Eine Bahnfahrt, völlig überfüllt mit Radfahrern und Kinderwagen von Berlin Südkreuz nach Züssow und von Züssow zur Insel Usedom; ein elektronisches Buch während der Bahnfahrt: John Lilly - Im Zentrum des Zyklons - mit Gurdjiewschen Schwingungszahlen; eine Hotel-Juniorchefin, vermutlich blondiert, überparfümiert mit etwa 5 cm langen angklebten Fingernägeln; eine Deutschlandfahne am Best Western Hotel Hanse Kogge, unsere Unterkunft; ein Appartement mit Blick auf Bahntrasse, Straße und Wellnessbereich "Bernstein Spa"; ungezählte Rollstühle und Rollatoren, die während des Frühstücksbüffets als Transportmittel dienen (Mortadella-Teller und halbierte Eier); der Chef des Hauses "Wald und Meer" einsam und Kreutzworträtsel lösend auf der Terrasse vor der Rezeption; ein geschlossener Imbiss rechts vom Hotel "Wald und Meer"; ein kariertes Thor Steinar-Hemd mit Steinar-Aufdruck, getragen von einem untersetzten Mann und in Begleitung einer adipösen Frau, deren fleischigen Schenkel aus den Shorts quellen; eine Adler-Tätowierung auf den Oberschenkeln eines jungen Mädchens; diverse Live-Konzerte nachgespielter Krach-Musik und kruden Mischungen: Udo Jürgens, Neil Young, Bob Dylan und Helene Fischer; diverse Undercut-Frisuren, die Seiten rasiert und oben Haupthaar oder wie bei der Chefin eines "mediterranen" Restaurants, eine Seite kahl, die andere rosa gefärbt und gelockt; eine Fahrradfahrt nach Zinnowitz. Geschäft mit "Marco Polo" - Klamotten und "Better rich", nicht besonders und völlig überteuert; diverse Nachmittage im Strandkorb Nr. 5 mit Blick auf die junge Familie Flodder (junger Vater mit "Lutscher"-Aufrduck zu seinem Kind: "Wenn du nicht gleich ruhig bist, stecke ich dich ins Bett"); diverse Reglementierungen im Hotel Hanse Kogge: es wird darum gebeten, nichts vom Frühstück-Buffet mitzunehmen. Das Hotel stellt (vermutlich kostenpflichtige) Lunch-Pakete bereit; die Wellnessabteilung darf nur mit Badelatschen betreten werden (Bademäntel kosten einmalig 5 Euro); ein Hinweisschild an der Tür zu den therapeutischen Anwendungen: "Diese Abteilung darf nur in Begleitung eines Therapeuten betreten werden"; weitere Adipositas-Studien am Strand - Bikinis mit Fettwülsten und tätowierten Innenschenkel-Ornamenten, Glatzköpfe mit grauen Ziegenbärten und Totenköpfen an den Gewichtheber-Oberarmen, ältere Herren mit dünnen Gesichtern und Blähbäuchen (Lübzer Pils hat diese Körper gebildet); Ostsee-Schwimmen von Buhne zu Buhne - 10 Bahnen = 1 Stunde); Hafenfest am Achterwasser mit normaler Schlagermusik, Rollstullfahrern und Heringsbrötchen; keine Kaiserbäder und keine weiteren Bernsteinbäder; kein Besuch in Peenemünde und in Trassenheide, der Hauptstadt der Schmetterlinge; ein guter Nachruf zu unserem verstorbenen Freund Garrelt Weerts von Tajana Wulf im Berliner Tagesspiegel unter der Ùberschrift "Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar am liebsten. Ein Besucher, der über den Flur in das breite Berliner Zimmer tritt, weiter in das helle Balkonzimmer, über die Brüstung die Bundesallee entlangschaut und sich dann für einen Moment entschuldigen muss, ist verblüfft: Das Gästebad fällt nahezu kümmerlich aus. Man zwängt sich hinein, schließt die Tür – und steht vor der ganzen Welt. In der Karte an der Wand, über alle Kontinente verteilt, stecken Nadeln mit roten, gelben, grünen und blauen Köpfen. Eine Stecknadelreihe zieht sich von Berlin über Moskau und Jekaterinburg bis nach Peking. Die meisten Menschen sprechen nur darüber, das müsste man einmal machen, mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren. Garrelt und Hartmut stiegen tatsächlich in den Zug, mieteten ein Abteil mit Dusche, aus der das Wasser nur tropfenweise drang, fuhren durch Birkenwälder, den Ural, die mongolische Wüste, schliefen ein mit dem rhythmischen Rattern der Schienenstöße und wachten mit ihm wieder auf. Sie nahmen auch andere Züge, den luxuriösen Blue Train durch Südafrika, den Ghan in Australien. Sie flogen nach Afrika und Mittelamerika. Sie durchquerten Europa. Länger als zwei Wochen aber waren sie erst unterwegs, nachdem Garrelt seine Hausarztpraxis aufgegeben hatte. „Die Arbeit war für ihn das Wichtigste“, sagt Hartmut, „erst kam der Beruf, dann kam der Beruf.