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Montag, 30. April 2012

Terror des Populismus: Die Grenzüberschreitungen der NPD und die Kunst des Artur Żmijewski


Magier verbrennen nach ihrer Bekehrung durch den Apostel Paulus
in Ephesus ihre heidnischen Bücher (nach Gustave Doré)



Radikaler Populismus erreicht neue Rekorde in Deutschland – mit Vertretern, so unterschiedlich wie der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und dem Aktions-Artisten Artur Żmijewski. Żmijewski, der KZ-Häftlingen gerne mal die Gefängnisnummer erneut eintätowiert, ist derzeit Chef des renommierten Kunstfestivals Berlin Biennale. Mit seinen Grenzüberschreitungen eröffnet der “Erlöserkünstler” eine politische Grauzone, in der rechts und links ununterscheidbar wirken. Der Essay des Berliner Gazette-Autors Wolfgang Müller nimmt das politische Seitenwechselspiel der platten Provokationen unter die Lupe: von den “Gas geben”- Plakaten der NPD bis hin zu der “Deutschland schafft es ab”-Aktion.
“Lechts und rinks kann man nicht velwechsern. Werch ein Illtum!” Ernst Jandl
Ist es möglich, dass die Kunst des Berlin-Biennale-Kurators Artur Żmijewski und seiner von ihm berufenen Co-Kuratoren eigentlich nicht links ist, sondern eher rechts? In der Kunst von Artur Żmijewski werden Hierarchien weder irritiert, noch tiefere Erkenntnisse vermittelt.
Bekannt wurde sein Video „80064“ aus dem Jahr 2004, wo der Künstler die Häftlingsnummer des 92-jährigen ehemaligen KZ-Häftlings Josef Tarnawa, der von einer kleinen Rente lebt, neu eintätowiert. Ähnliches exerzierte Santiago Sierra mit drei drogensüchtigen Prostituierten, denen er eine durchgehende Linie auf den Rücken eintätowierte. Während Sierra damit kokettierte, die Genehmigung der Frauen gegen Drogen erkauft zu haben, schweigt Żmijewski dezent darüber, was er dem Rentner für die Tätowierung bezahlt hat. Es sollen um die 50.000 Euro gewesen sein.
Der Zeitschrift „Art“ sagt der Künstler: „Ich habe den Mann genötigt und missbraucht. Ich wollte ihn noch mal zum Opfer machen, um diesen Moment zu beobachten, in dem er zustimmt, Opfer zu sein.“
Sicher wäre es möglich, diese zweite Tätowierung als künstlerisches Gleichnis von Traumaarbeit zu interpretieren und die coolen Sprüche des Künstlers von der Lust am Leiden anderer Menschen als hyperaffirmativ oder moralische Geste des Aufrüttelns zu deuten. Aber würde das diese Kunst, die unbedingt Grenzen überschreiten will, nicht sogar noch uninteressanter machen, als sie es eh schon ist?
Der Tabubruch und die Grenzüberschreitung, die hier so bemüht gesucht wird, findet ausschließlich an Körpern von Menschen statt, die sozusagen „anerkannte“ Außenseiter sind – auf die Idee, sich den eigenen Körper oder den des deutschen Bundespräsidenten, von Bankvorständen oder Hedgefondsmanagern vorzunehmen, sind die hauptberuflichen Tabubrecher des Kunstbetriebs noch nicht gekommen.
Wie teuer würde es werden, den Ex-Bundespräsidenten Wulff oder seine Frau zu einem klitzekleinen Tättoo mit den Worten „unbestechlich“ oder „unbezahlbar“ zu überreden? An solchen Beispielen wird deutlich, wie erschreckend ironiefrei, konservativ, effekthaschend und flach die Kunst von Santiago Sierra oder Artur Żmijewski tatsächlich ist.
Derzeit sucht Santiago Sierra in Island nach „reumütigen Bankmanagern“ – welch öder Populismus nach dem dortigen Bankencrash 2008! In der Macho-Erlöser-Spektakelkunst werden die Grenzen, die gebrochen werden sollen, ausschließlich im Außen gesucht. Sie sind aufs Engste mit dem Mainstream der Zeit gekoppelt und extrem von diesem abhängig, jedoch ohne ihn dabei ernsthaft zu irritieren.
Verglichen mit dieser Kunst sind die zynischen, absolut ekelhaften Grenzüberschreitungen der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) möglicherweise raffinierter. Was tun, wenn die NPD in unmittelbarer Nähe des Holocaust-Mahnmals ihre Wahlplakate mit Aufdruck „Gas geben“ aufhängt? Darauf abgebildet ist der Vorsitzende der NPD auf einem Motorrad.
Sollte man zugeben, die NPD hätte in punkto Zynismus und Subversion inzwischen sehr viel mehr gelernt, sie gehe geistreicher und raffinierter mit dem Thema Grenzüberschreitung und Tabubruch um, als Żmijewski und seine Co-Kuratoren? Tatsächlich gelang es nur dem Satiremagazin TITANIC beziehungsweise der „Partei“ eine adäquate, geistreiche Antwort auf die NPD-Plakate zu geben: Die Partei klebte einfach ein Portrait von Haider und seines bei Tempo 170 zu Schrott gefahrenen Fahrzeugs darüber.
Kürzlich gab es ein neuerliches Spektakel, das die Eindimensionalität und Ideenarmut der Biennale-Kuratoren beweist: die „Deutschland schafft es ab“-Aktion. Der tschechische Künstler Martin Zet kommentierte mit dieser Aktion Thilo Sarrazins rassistischen Bestseller Deutschland schafft sich ab (2010).
„Ab einem bestimmten Moment ist es nicht mehr wichtig, was die Qualität oder wahre Intention eines Buches ist, sondern welchen Effekt es in der deutschen Gesellschaft hat“, begründete Zet seinen Plan. „Das Buch weckte und förderte antimigrantische und hauptsächlich antitürkische Tendenzen in diesem Land.“ Stolz darf Auftragskünstler Martin Zet im Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ seine Plattitüden verbreiten. Ursprünglich sollten laut Konzept Sarrazinbücher in „Sammelstellen“ abgegeben und entsorgt werden.
