Der Philosoph Thomas Metzinger hat bereits im Jahre 2009 ein viel beachtetes Buch geschrieben, dessen Titel bereits Programm ist: „Der Ego-Tunnel – Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik“. Zusammengefasst sind darin u.a. die neueren Ergebnisse aus den Neurowissenschaften und ihr philosophisches Konzept eines neuen Bewusstseins.
Das Buch ist sehr unterhaltsam geschrieben und für den Laien verständlich. Und es versucht Antworten auf existentielle Fragen zu geben. Wir sind alle Ego-Automaten, die ständig unsere Welt virtualisieren und niemals die unmittelbare Gegenwart wahrnehmen können, da die Datenverarbeitung unserer Gehirne viel zu schnell für uns abläuft. Die „wirkliche“ Wirklichkeit ist unserer gewöhnlichen Realitätskonstruktion nicht zugänglich. Sie besteht beispielsweise aus elektromagnetischen Wellen und anderen Energiezuständen.
Wir sind Gefangene unserer eigenen Ego-Tunnel, unserer Wirklichkeitskonstruktionen. Freier Wille und Entscheidungsfähigkeit? Äusserst zweifelhaft. Das Selbst und die Seele existieren nicht. Leben nach dem Tode? Wahrscheinlich nicht. Kann das Bewusstsein unabhängig vom neurologischen System existieren? Nein.
Wir sind sterbliche Wesen und vermutlich ein zufälliges Ergebnis der Evolution, „Gottes ungeliebte Kinder“, wie Metzinger sagt. Anfällig für alle ideologischen Placebos und messianische Erweckungsbewegungen wie es sich im Nationalsozialismus oder Stalinismus gezeigt hat.
Ein Kapitel des Buches widmet sich den sogenannten „Out-of-Body-Experiences“ und beschreibt u.a. die persönlichen Erlebnisse des Autors. Frühere Vorstellungen von Metempsychose oder Astralprojektion verlassen jetzt ihren esoterisch-ideologischen Kontext und fanden bereits bei Spinoza eine materielle Entsprechung: „Die Seele ist die Vorstellung des Körpers, die er von sich selber macht.“ Könnte also die Seele nicht so etwas wie die „reine Information“ des Körpers sein?
Andere Themen des Buches sind „luzides Träumen“ oder „Das Empathische Ego“. In Interviews kommen prominente Forscher aus dem Umfeld der Neurowissenschaften wie Wolf Singer, Allan Hobson oder Vittore Gallese zu Wort. Am Ende des Buches werden wichtige Fragen nach einer neuen Neuroethik gestellt. Welche Bewusstseinszustände sind für uns wünschenswert? Dürfen wir Tiere für unsere neurologischen Experimente missbrauchen? Welche sozialen Auswirkungen haben die Ergebnisse der Neurowissenschaft auf unser Selbst- und Weltbild?
Ein weiteres Kapitel widmet sich den Fragen der „Künstlichen Intelligenz“, Biorobotern und warum wir besser keine Generationen von künstlichen Ego-Maschinen erzeugen sollen. Matrix und Skynet lassen grüßen. In einer konstruierten Unterhaltung mit dem ersten postbiotischen Philosophen meint der zum Menschen: „Kohlenstoff-Wasserstoff-Chauvinismus ist eine unhaltbare Position. Ich würde niemals sagen, dass du kein echter Mensch bist, nur weil du in diesem schrecklichen Affenkörper gefangen bist“.
Manchmal kann der nach eigenen Aussagen stockkonservative Metzinger ziemlich witzig sein. Können wir uns sicher sein, das unser Gehirn nicht in einer Art Nährlösung liegt, während wir diese Zeilen hier lesen?
Metzinger, selbst erfahren in der Praxis der Meditation, propagiert eine materielle Spiritualität und schlägt dabei Meditation im Sportunterricht ohne Räucherstäbchen und Glöckchen vor. Und er plädiert für eine Allianz von Spiritualität und Wissenschaft versus Religion.
Letztere ist für ihn nur ein „adaptiertes Wahnsystem“, das man belächeln kann. Und eigentlich wird er auch nicht müde, diese Haltung in jedem Interview variantenreich zu wiederholen.