“ Er macht eine Pause. „Dann kam das Private. Ich musste lernen, damit umzugehen.“ Hartmut plante die Reisen. Die Urlaubszeit war knapp, 14 Tage im Jahr mussten reichen, länger sollten Garrelts Patienten nicht warten. Er war geduldig mit den Kranken – umgekehrt konnte man das nicht immer behaupten. Er hörte ihnen zu, auch mitten in der Nacht, am Telefon, sagte nie: „Nun beruhigen sie sich mal, ich komme morgen früh“, sondern machte sich sofort auf den Weg. Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar die liebsten, auch später, nachdem er die Praxis abgegeben und die Beratung bei der Telefonseelsorge begonnen hatte. Besonders mochte er den Sommer, wenn die Sonne am Abend, wenn er losging, noch nicht untergegangen, und wenn er wieder nach Hause kam, schon wieder aufgegangen war. Er lief dann durch die Straßen, ganz allein, atmete die klare, unverbrauchte Luft. So hatte er es früher schon getan, auf einem Bauernhof in der Nähe der Nordsee, wo er aufgewachsen war. Das platte Land, die Kühe, die Moore und Dünen, das war schön, doch fehlte eine höhere Schule. Niemand aus dem Dorf hatte bisher ein Gymnasium besucht, niemand sonst war je zur Universität gegangen. Garrelt immatrikulierte sich in Marburg und schloss sein Medizinstudium in Kiel ab. Aber nie gehörte er zu jenen Ärzten, die sich mit prätentiöser Miene als Halbgötter aufspielen. Als er selbst Hilfe brauchte, ein Kollege ihn mit den Worten: „Guten Tag, Herr Doktor“ begrüßte, winkte er ab: „Lassen sie den Doktor mal weg.“ 1965 entschied er sich, in die Stadt zu gehen, in der die Leute nicht gleich hysterisch wurden, wenn ein Mann mit einem anderen zusammenwohnte. Er arbeitete als Assistenzarzt im Spandauer Krankenhaus, übernahm Notfalldienste und die Vertretung in der Praxis, die er später führte. Dass es in der Heilkunst um mehr geht als um Erkältungen und verdorbene Mägen, dass Rücken schmerzen und Herzen stolpern, weil es der Seele schlecht geht, war Garrelt früh schon klar. In der Zeit, die ihm blieb, viel Schlaf brauchte er nie, hörte er Vorlesungen in Psychologie. Meist waren alle Pulte besetzt, oft musste er stehen. So ergab sich hin und wieder im Gedränge ein Gespräch mit einem jungen Mann, der ihn eines Nachmittags zum Wannsee einlud, ein Kommilitone habe dort sein Segelboot. Mehr als 40 Jahre riss das Gespräch nicht ab, die beiden lebten und reisten zusammen bis zu dem Tag im Jahr 2002, an dem sich alles änderte, Garrelt nach Hause kam und zu Hartmut sagte: „Ich bin an Kamptokormie erkrankt.“ So heißt eine Variante der Parkinsonkrankheit, bei der sich der Rumpf tief nach vorn beugt. Man kann kaum stehen, gehen oder aufrecht sitzen, die Behandlung ist kompliziert. Garrelt ertrug die Schmerzen ohne Klage, ohne Missmut. Hartmut war für ihn da, all die Zeit. Eine Stecknadelreihe auf der Weltkarte im Gästebad zieht sich von Miami über die Karibik und den Panamakanal bis nach San Diego. Die letzte gemeinsame Reise über das Meer." - ; weitere Beschallungen mit "Atemlos" und "Heart of Gold" (Gast: "Es ist aber ziemlich laut hier. Eigentlich habe ich auf Usedom Ruhe gesucht:" - Hotelangestellter: "Das ist hier im Sommer so. Was soll ich denn erst sagen. Ich muss bei dem Lärm auch noch arbeiten"); einige Fotos vom Inventar des muffigen Aufenthaltsraums im Hotel Best Western Hanse-Kogge mit der Freizeit-Bibliothek ("Die Nebel von Avalon") und ein Hinweisschild an der hoteleigenen Schuhputzmaschine "bei Benutzung der Schuhputzmaschine übernehmen wir keine Haftung für eventuell entstehende Schäden an ihren Schuhen").