Wer es tatsächlich wissen möchte, erfährt aus dem internen Kreis schnell, dass dieser „Einfall“ im Grunde von Żmijewski selber stammt, Zet führte ihn dann lediglich aus. Der Auftragskünstler rechnete – ganz Visionär – mit einem Rückgang von 60.000 Büchern, das wäre eine Quote von fünf Prozent der Gesamtauflage. Vermutlich nahm er an, dass reumütige Ex-Rassisten mit zerlesenem „Deutschland schafft sich ab“-Buch und schamrotem Gesicht in die garantiert 100-prozentig rassismusfreien Kunstgemeinden strömen, wo die Kunstfreunde ihnen rhythmisch Beifall klatschen würden.
Dass das Wort „Sammelstelle“ und „Buch-Recycling“ gewisse Assoziationen in Deutschland freisetzen könne – Stichwort: Bücherverbrennung – daran hatten Martin Zet und sein Auftraggeber gar nicht gedacht. Doof, naiv, zynisch, dummdreist oder nur eitel? Der „Welt“ sagt der Berlin-Biennalekünstler im Interview größenwahnsinnig: „Nun, ich glaube, ich bin die zurzeit meistgehasste Person Deutschlands.“ Hass?!
Ein Mensch, der sich mit solch einfältigen „Einfällen“ derart funktionalisieren lässt, so wenig künstlerische Begabung offenbart, scheint eher bedauernswert. Doch das Mitgefühl hält sich in Grenzen. Fremdschämen wäre so ein Ausdruck dieses Gefühls. Aber Fremdschämen funktioniert hier nicht, da ja künstlerisches Mittelmaß derzeit sehr gut gefördert und finanziert wird.
Christoph Tannert vom Künstlerhaus Bethanien, dessen Institution von Anfang an nicht zugesagt hatte, sah nun seine Chance. Er stimmte einfach in den Klagechor der Verfolgten ein. Damit heulte er im Chor mit den sich nun als Opfer inszenierenden Sarrazin-Fans und unbekennenden Rassisten. Die Islamophobiker und der rechte
Mob im Bürgerkleid zitierten in den Blogs des KW Institute for Contemporary Art Heinrich Heine und assoziierten eine Bücherverbrennung und die Verfolgung ihrer unliebsamen „Wahrheiten“.
Tannert sprach im Deutschlandfunk gar von „Zensur“. Zensur? Wenn die lachhafte Sarrazin-Buchrecyclingsnummer tatsächlich zur Folge haben würde, dass schamrote Ex-Rassisten vereint mit ihrem Idol, dem Ex-Bänker Sarrazzin, an der Spitze in die garantiert 100-prozentig rassismusfreien Kunsthallen und Kunsthäuser schleichen, um ihr zerlesenes „Deutschland schafft sich ab“ freiwillig in den Schredder zu geben? Ich fände das super! Schließlich verschwand ein anderer Besteller, nämlich die millionenfach verkaufte deutsche Ausgabe von „Mein Kampf“, 1945 ebenfalls schlagartig. Es wurde so rar, dass es heute im Antiquariat über 200 Euro kostet.
Wie kann man von Zensur sprechen, wenn die Käufer eines Buches blitzartig anderer Meinung sind und ihre Bibel geschockt im Müll entsorgen? Noch nie etwas von Remittenden gehört? Wo soll denn hier Zensur herrschen? Es gibt Leute, die sind nur in der DDR gut, sagte Joseph Beuys in den 1980er Jahren einmal. Christoph Tannert gehört vermutlich zu diesen Leuten.
Die Kuratorin Katharina Kaiser vereint dagegen in ihrer die Kunstwerke unterstützenden Argumentation den Zensurvorwurf nach dem Motto: Die freie Assoziation würde mit dieser Kritik (an Wörtern wie „Sammelstelle“ und „Recycling“ = Buchzerstörung) hier eingeschränkt und zensiert – und schlägt gleichzeitig die Volte mit Marcel Duchamp: Kunst entsteht doch erst im Kopf der Betrachter. So löscht ihr eines Argument das andere aus. Folglich müssten, nach Katharina Kaiser, der Kunstbetrieb und seine Manager einschließlich ihrer Institutionen in etwa so unfehlbar sein, wie der deutsche Papst Benedikt.
Bei der unterkomplexen Form „politische Kunst“ bleibt am Ende tatsächlich nur ein Mysterium: die Berufung der Erlöser. Wer hat das getan? Wer ist dafür verantwortlich? Und warum? Welche Personen entscheiden in den Institutionen und Kunstwerken darüber? Wer ist dafür verantwortlich? Wer setzt die Maßstäbe? Von wem sind die Berufenen berufen worden, um wiederum andere zu berufen? Auf wen berufen sie sich?
Warum sollte es im Kunstbetrieb eigentlich anders funktionieren als beim Ex-Bundespräsidenten? Auf jeden Fall beweist diese Kunst ihre tiefe Angepasstheit und Konformität. Sie ist in populistischer Symbolik fest verhaftet, ohne dass ihr die Bewegung ins Offene gelingt.
Ihr fehlen wesentliche Qualitäten, in denen die Kunst zu Forschung werden könnte – eine Forschung, die Wahrnehmung und ihre Mechanismen untersucht, Grenzen in Schwingung versetzt und damit das Unaussprechliche und Unübersetzbare gestaltet oder andeutet. Deshalb ist die erwähnte „politische Kunst“ von Żmijewski, Sierra oder ihren Nacheiferern gar keine politische, sondern vor allem eine mystische. Alles läuft auf eines hinaus: Die Mystik der Berufung der Berufenen.
Diese Mystik kommt jedoch kaum an gegen die weit effektvollere Mystik der neuen Nazis und Rassisten: Die nächtlichen Umzüge der „Spreelichter“, die vollzogenen, brutalen Morde mit der effektvollen Begleitung von „Rosaroter Panther“-Clips oder die zynische Subversion der „Gas geben“-Plakatierung der NPD am Holocaust-Mahnmal.
Es nützt nichts, auf der „richtigen Seite“ zu stehen, wenn angesichts der unterirdischen ästhetischen Qualitäten der Kunst von Żmijewski und anderer Erlöserkünstler das aufgeklärte Kunstpublikum dezent schweigt und daran aufkommende Kritik lediglich als Beleg der großen Bedeutung dieser unterkomplexen Kunst abgetan wird.
Wolfgang Müller
Der Artikel erschien bereits in der Berliner Gazette
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Samstag, 28. April 2012

