarischen Kollaboration mit vielen ähnlich Gesinnten gegenüber ihren politisch-gesellschaftlichen Erfahrungen. Im Interview mit „Elektronikengel“ beantwortet Andryczuk – als handele er von seinem eigenen Agieren – die Frage nach der Auswirkung von Deislers Schaffen: „Der Umgang mit den digitalen Medien, der Multidimensionalität von Filmen, Musik, Animation, Text, Bild ist heute selbstverständlich geworden - natürlich auch für die Jüngeren, obwohl es dort auch nicht üblich ist, den Computer - jenseits der geschlossenen Konsumenten-Basisstationen mit ihren proprietären sozialen Netzwerken - als künstlerisches Medium zu gebrauchen. Die wenigsten können programmieren, kennen sich nicht aus mit HTML, XML-Code oder Java-Script. Ganz zu schweigen von der Philosophie des „Open Source“. Das Wissen mit anderen zu teilen und gemeinsam weiterzuentwickeln entspricht Guillermos Kunstideal oder der Produktionsweise von „UNI/vers(;)“. Nicht-Zensur, freie Netzwerke, Freilegung des Wissens und seiner Variablen, Suchen nach neuen Publikationsformen - das entspricht in etwa der „Open Source“-Philosophie im digitalen Bereich. Den Jüngeren muss man sagen: es gab bereits schon vor über 30 Jahren eine Netzwerk-Bewegung in der Kunst. Sie hat viele wie ein Virus infiziert und begeistert.“
Das Netz als potenzierte Mehrung des Linearen – gleichsam aus dem Off, ohne determinierte Ankunft gilt Andryczuk, ideal gedacht, die Offenheit des augenblicklichen Überall. Wer überall das Bewegende mit dem Stilisierten auszusöhnen weiß, wie Andryczuk in seinen Kompositionen vorführt, darf sich mit Fug und Recht eine Mail-Anschrift mit dem Begriff Kosmonaut zulegen. 
Seinen Kosmos erkundet Andryczuk im Hin und Her zu und mit „Kombatanden“, die er in Aktionen, Publikationen einzubinden weiß. Seit Ende der Achtziger Jahre entwickelt Andryczuk den Kanon seiner Ausdrucksformen. Sprache, gesprochen, geschrieben; Schrift, in Text und skribentischen Allover-Netzen, Zeichnung, von Wesen, die sich bald als Kobolde, bald als Amöben einmischen. Bissig, stechend, burlesk, spaßhaft.  Immer aufs neue bereit, sich zu paaren: als Erwiderungen zu den Einlassungen seiner Korrespondenten, ob Valerie Scherstjanoi, Ottfried Zielke, Felix Martin Furtwängler, Pierre Garnier... alles selbst stark Ausstrahlende, grafische Großmeister. 
Andryczuk behauptet sich, mit seinen Konzepten, seinen thematischen Pointierungen. Eloquent greift er die Tradition des Subversiven auf, anverwandelt Vorbilder aus Futurismus, Dadaismus, Fluxus in seine Welt der Worte und Wesen und Dialoge. 
Die kleine Virenbibliothek, eine Dokumentation aller bekannten Viren, auf versilberten Seiten – Platinen gleich – gelistet von Ihresgleichen sichtbar gemacht: Wesen aus kleinen und größeren Rundkörpern mit Ausbuchtungen und Wucherungen, hier etwas Gold, da etwas Weiß, Punkte und Striche als stierende Augen und gierige Zähne, betören und beängstigen den im Jahr 2000 noch staksig durch seine Bildschirmwelt klickenden User – und seine Sorge um die vielbeschworenen Angreifer seiner kaum zu glaubenden Schnellen Neuen Welt. 
„…Garten, Garten, wo der Blick des Tieres mehr bedeutet als Berge gelesener Bücher…Wo in den Tieren irgendwelche, wunderschöne Möglichkeiten verschwinden, so, wie die ins Gebetbuch eingetragene Handschrift des Igorliedes, die bei der Eroberung Moskaus durch Napoleon verbrannte.“ (Velimir Chlebnikov, 1909,1911)
2004 entsteht das Leporello „Tiergarten“ zum gleichnamigen Text von V. Chlebnikov. Valeri Scherstjanoi hat sich intensiv mit dem Werk des Avantgarde Künstlers beschäftigt, in seiner Übersetzung ist der Text in der Ausgabe des Hybriden Verlags zu lesen. Und visuell zu erspüren, wie er handschriftlich in mehr und weniger zeichnerisch aufgelöster und angereicherter Skriptur seinen Kampfgeist visuell zu erkennen gibt; mit samt den stark farbigen Figuren, die Andryczuk in ihn hinein gezeichnet hat. Das mutet an die alte Tradition der Drolerien an, jener Textseiten begleitenden Figuren, deren halbwirklich, halbunwirkliches Dasein in Ranken und Blättern dem Wortfluss des Textes eine paradiesische Aura verleihen. Selbst im Bild sein und KonText entstehen lassen, das Buch zum Raum für ausspinnende, sich dem Text zuweisende und enthebende Betrachtungen machen – Buchanschauung gleich Weltanschauung der eigenen Art – Andryczuk vermag genau diese Klimax des Besonderen zu erzeugen. Wie beispielhaft seine Zeichnungen auf Notenpapier unter dem Titel NATOBLUME (2001) anklingen lassen: Zum Sehen gehört das Hören. Ob Hartmut Geerken oder Wolfram Spyra ... „die Entfaltung des Sounds als Eröffnung einer zu entdeckenden Neuen Welt basiert auf der tonalen und geräuschvollen Ausdrucksform von Instrumenten. Und, wie um Andryczuks gezeichnete Wesen zu benachbarn: Der beschwörende Dichter wird vom Echo (der Instrumente) eingeholt, an das Echo werden allmählich die Waldstimmen angeschlossen: „Vögel, Tiere, Waldgeister, Getrappel, Prasseln, Getöse und dumpfes Krachen...und andere Sounds, die mit Worten nicht zu bezeichnen sind: denn es scheint so, als ob irgendwelche undenkbaren und jenseitigen Kreaturen auf die Herausforderung des Dichter-Schamanen reagieren.“