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Samstag, 26. Juli 2014
Best Western Hanse Kogge
Eine Bahnfahrt, völlig überfüllt mit Radfahrern und Kinderwagen von Berlin Südkreuz nach Züssow und von Züssow zur Insel Usedom; ein elektronisches Buch während der Bahnfahrt: John Lilly - Im Zentrum des Zyklons - mit Gurdjiewschen Schwingungszahlen; eine Hotel-Juniorchefin, vermutlich blondiert, überparfümiert mit etwa 5 cm langen angklebten Fingernägeln; eine Deutschlandfahne am Best Western Hotel Hanse Kogge, unsere Unterkunft; ein Appartement mit Blick auf Bahntrasse, Straße und Wellnessbereich "Bernstein Spa"; ungezählte Rollstühle und Rollatoren, die während des Frühstücksbüffets als Transportmittel dienen (Mortadella-Teller und halbierte Eier); der Chef des Hauses "Wald und Meer" einsam und Kreutzworträtsel lösend auf der Terrasse vor der Rezeption; ein geschlossener Imbiss rechts vom Hotel "Wald und Meer"; ein kariertes Thor Steinar-Hemd mit Steinar-Aufdruck, getragen von einem untersetzten Mann und in Begleitung einer adipösen Frau, deren fleischigen Schenkel aus den Shorts quellen; eine Adler-Tätowierung auf den Oberschenkeln eines jungen Mädchens; diverse Live-Konzerte nachgespielter Krach-Musik und kruden Mischungen: Udo Jürgens, Neil Young, Bob Dylan und Helene Fischer; diverse Undercut-Frisuren, die Seiten rasiert und oben Haupthaar oder wie bei der Chefin eines "mediterranen" Restaurants, eine Seite kahl, die andere rosa gefärbt und gelockt; eine Fahrradfahrt nach Zinnowitz. Geschäft mit "Marco Polo" - Klamotten und "Better rich", nicht besonders und völlig überteuert; diverse Nachmittage im Strandkorb Nr. 5 mit Blick auf die junge Familie Flodder (junger Vater mit "Lutscher"-Aufrduck zu seinem Kind: "Wenn du nicht gleich ruhig bist, stecke ich dich ins Bett"); diverse Reglementierungen im Hotel Hanse Kogge: es wird darum gebeten, nichts vom Frühstück-Buffet mitzunehmen. Das Hotel stellt (vermutlich kostenpflichtige) Lunch-Pakete bereit; die Wellnessabteilung darf nur mit Badelatschen betreten werden (Bademäntel kosten einmalig 5 Euro); ein Hinweisschild an der Tür zu den therapeutischen Anwendungen: "Diese Abteilung darf nur in Begleitung eines Therapeuten betreten werden"; weitere Adipositas-Studien am Strand - Bikinis mit Fettwülsten und tätowierten Innenschenkel-Ornamenten, Glatzköpfe mit grauen Ziegenbärten und Totenköpfen an den Gewichtheber-Oberarmen, ältere Herren mit dünnen Gesichtern und Blähbäuchen (Lübzer Pils hat diese Körper gebildet); Ostsee-Schwimmen von Buhne zu Buhne - 10 Bahnen = 1 Stunde); Hafenfest am Achterwasser mit normaler Schlagermusik, Rollstullfahrern und Heringsbrötchen; keine Kaiserbäder und keine weiteren Bernsteinbäder; kein Besuch in Peenemünde und in Trassenheide, der Hauptstadt der Schmetterlinge; ein guter Nachruf zu unserem verstorbenen Freund Garrelt Weerts von Tajana Wulf im Berliner Tagesspiegel unter der Ùberschrift "Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar am liebsten. Ein Besucher, der über den Flur in das breite Berliner Zimmer tritt, weiter in das helle Balkonzimmer, über die Brüstung die Bundesallee entlangschaut und sich dann für einen Moment entschuldigen muss, ist verblüfft: Das Gästebad fällt nahezu kümmerlich aus. Man zwängt sich hinein, schließt die Tür – und steht vor der ganzen Welt. In der Karte an der Wand, über alle Kontinente verteilt, stecken Nadeln mit roten, gelben, grünen und blauen Köpfen. Eine Stecknadelreihe zieht sich von Berlin über Moskau und Jekaterinburg bis nach Peking. Die meisten Menschen sprechen nur darüber, das müsste man einmal machen, mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren. Garrelt und Hartmut stiegen tatsächlich in den Zug, mieteten ein Abteil mit Dusche, aus der das Wasser nur tropfenweise drang, fuhren durch Birkenwälder, den Ural, die mongolische Wüste, schliefen ein mit dem rhythmischen Rattern der Schienenstöße und wachten mit ihm wieder auf. Sie nahmen auch andere Züge, den luxuriösen Blue Train durch Südafrika, den Ghan in Australien. Sie flogen nach Afrika und Mittelamerika. Sie durchquerten Europa. Länger als zwei Wochen aber waren sie erst unterwegs, nachdem Garrelt seine Hausarztpraxis aufgegeben hatte. „Die Arbeit war für ihn das Wichtigste“, sagt Hartmut, „erst kam der Beruf, dann kam der Beruf.