Progressive Normopathie

Susan Atkins, Patricia Krenwinkel, Leslie Van Houten - Fundstück unseres freien Mitarbeiters R.M. mit dem E-Mail-Betreff: "Bräsiger Breivik oder Trial Catwalk"


In Oslo läuft seit Tagen der Prozess gegen Anders Behring Breivik. Der hat sich nach eigenen Angaben seit dem Jahre 2006 systematisch "dehumanisiert", um seine "Mission" zu erfüllen. Die psychiatrischen Gutachter sind sich uneins darüber, ob sie Breivik für psychisch krank oder nicht erklären sollen. Paranoide Schizophrenie oder Narzisstische Persönlichkeitsstörung stehen dabei zur Auswahl. (Abgesehen davon, dass die Diagnose Schizophrenie in diesem Zusammenhang eine Beleidigung von Schizophrenen ist), meint man im Falle Breiviks wohl seine Fixiertheit auf die Ideologie seiner europäischen Tempelritter, die Europa vor der Islamisierung retten sollen. Im Grunde ist das alles Nonsens - genauso wie sein Bandwurm-Manifest zur Rettung des Abendlandes. Breiviks Problem ist, ein Niemand zu sein, der sowohl als Börsenspekulant wie auch als Mitläufer der rechtsgerichteten Fortschrittspartei gescheitert ist. Und wie kann ein Niemand auf dem schnellsten Weg ein Jemand werden? Durch Massenmord. Vielleicht ist Breivik der erste konzeptuelle Serienmörder, den allein die Passion motiviert hat, ein Medienstar zu werden. Scheinbar gibt es keine anderen Obsessionen: kein Hass auf Frauen, kein Inszest, keine neurotischen Verstrickungen und sexuellen Abweichungen. Weder Kannibalismus noch obskuren Sammlerwahn von Biomaterialien. Breivik ist bemerkenswert langweilig, reflektiert und normal. Der sympathische Diplomatensohn aus Oslo West mit den elitären Attitüden. Und tötet so jemand 77 Menschen - ohne die geringste Spur von Empathie oder im herkömmlichen Sinne geisteskrank zu sein? Ja, wenn er dadurch befördert wird. Ähnlich wie ein KZ-Manager, der seinen Auftrag erfüllte. Und befördert wird Breivik zur Zeit mit ungebremsten Medieninteresse. Die Antwort der Gesellschaft kann eigentlich nur die sein, vor der er am meisten Angst hat. Erklärt ihn für unzurechnungsfähig. Sperrt ihn für Progressive Normopathie für den Rest seines Lebens in die Klapse. Beerdigt ihn lebendig.