Today I will go once again
into life, into haggling, into market, And lead the army of my songs To duel against the market tide. (Velimir Chlebnikov)
Der Blick für das Ungewöhnliche kann an der Figur Chlebnikov andocken.   
„Chlebnikov erlässt Aufrufe in Gedichtform, in Briefen, die öffentlich sind, poetischer Akt; Chlebnikov ist nicht Reim, Reimreform und auch nicht freier Vers – er hat alle diese Formen beherrscht, und nicht nur sie. Chlebnikov ist auch als Journalist noch Chlebnikov, denn dieser Chlebnikov ist ein „neues Sehen“ (Tynjanov), eine neue Sehweise, neue Wahrnehmung der Welt, und zugleich Entwurf einer Neuordnung der Welt und neuer Welten in dieser Welt. Die neue Wahrnehmung der Welt, Chlebnikovs Welten in dieser Welt, die von der konkreten Wirklichkeit Rußland vor und nach 1917 keineswegs unabhängig waren, trennen nicht mehr zwischen dem Alltag des Lebens und dem Feiertag der Literatur, zwischen der Wirklichkeit der „Erwerbler“ und den Träumen und Visionen der Budetljane, der „Bürger der Zukunft“; Bürger der Zukunft hat Chlebnikov nur sein können, weil die Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für ihn, Chlebnikov, gleichwertige Größen waren, weil Chlebnikov nicht trennte zwischen Leben und Tod.“ Andryczuk und sein Hybriden Verlag - auch sie trennen nicht zwischen dem Alltag des Lebens und dem Feiertag der Literatur.  Und mit seinen diabolischen, tierischen Kumpanen kann er der Zukunft angriffslustig entgegensehen. Zumal: es muss ja nicht immer der Mensch sein, wie Grandville mit seinem „Un autre monde“ meisterlich karikierend schon vor rund 150 Jahren federleicht sichtbar machte.
Oder noch einmal Chlebnikov: „Wenn die Menschen keine Lust haben, meine Kunst, die Zukunft vorauszusehen, zu erlernen (und solches ist in Baku schon geschehen, unter den lokalen Geistesgrößen), so werde ich in ihr die Pferde unterrichten. Vielleicht wird sich das Reich der Pferde als ein fähigerer Schüler erweisen denn das Reich der Menschen. Die Pferde werden es mir danken, sie werden, außer dem Wagenziehen, noch eine weitere hilfreiche Verdienstmöglichkeit haben: sie werden den Menschen das Schicksal voraussagen und den Regierungen helfen, die noch Ohren haben.“
Stefan Soltek

Dr. Stefan Soltek ist Kulturwissenschaftler und Direktor des Klingspor-Museums in Offenbach am Main


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