“ Er macht eine Pause. „Dann kam das Private. Ich musste lernen, damit umzugehen.“ Hartmut plante die Reisen. Die Urlaubszeit war knapp, 14 Tage im Jahr mussten reichen, länger sollten Garrelts Patienten nicht warten. Er war geduldig mit den Kranken – umgekehrt konnte man das nicht immer behaupten. Er hörte ihnen zu, auch mitten in der Nacht, am Telefon, sagte nie: „Nun beruhigen sie sich mal, ich komme morgen früh“, sondern machte sich sofort auf den Weg. Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar die liebsten, auch später, nachdem er die Praxis abgegeben und die Beratung bei der Telefonseelsorge begonnen hatte. Besonders mochte er den Sommer, wenn die Sonne am Abend, wenn er losging, noch nicht untergegangen, und wenn er wieder nach Hause kam, schon wieder aufgegangen war. Er lief dann durch die Straßen, ganz allein, atmete die klare, unverbrauchte Luft. So hatte er es früher schon getan, auf einem Bauernhof in der Nähe der Nordsee, wo er aufgewachsen war. Das platte Land, die Kühe, die Moore und Dünen, das war schön, doch fehlte eine höhere Schule. Niemand aus dem Dorf hatte bisher ein Gymnasium besucht, niemand sonst war je zur Universität gegangen. Garrelt immatrikulierte sich in Marburg und schloss sein Medizinstudium in Kiel ab. Aber nie gehörte er zu jenen Ärzten, die sich mit prätentiöser Miene als Halbgötter aufspielen. Als er selbst Hilfe brauchte, ein Kollege ihn mit den Worten: „Guten Tag, Herr Doktor“ begrüßte, winkte er ab: „Lassen sie den Doktor mal weg.“ 1965 entschied er sich, in die Stadt zu gehen, in der die Leute nicht gleich hysterisch wurden, wenn ein Mann mit einem anderen zusammenwohnte. Er arbeitete als Assistenzarzt im Spandauer Krankenhaus, übernahm Notfalldienste und die Vertretung in der Praxis, die er später führte. Dass es in der Heilkunst um mehr geht als um Erkältungen und verdorbene Mägen, dass Rücken schmerzen und Herzen stolpern, weil es der Seele schlecht geht, war Garrelt früh schon klar. In der Zeit, die ihm blieb, viel Schlaf brauchte er nie, hörte er Vorlesungen in Psychologie. Meist waren alle Pulte besetzt, oft musste er stehen. So ergab sich hin und wieder im Gedränge ein Gespräch mit einem jungen Mann, der ihn eines Nachmittags zum Wannsee einlud, ein Kommilitone habe dort sein Segelboot. Mehr als 40 Jahre riss das Gespräch nicht ab, die beiden lebten und reisten zusammen bis zu dem Tag im Jahr 2002, an dem sich alles änderte, Garrelt nach Hause kam und zu Hartmut sagte: „Ich bin an Kamptokormie erkrankt.“ So heißt eine Variante der Parkinsonkrankheit, bei der sich der Rumpf tief nach vorn beugt. Man kann kaum stehen, gehen oder aufrecht sitzen, die Behandlung ist kompliziert. Garrelt ertrug die Schmerzen ohne Klage, ohne Missmut. Hartmut war für ihn da, all die Zeit. Eine Stecknadelreihe auf der Weltkarte im Gästebad zieht sich von Miami über die Karibik und den Panamakanal bis nach San Diego. Die letzte gemeinsame Reise über das Meer." - ; weitere Beschallungen mit "Atemlos" und "Heart of Gold" (Gast: "Es ist aber ziemlich laut hier. Eigentlich habe ich auf Usedom Ruhe gesucht:" - Hotelangestellter: "Das ist hier im Sommer so. Was soll ich denn erst sagen. Ich muss bei dem Lärm auch noch arbeiten"); einige Fotos vom Inventar des muffigen Aufenthaltsraums im Hotel Best Western Hanse-Kogge mit der Freizeit-Bibliothek ("Die Nebel von Avalon") und ein Hinweisschild an der hoteleigenen Schuhputzmaschine "bei Benutzung der Schuhputzmaschine übernehmen wir keine Haftung für eventuell entstehende Schäden an ihren Schuhen").
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