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Donnerstag, 6. März 2014

Energiebeutel und Zeitblase

Foto: Anno Dittmer, Die Tödliche Doris frühstückt (1981)
Wolfgang Müller, Dagmar Dimitroff und Nikolaus Utermöhlen

Wo die Natur dem lernenden Schaf nicht die Kraft verweigert, ein gutes Schaf zu sein, kann es der Mehrheit unserer Menschenkollegen doch nicht bestimmt sein, als geschmackvoll gemustertes Räupchen durch den Kosmos zu purzeln.

Dem Schaf kommt es aufgrund seiner schafigen Identität zu, sich ausschließlich mit seiner materiellen Existenz zu beschäftigen.

Es ist dem Tod völlig ausgeliefert und frisst deshalb vorher so viel es kann.
Der Tod kann es zu jeder Stunde ereilen, und so erfüllt es fleißig seine, ihm von der Natur auferlegten Aufgaben und hat einmal im Schlaf Zeit.

Die Zeit liegt hinter uns, zwischen Asien und Europa, neben einer „Fotokopie der Geburtsurkunde der Menschheit“, man trifft dort ein paar zerlumpte Soldaten, darunter den Schwätzer (Bazon) Brock und einen armen Irren, der sich tatsächlich totgelacht hat, als ihn eine Vision des auf dem Wasser wandelnden Petrus ereilte.

In Wirklichkeit aber steckt die Zeit in einer mikroskopisch kleinen Hirnblase, die als pralles Säckchen zwischen den beiden Energiebeuteln des menschlichen Gehirns klebt.

Sind die Energiebeutel eines Menschen ausreichend mit Nahrung versorgt, der Stoffwechsel intakt, können diese eine solche Größe annehmen, dass sie die Zeitblase zusammendrücken, und die Zeit somit zu einem nebensächlichen Thema für den Betreffenden machen. Das Wachstum der Energiebeutel wird durch die Wachstumsbereitschaft des jeweiligen Energiebeutelträgers bestimmt. Es kann statistisch belegt werden, dass die sozialen und genetischen Zwischenhäutchen in keinem direkten Zusammenhang mit dem Energiebeutelwachstum stehen. Dass es trotzdem nur wenigen Menschen gelingt, die Zeitblase zu zerdrücken, ohne dass dies eine bloße Begleiterscheinung des Todes wäre, hat seine Ursache in den allgemein gefürchteten, aber notwendigen Wachstumsschmerzen. Wachstumsschmerzen treten bei gesunden Menschen zwischen dem 17. Und 28. Lebensjahr auf, äußern sich als Zahnschmerz, Gelenkschmerz, Weltschmerz und Kopfschmerz. Sie sind daran zu erkennen, dass sie aus heiterem Himmel fallen, von Ärzten falsch diagnostiziert werden, und von witzelnden Dämonen besessen sind, die dem Wachsenden suggerieren, er habe Rheuma, Krebs oder die Gicht. Spätestens in dieser Phase hat jeder Energiebeutelträger seine erste ernsthafte Begegnung mit dem Tod. Viele begehen Selbstmord. Einige wenige überstehen diesen Kampf schadlos.


Sie zerdrücken die Zeitblase, deren Saft nun durch sämtliche Gehirnwindungen läuft, um schließlich durch eine winzige Öffnung in der Schädeldecke, die ungefähr den Durchmesser einer Stecknadel hat, herauszuspritzen. Dieser Vorgang leitet das zweite gefährliche Abenteuer des Energiebeutelträgers ein. Er muss jetzt darauf achten, dass niemand die kleine rote Wunde entdeckt, die er von nun an mit sich trägt. Auch hat er von diesem Zeitpunkt an nicht mehr das Recht sich mit überflüssigen philosophischen Gesellschaftsspielen zu beschäftigen. Dies würde seine Wunde erneut aufbrechen lassen, womit er für die Menschheit nutzlos würde, die ihn dann den Ärzten und sogenannten Dämonen überließe.

Textauszug aus Dagmar Dimitroff, Energiebeutel und Zeitblase, veröffentlicht in:

Die Tödliche Doris, Interviews

herausgegeben in der Reihe "mimas atlas # 16" im Hybriden-Verlag, Berlin

(mit freundlicher Genehmigung des Merve-Verlags)


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