So sympathisch diese ideologiekritische Einstellung gegenüber hierarchischen Systemen auch ist, umso merkwürdiger scheint es, dass Metzinger seine Kritik gegenüber der Ideologie des neurobiologischen Determinismus nicht anwendet. Über die Gründe kann man spekulieren. Wenn er von einem „großen Schock“ spricht, den die Neurowissenschaften in unserer Gesellschaft auslösen werden, kann man sich mit Recht fragen, ob es nicht noch eine Nummer größer geht? Fühlt er sich hier den Vertretern des neurobiologischen Determinismus verpflichtet, die ihn als ihren spirituellen Mentor sehen?
Ein Beispiel für eine amüsante Kritik des neurobiologischen Determinismus liefert Freerk Huisken, der den neurobiologischen Determinismus auf den Deterministen selbst anwendet und dabei zu absurden Ergebnissen kommt. Mit Bezug auf Gerhard Roth und seine innere Spaltung in ein (strukturell determiniertes) „Gehirn“ und eine (von der neuronalen Organisation des Gehirns determinierte) „Person“ sieht das Ergebnis dann so aus: „Es war gar nicht G. Roth, der in seinem Studium auf theoretische Probleme und offene Fragen gestoßen ist, sondern sein Hirn hat ihn diese Gedanken denken lassen. Und es war und ist gleichfalls nicht G. Roth, der ein Institut aufgebaut hat, Bücher schreibt und Vorträge hält, etwa weil er meint, der Welt etwas Wichtiges mitteilen zu müssen, sondern auch hier hat das Gehirn ihn aus ‚innerem Antrieb’ dazu gebracht, all dies zu tun und zu denken. Und Roths Bewusstsein von seinem Tun, seine Gründe für es, jede seiner Begründungen für ein neues Forschungsprojekt stellen nur die Einbildung von autonom begründetem Tun dar. In Wirklichkeit, weiß Roth, treibt ihn irgendeine Synapsenverbindung. Das macht dem Forscher Roth merkwürdigerweise keine Kopfzerbrechen. Müsste ein Mensch nicht an sich selbst irre werden, wenn es sich ständig sagen muss, das, was ich tue, ist nie das, was ich tue. Ich mag mir zwar einbilden, bestimmte Gründe für mein Tun zu besitzen, doch in Wirklichkeit treibt mich ein mir fremdes, ‚unzugängliches Konstruktionsprinzip’ meines Gehirns“. Der Neurodeterminist ist also laut seiner eigenen Theorie bereits durch seine neuronale Struktur determiniert, kann also nicht „frei“ oder „unbefangen“ forschen, sondern erkennt nur, was seine Synapsenverbindungen ihm deterministisch vorschreiben. “
Bei Anwendung seiner Theorie auf sich selbst verstrickt sich der Neurodeterminist also in unauflösbare Selbstwidersprüche, denn dann ist seine Theorie selbst das Ergebnis seines determinierten Gehirns und nicht freie, wissenschaftlich objektive Forschung (die er allerdings in Anspruch nehmen muss, damit sein Ergebnis plausibel ist)."
Mögen sich nun gläubige Menschen von Metzingers Philosophie abgeschreckt oder fundamentalistische Atheisten bestätigt fühlen; - der Autor scheint sich gelegentlich selbst nicht sehr wohl in seiner Rolle zu fühlen:
„Ich frage mich aber, ob es einen dritten Weg gibt, vielleicht eine radikal individualistische, jenseits vom reaktionären Irrationalismus der organisierten Religion liegende Spiritualität, die dezidiert nichts glaubt und für empirische Erkenntnisse offen ist, die aber weiß, dass es Dinge gibt, über die wir aus prinzipiellen Gründen nicht reden können. Es geht darum, eine gewisse Qualität der Offenheit nicht zu verlieren. Wir stehen noch immer vor einem riesigen Ozean von Nichtwissen...“
Quellen und Links:
Homepage von Prof. Dr. Thomas Metzinger
Das Elend des neurobiologischen Determinismus
Der Riss im Selbstmodell. Ein Interview mit Thomas Metzinger
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