Sonntag, 22. April 2012

Gegen den Kohlenstoff-Wasserstoff-Chauvinismus




Der Philosoph Thomas Metzinger hat bereits im Jahre 2009 ein viel beachtetes Buch geschrieben, dessen Titel bereits Programm ist: „Der Ego-Tunnel – Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik“. Zusammengefasst sind darin u.a. die neueren Ergebnisse aus den Neurowissenschaften und ihr philosophisches Konzept eines neuen Bewusstseins. 
Das Buch ist sehr unterhaltsam geschrieben und für den Laien verständlich. Und es versucht Antworten auf existentielle Fragen zu geben. Wir sind alle Ego-Automaten, die ständig unsere Welt virtualisieren und niemals die unmittelbare Gegenwart wahrnehmen können, da die Datenverarbeitung unserer Gehirne viel zu schnell für uns abläuft. Die „wirkliche“ Wirklichkeit ist unserer gewöhnlichen Realitätskonstruktion nicht zugänglich. Sie besteht beispielsweise aus elektromagnetischen Wellen und anderen Energiezuständen. 
Wir sind Gefangene unserer eigenen Ego-Tunnel, unserer Wirklichkeitskonstruktionen. Freier Wille und Entscheidungsfähigkeit? Äusserst zweifelhaft. Das Selbst und die Seele existieren nicht. Leben nach dem Tode? Wahrscheinlich nicht. Kann das Bewusstsein unabhängig vom neurologischen System existieren? Nein. 
Wir sind sterbliche Wesen und vermutlich ein zufälliges Ergebnis der Evolution, „Gottes ungeliebte Kinder“, wie Metzinger sagt. Anfällig für alle ideologischen Placebos und messianische Erweckungsbewegungen wie es sich im Nationalsozialismus oder Stalinismus gezeigt hat. 
Ein Kapitel des Buches widmet sich den sogenannten „Out-of-Body-Experiences“ und beschreibt u.a. die persönlichen Erlebnisse des Autors. Frühere Vorstellungen von Metempsychose oder Astralprojektion verlassen jetzt ihren esoterisch-ideologischen Kontext und fanden bereits bei Spinoza eine materielle Entsprechung: „Die Seele ist die Vorstellung des Körpers, die er von sich selber macht.“ Könnte also die Seele nicht so etwas wie die „reine Information“ des Körpers sein? 
Andere Themen des Buches sind „luzides Träumen“ oder „Das Empathische Ego“. In Interviews kommen prominente Forscher aus dem Umfeld der Neurowissenschaften wie Wolf Singer, Allan Hobson oder Vittore Gallese zu Wort. Am Ende des Buches werden wichtige Fragen nach einer neuen Neuroethik gestellt. Welche Bewusstseinszustände sind für uns wünschenswert? Dürfen wir Tiere für unsere neurologischen Experimente missbrauchen? Welche sozialen Auswirkungen haben die Ergebnisse der Neurowissenschaft auf unser Selbst- und Weltbild? 
Ein weiteres Kapitel widmet sich den Fragen der „Künstlichen Intelligenz“, Biorobotern und warum wir besser keine Generationen von künstlichen Ego-Maschinen erzeugen sollen. Matrix und Skynet lassen grüßen. In einer konstruierten Unterhaltung mit dem ersten postbiotischen Philosophen meint der zum Menschen: „Kohlenstoff-Wasserstoff-Chauvinismus ist eine unhaltbare Position. Ich würde niemals sagen, dass du kein echter Mensch bist, nur weil du in diesem schrecklichen Affenkörper gefangen bist“. 
Manchmal kann der nach eigenen Aussagen stockkonservative Metzinger ziemlich witzig sein. Können wir uns sicher sein, das unser Gehirn nicht in einer Art Nährlösung liegt, während wir diese Zeilen hier lesen? 
Metzinger, selbst erfahren in der Praxis der Meditation, propagiert eine materielle Spiritualität und schlägt dabei Meditation im Sportunterricht ohne Räucherstäbchen und Glöckchen vor. Und er plädiert für eine Allianz von Spiritualität und Wissenschaft versus Religion. 
Letztere ist für ihn nur ein „adaptiertes Wahnsystem“, das man belächeln kann. Und eigentlich wird er auch nicht müde, diese Haltung in jedem Interview variantenreich zu wiederholen. 
So sympathisch diese ideologiekritische Einstellung gegenüber hierarchischen Systemen auch ist, umso merkwürdiger scheint es, dass Metzinger seine Kritik gegenüber der Ideologie des neurobiologischen Determinismus nicht anwendet. Über die Gründe kann man spekulieren. Wenn er von einem „großen Schock“ spricht, den die Neurowissenschaften in unserer Gesellschaft auslösen werden, kann man sich mit Recht fragen, ob es nicht noch eine Nummer größer geht? Fühlt er sich hier den Vertretern des neurobiologischen Determinismus verpflichtet, die ihn als ihren spirituellen Mentor sehen?
Ein Beispiel für eine amüsante Kritik des neurobiologischen Determinismus liefert Freerk Huisken, der den neurobiologischen Determinismus auf den Deterministen selbst anwendet und dabei zu absurden Ergebnissen kommt. Mit Bezug auf Gerhard Roth und seine innere Spaltung in ein (strukturell determiniertes) „Gehirn“ und eine (von der neuronalen Organisation des Gehirns determinierte) „Person“ sieht das Ergebnis dann so aus: „Es war gar nicht G. Roth, der in seinem Studium auf theoretische Probleme und offene Fragen gestoßen ist, sondern sein Hirn hat ihn diese Gedanken denken lassen. Und es war und ist gleichfalls nicht G. Roth, der ein Institut aufgebaut hat, Bücher schreibt und Vorträge hält, etwa weil er meint, der Welt etwas Wichtiges mitteilen zu müssen, sondern auch hier hat das Gehirn ihn aus ‚innerem Antrieb’ dazu gebracht, all dies zu tun und zu denken. Und Roths Bewusstsein von seinem Tun, seine Gründe für es, jede seiner Begründungen für ein neues Forschungsprojekt stellen nur die Einbildung von autonom begründetem Tun dar. In Wirklichkeit, weiß Roth, treibt ihn irgendeine Synapsenverbindung. Das macht dem Forscher Roth merkwürdigerweise keine Kopfzerbrechen. Müsste ein Mensch nicht an sich selbst irre werden, wenn es sich ständig sagen muss, das, was ich tue, ist nie das, was ich tue. Ich mag mir zwar einbilden, bestimmte Gründe für mein Tun zu besitzen, doch in Wirklichkeit treibt mich ein mir fremdes, ‚unzugängliches Konstruktionsprinzip’ meines Gehirns“. Der Neurodeterminist ist also laut seiner eigenen Theorie bereits durch seine neuronale Struktur determiniert, kann also nicht „frei“ oder „unbefangen“ forschen, sondern erkennt nur, was seine Synapsenverbindungen ihm deterministisch vorschreiben. “
Bei Anwendung seiner Theorie auf sich selbst verstrickt sich der Neurodeterminist also in unauflösbare Selbstwidersprüche, denn dann ist seine Theorie selbst das Ergebnis seines determinierten Gehirns und nicht freie, wissenschaftlich objektive Forschung (die er allerdings in Anspruch nehmen muss, damit sein Ergebnis plausibel ist)."
Mögen sich nun gläubige Menschen von Metzingers Philosophie abgeschreckt oder fundamentalistische Atheisten bestätigt fühlen; - der Autor scheint sich gelegentlich selbst nicht sehr wohl in seiner Rolle zu fühlen: 
Ich frage mich aber, ob es einen dritten Weg gibt, vielleicht eine radikal individualistische, jenseits vom reaktionären Irrationalismus der organisierten Religion liegende Spiritualität, die dezidiert nichts glaubt und für empirische Erkenntnisse offen ist, die aber weiß, dass es Dinge gibt, über die wir aus prinzipiellen Gründen nicht reden können. Es geht darum, eine gewisse Qualität der Offenheit nicht zu verlieren. Wir stehen noch immer vor einem riesigen Ozean von Nichtwissen...“
Quellen und Links:
Homepage von Prof. Dr. Thomas Metzinger
Das Elend des neurobiologischen Determinismus
Der Riss im Selbstmodell. Ein Interview mit Thomas Metzinger

Freitag, 20. April 2012

Nachricht an die Spam-Roboter


Spam-Roboter in der Mittagspause



Liebe Spam-Roboter von Blogspot.com,

leider wurde unser gestern ins Leben gerufene Blog „Nessessär - Der Kulturbeutel“ von ihnen automatisch gelöscht. Offiziell wurden wir des Link- & Suchmaschinen-Spammings verdächtigt. Allerdings enthielt der Katalog-Text von Stefan Soltek „Kosmonaut der Buchkunst“ gar keine Links. Ein Verkaufspreis für den Katalog „Virulent - Aufrührend in Wort und Bezeichnung“ wurde auch nicht genannt. 

Unter Linkspam versteht man folgendes: „Link- oder Blogspam ist das Ausnutzen der Bearbeitungs-, Kommentar- und Trashbackfunktionen von Blogs und Gästebüchern durch Spammer. Dadurch, dass Blogs von Suchmaschinen oder Webcrawlern sehr oft besucht werden, können es die Optimierer recht schnell schaffen, dass die von ihnen verlinkten Seiten im Ranking sehr weit vorne stehen“.


Im Laufe des Tages  bekamen wir nun von ihnen eine Mail, dass sie die Seite fälschlicherweise gelöscht haben und sie nun wieder reaktiviert wurde. Vielen Dank. Aber eigentlich gefiel uns der Blog-Name gar nicht mehr. Daher haben wir die „Nessessär-Seite“ manuell gelöscht und einen neuen Blog unter dem Titel „Der Daten-Messie“ erstellt. Ich bitte sie darum, diesen Blog nicht wieder automatisch zu löschen.
Mit freundlichen Grüßen,
Robert Krokodilowitsch
(Sekretär, Team Daten-Messie)

Kosmonaut der Buchkunst




Es waren von Anfang an Individualisten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts und im beginnenden 20. Jahrhundert dem Zusammenwirken von avancierter Ausgestaltung literarischer Texte und ihrer Illustration zu neuer Blüte verhalfen. Ob William Morris, James Cobden-Sanderson (Doves Press), Harry Graf Kessler (Cranach Presse) oder Willy Wiegand (Bremer Presse) – Herzblut und Überzeugung, Qualität der Formgebung steigere die Wirkung der Inhalte, trieb ehrgeizige Typen um, die den Standard des industriell produzierten Buchs nicht befriedigend finden konnten und ihm die Aura des Besonderen, zumal handwerklich Exquisiten, zurückgewinnen wollten - der Pressendruck nahm seinen Lauf. Und ob in Russland Künstler wie Tatlin, Gontscharowa, Malewitsch und El Lissitzky radikale Neuerungen ins Buch führten oder in Frankreich Verleger wie Vollard, Kahnweiler, Skira, Tériade – immer waren es einzelne Protagonisten, die ihre seitenweisen Unternehmungen riskierten ungeachtet von wenig Hoffnung, auf dem Markt zu reüssieren. 
In der Sammlung von Büchern des Klingspor Museums, die künstlerische Haltung deutlich werden lassen, sind es zudem Namen wie Oskar Kokoschka (Die träumenden Knaben, 1908),  Ernst Ludwig Kirchner (G. Heym, Umbra Vitae, 1924),  Franz Masereel (Stundenbuch, 1919), Hendrik N. Werkmann (Next Call, 1923-26) oder HAP Grieshaber (Poesia typografica, 1957), die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Buch nutzen, um die Wahrnehmung der eigenen Person mit dem kritischen Beobachten des gesellschaftlichen Procedere in Wort und Bild zum Ausdruck zu bringen. Weniger evident politisch und doch ein aufmerksam um sich blickender Künstler war auch Rudolf Koch. Neben seinen religiösen Werken schuf er mit dem Offenbacher Blumenbuch ein Naturstück, das in die Geschichte der Buchkunst weit nach hinten (Herbarium) und nach vorne (Konzeptkunst) Bezüge herstellt. Gesellschaft und Natur – beide Bereiche verbinden sich wohl überlegt im Schaffen von Hartmut Andryczuk. Er zielt auf das Gesellschaftliche und auf die Natur (Garten und Landschaft) und verbindet sie zu einer Art Kosmologie ganz eigener Prägung. Andryczuk bezieht eine Position des Selber-Machens und Anregens anderer, etwas zu machen – gemeinsam zu machen – , die nicht allein dasteht in der Szene des Verbindens von Buch und Kunstschaffen, die er aber im besonderen profiliert. Was er unternimmt, er geht es geradlinig an, ohne indes im mindesten linientreu seiner Zeit zur Seite zu kommen – Kritik an der Genügsamkeit mit dem status quo ist ebenso Programm wie die – vor den Piraten schon virulente – kreative Ausfindung von dem was sich neu, unklar, entdeckenswert im Feld der Kommunikation und der Technologie abzeichnet. 
„...Die wilde Malerei fanden wir beinahe ausnahmslos doof“, bezieht Hartmut Andryczuk im Interview mit dem befreundeten Künstler Wolfgang Müller zur Situation seiner künstlerischen Orientierung Mitte der 1980er Jahre Position. Also Abgrenzung, das passt zu der Ausstrahlung des immer direkten, unverblümten, nach vorne heraus Agierenden.... „Man legte mir nahe, große Bilder zu malen. Ich probierte es zweimal auf alten Postsäcken und hielt nichts davon. Ich blieb lieber beim Notizhaften, Flüchtigen, dem intimen kleinen Format oder bei den Polaroids, die man während des Entwicklungsvorgangs noch mit Stift oder Schreibmaschine bearbeiten konnte“. 
Auch das bezeichnend. Nicht das etablierte Format reizt ihn, sondern die Entdeckung immer neuer, momentaner, wie eben aufnotierter Veranschaulichungen seiner Beobachtungen und Ansichten. Nicht der weit und flüssig schwingende Pinsel, nicht die überwältigende Leinwand, sondern eine Fülle von Blättern, geheftet, verbucht, auf denen sich Einfälle und Aussagen, Skizzen ansammeln...bald Comic, bald talk, Filzer, Buntstift, etwas Cobra etwas Keith Haring etwas weniger art brut, vielmehr: Andryczuk - unterschwelliges KONTRAstieren... und die Dinge sich verlieren und anknüpfen lassen und beweglich halten gegenüber den Erwartungshaltungen von Kunstgemeinden, die sich sicher sind, von nichts mehr erschüttert werden zu können – ...Mitte der 1990 er Jahre, vielleicht auch erst 2000, als sich die Gruppierung 13+ in Berlin formiert, als „Papierboote“, das Treffen der BuchkünstlerInnen mit Stand auf der Buchmesse im Museum zur Regel geworden sind, lerne ich Andryczuk allmählich kennen; an der Seite von Warnke, Furtwängler und anderen bekannten Namen der Buchkunst der Achtziger Jahre, wie Hartmut Honzera die Szene der das Künstlerbuch neu Akzentuierenden in einem Aufsatz 1984 taufte. An den Beginn kann ich mich nicht erinnern; irgendwie passt das zur Arbeit des Künstlers, Arrangeurs, Veranstalters, Verlegers... Andryczuk. So bedächtig er wirkt, so unaufhaltsam rege geht er seinen Vorstellungen nach. Eine Umtriebigkeit, die sich etwas Ungreifbares bewahrt. So kommen mir auch viele seiner Buchseiten vor; seine Bezeichnungen, mit Figürlichem und/oder Buchstäblichem, lösen die feste Bindung an das linear Zeilenhafte auf. Versprengt über die Fläche, konterkarieren sie den Lesefluss, stechen hervor und provozieren in grafischer Renitenz.  
Ein wichtiger Bezug liegt für Hartmut Andryczuk in seiner Begegnung mit dem (besonders in der Kunst der ehemaligen DDR) wegweisenden Guillermo Deisler (1940-1995) und dessen Strategie der grafischen, literarischen Kollaboration mit vielen ähnlich Gesinnten gegenüber ihren politisch-gesellschaftlichen Erfahrungen. Im Interview mit „Elektronikengel“ beantwortet Andryczuk – als handele er von seinem eigenen Agieren – die Frage nach der Auswirkung von Deislers Schaffen: „Der Umgang mit den digitalen Medien, der Multidimensionalität von Filmen, Musik, Animation, Text, Bild ist heute selbstverständlich geworden - natürlich auch für die Jüngeren, obwohl es dort auch nicht üblich ist, den Computer - jenseits der geschlossenen Konsumenten-Basisstationen mit ihren proprietären sozialen Netzwerken - als künstlerisches Medium zu gebrauchen. Die wenigsten können programmieren, kennen sich nicht aus mit HTML, XML-Code oder Java-Script. Ganz zu schweigen von der Philosophie des „Open Source“. Das Wissen mit anderen zu teilen und gemeinsam weiterzuentwickeln entspricht Guillermos Kunstideal oder der Produktionsweise von „UNI/vers(;)“. Nicht-Zensur, freie Netzwerke, Freilegung des Wissens und seiner Variablen, Suchen nach neuen Publikationsformen - das entspricht in etwa der „Open Source“-Philosophie im digitalen Bereich. Den Jüngeren muss man sagen: es gab bereits schon vor über 30 Jahren eine Netzwerk-Bewegung in der Kunst. Sie hat viele wie ein Virus infiziert und begeistert.“
Das Netz als potenzierte Mehrung des Linearen – gleichsam aus dem Off, ohne determinierte Ankunft gilt Andryczuk, ideal gedacht, die Offenheit des augenblicklichen Überall. Wer überall das Bewegende mit dem Stilisierten auszusöhnen weiß, wie Andryczuk in seinen Kompositionen vorführt, darf sich mit Fug und Recht eine Mail-Anschrift mit dem Begriff Kosmonaut zulegen. 
Seinen Kosmos erkundet Andryczuk im Hin und Her zu und mit „Kombatanden“, die er in Aktionen, Publikationen einzubinden weiß. Seit Ende der Achtziger Jahre entwickelt Andryczuk den Kanon seiner Ausdrucksformen. Sprache, gesprochen, geschrieben; Schrift, in Text und skribentischen Allover-Netzen, Zeichnung, von Wesen, die sich bald als Kobolde, bald als Amöben einmischen. Bissig, stechend, burlesk, spaßhaft.  Immer aufs neue bereit, sich zu paaren: als Erwiderungen zu den Einlassungen seiner Korrespondenten, ob Valerie Scherstjanoi, Ottfried Zielke, Felix Martin Furtwängler, Pierre Garnier... alles selbst stark Ausstrahlende, grafische Großmeister. 
Andryczuk behauptet sich, mit seinen Konzepten, seinen thematischen Pointierungen. Eloquent greift er die Tradition des Subversiven auf, anverwandelt Vorbilder aus Futurismus, Dadaismus, Fluxus in seine Welt der Worte und Wesen und Dialoge. 
Die kleine Virenbibliothek, eine Dokumentation aller bekannten Viren, auf versilberten Seiten – Platinen gleich – gelistet von Ihresgleichen sichtbar gemacht: Wesen aus kleinen und größeren Rundkörpern mit Ausbuchtungen und Wucherungen, hier etwas Gold, da etwas Weiß, Punkte und Striche als stierende Augen und gierige Zähne, betören und beängstigen den im Jahr 2000 noch staksig durch seine Bildschirmwelt klickenden User – und seine Sorge um die vielbeschworenen Angreifer seiner kaum zu glaubenden Schnellen Neuen Welt. 
„…Garten, Garten, wo der Blick des Tieres mehr bedeutet als Berge gelesener Bücher…Wo in den Tieren irgendwelche, wunderschöne Möglichkeiten verschwinden, so, wie die ins Gebetbuch eingetragene Handschrift des Igorliedes, die bei der Eroberung Moskaus durch Napoleon verbrannte.“ (Velimir Chlebnikov, 1909,1911)
2004 entsteht das Leporello „Tiergarten“ zum gleichnamigen Text von V. Chlebnikov. Valeri Scherstjanoi hat sich intensiv mit dem Werk des Avantgarde Künstlers beschäftigt, in seiner Übersetzung ist der Text in der Ausgabe des Hybriden Verlags zu lesen. Und visuell zu erspüren, wie er handschriftlich in mehr und weniger zeichnerisch aufgelöster und angereicherter Skriptur seinen Kampfgeist visuell zu erkennen gibt; mit samt den stark farbigen Figuren, die Andryczuk in ihn hinein gezeichnet hat. Das mutet an die alte Tradition der Drolerien an, jener Textseiten begleitenden Figuren, deren halbwirklich, halbunwirkliches Dasein in Ranken und Blättern dem Wortfluss des Textes eine paradiesische Aura verleihen. Selbst im Bild sein und KonText entstehen lassen, das Buch zum Raum für ausspinnende, sich dem Text zuweisende und enthebende Betrachtungen machen – Buchanschauung gleich Weltanschauung der eigenen Art – Andryczuk vermag genau diese Klimax des Besonderen zu erzeugen. Wie beispielhaft seine Zeichnungen auf Notenpapier unter dem Titel NATOBLUME (2001) anklingen lassen: Zum Sehen gehört das Hören. Ob Hartmut Geerken oder Wolfram Spyra ... „die Entfaltung des Sounds als Eröffnung einer zu entdeckenden Neuen Welt basiert auf der tonalen und geräuschvollen Ausdrucksform von Instrumenten. Und, wie um Andryczuks gezeichnete Wesen zu benachbarn: Der beschwörende Dichter wird vom Echo (der Instrumente) eingeholt, an das Echo werden allmählich die Waldstimmen angeschlossen: „Vögel, Tiere, Waldgeister, Getrappel, Prasseln, Getöse und dumpfes Krachen...und andere Sounds, die mit Worten nicht zu bezeichnen sind: denn es scheint so, als ob irgendwelche undenkbaren und jenseitigen Kreaturen auf die Herausforderung des Dichter-Schamanen reagieren.“

Today I will go once again
into life, into haggling, into market, And lead the army of my songs To duel against the market tide. (Velimir Chlebnikov)
Der Blick für das Ungewöhnliche kann an der Figur Chlebnikov andocken.   
„Chlebnikov erlässt Aufrufe in Gedichtform, in Briefen, die öffentlich sind, poetischer Akt; Chlebnikov ist nicht Reim, Reimreform und auch nicht freier Vers – er hat alle diese Formen beherrscht, und nicht nur sie. Chlebnikov ist auch als Journalist noch Chlebnikov, denn dieser Chlebnikov ist ein „neues Sehen“ (Tynjanov), eine neue Sehweise, neue Wahrnehmung der Welt, und zugleich Entwurf einer Neuordnung der Welt und neuer Welten in dieser Welt. Die neue Wahrnehmung der Welt, Chlebnikovs Welten in dieser Welt, die von der konkreten Wirklichkeit Rußland vor und nach 1917 keineswegs unabhängig waren, trennen nicht mehr zwischen dem Alltag des Lebens und dem Feiertag der Literatur, zwischen der Wirklichkeit der „Erwerbler“ und den Träumen und Visionen der Budetljane, der „Bürger der Zukunft“; Bürger der Zukunft hat Chlebnikov nur sein können, weil die Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für ihn, Chlebnikov, gleichwertige Größen waren, weil Chlebnikov nicht trennte zwischen Leben und Tod.“ Andryczuk und sein Hybriden Verlag - auch sie trennen nicht zwischen dem Alltag des Lebens und dem Feiertag der Literatur.  Und mit seinen diabolischen, tierischen Kumpanen kann er der Zukunft angriffslustig entgegensehen. Zumal: es muss ja nicht immer der Mensch sein, wie Grandville mit seinem „Un autre monde“ meisterlich karikierend schon vor rund 150 Jahren federleicht sichtbar machte.
Oder noch einmal Chlebnikov: „Wenn die Menschen keine Lust haben, meine Kunst, die Zukunft vorauszusehen, zu erlernen (und solches ist in Baku schon geschehen, unter den lokalen Geistesgrößen), so werde ich in ihr die Pferde unterrichten. Vielleicht wird sich das Reich der Pferde als ein fähigerer Schüler erweisen denn das Reich der Menschen. Die Pferde werden es mir danken, sie werden, außer dem Wagenziehen, noch eine weitere hilfreiche Verdienstmöglichkeit haben: sie werden den Menschen das Schicksal voraussagen und den Regierungen helfen, die noch Ohren haben.“
Stefan Soltek

Dr. Stefan Soltek ist Kulturwissenschaftler und Direktor des Klingspor-Museums in Offenbach am Main