Eine Bahnfahrt, völlig überfüllt mit Radfahrern und Kinderwagen von Berlin Südkreuz nach Züssow und von Züssow zur Insel Usedom; ein elektronisches Buch während der Bahnfahrt: John Lilly - Im Zentrum des Zyklons - mit Gurdjiewschen Schwingungszahlen; eine Hotel-Juniorchefin, vermutlich blondiert, überparfümiert mit etwa 5 cm langen angklebten Fingernägeln; eine Deutschlandfahne am Best Western Hotel Hanse Kogge, unsere Unterkunft; ein Appartement mit Blick auf Bahntrasse, Straße und Wellnessbereich "Bernstein Spa"; ungezählte Rollstühle und Rollatoren, die während des Frühstücksbüffets als Transportmittel dienen (Mortadella-Teller und halbierte Eier); der Chef des Hauses "Wald und Meer" einsam und Kreutzworträtsel lösend auf der Terrasse vor der Rezeption; ein geschlossener Imbiss rechts vom Hotel "Wald und Meer"; ein kariertes Thor Steinar-Hemd mit Steinar-Aufdruck, getragen von einem untersetzten Mann und in Begleitung einer adipösen Frau, deren fleischigen Schenkel aus den Shorts quellen; eine Adler-Tätowierung auf den Oberschenkeln eines jungen Mädchens; diverse Live-Konzerte nachgespielter Krach-Musik und kruden Mischungen: Udo Jürgens, Neil Young, Bob Dylan und Helene Fischer; diverse Undercut-Frisuren, die Seiten rasiert und oben Haupthaar oder wie bei der Chefin eines "mediterranen" Restaurants, eine Seite kahl, die andere rosa gefärbt und gelockt; eine Fahrradfahrt nach Zinnowitz. Geschäft mit "Marco Polo" - Klamotten und "Better rich", nicht besonders und völlig überteuert; diverse Nachmittage im Strandkorb Nr. 5 mit Blick auf die junge Familie Flodder (junger Vater mit "Lutscher"-Aufrduck zu seinem Kind: "Wenn du nicht gleich ruhig bist, stecke ich dich ins Bett"); diverse Reglementierungen im Hotel Hanse Kogge: es wird darum gebeten, nichts vom Frühstück-Buffet mitzunehmen. Das Hotel stellt (vermutlich kostenpflichtige) Lunch-Pakete bereit; die Wellnessabteilung darf nur mit Badelatschen betreten werden (Bademäntel kosten einmalig 5 Euro); ein Hinweisschild an der Tür zu den therapeutischen Anwendungen: "Diese Abteilung darf nur in Begleitung eines Therapeuten betreten werden"; weitere Adipositas-Studien am Strand - Bikinis mit Fettwülsten und tätowierten Innenschenkel-Ornamenten, Glatzköpfe mit grauen Ziegenbärten und Totenköpfen an den Gewichtheber-Oberarmen, ältere Herren mit dünnen Gesichtern und Blähbäuchen (Lübzer Pils hat diese Körper gebildet); Ostsee-Schwimmen von Buhne zu Buhne - 10 Bahnen = 1 Stunde); Hafenfest am Achterwasser mit normaler Schlagermusik, Rollstullfahrern und Heringsbrötchen; keine Kaiserbäder und keine weiteren Bernsteinbäder; kein Besuch in Peenemünde und in Trassenheide, der Hauptstadt der Schmetterlinge; ein guter Nachruf zu unserem verstorbenen Freund Garrelt Weerts von Tajana Wulf im Berliner Tagesspiegel unter der Ùberschrift "Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar am liebsten. Ein Besucher, der über den Flur in das breite Berliner Zimmer tritt, weiter in das helle Balkonzimmer, über die Brüstung die Bundesallee entlangschaut und sich dann für einen Moment entschuldigen muss, ist verblüfft: Das Gästebad fällt nahezu kümmerlich aus. Man zwängt sich hinein, schließt die Tür – und steht vor der ganzen Welt. In der Karte an der Wand, über alle Kontinente verteilt, stecken Nadeln mit roten, gelben, grünen und blauen Köpfen. Eine Stecknadelreihe zieht sich von Berlin über Moskau und Jekaterinburg bis nach Peking. Die meisten Menschen sprechen nur darüber, das müsste man einmal machen, mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren. Garrelt und Hartmut stiegen tatsächlich in den Zug, mieteten ein Abteil mit Dusche, aus der das Wasser nur tropfenweise drang, fuhren durch Birkenwälder, den Ural, die mongolische Wüste, schliefen ein mit dem rhythmischen Rattern der Schienenstöße und wachten mit ihm wieder auf. Sie nahmen auch andere Züge, den luxuriösen Blue Train durch Südafrika, den Ghan in Australien. Sie flogen nach Afrika und Mittelamerika. Sie durchquerten Europa. Länger als zwei Wochen aber waren sie erst unterwegs, nachdem Garrelt seine Hausarztpraxis aufgegeben hatte. „Die Arbeit war für ihn das Wichtigste“, sagt Hartmut, „erst kam der Beruf, dann kam der Beruf.“ Er macht eine Pause. „Dann kam das Private. Ich musste lernen, damit umzugehen.“ Hartmut plante die Reisen. Die Urlaubszeit war knapp, 14 Tage im Jahr mussten reichen, länger sollten Garrelts Patienten nicht warten. Er war geduldig mit den Kranken – umgekehrt konnte man das nicht immer behaupten. Er hörte ihnen zu, auch mitten in der Nacht, am Telefon, sagte nie: „Nun beruhigen sie sich mal, ich komme morgen früh“, sondern machte sich sofort auf den Weg. Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar die liebsten, auch später, nachdem er die Praxis abgegeben und die Beratung bei der Telefonseelsorge begonnen hatte. Besonders mochte er den Sommer, wenn die Sonne am Abend, wenn er losging, noch nicht untergegangen, und wenn er wieder nach Hause kam, schon wieder aufgegangen war. Er lief dann durch die Straßen, ganz allein, atmete die klare, unverbrauchte Luft. So hatte er es früher schon getan, auf einem Bauernhof in der Nähe der Nordsee, wo er aufgewachsen war. Das platte Land, die Kühe, die Moore und Dünen, das war schön, doch fehlte eine höhere Schule. Niemand aus dem Dorf hatte bisher ein Gymnasium besucht, niemand sonst war je zur Universität gegangen. Garrelt immatrikulierte sich in Marburg und schloss sein Medizinstudium in Kiel ab. Aber nie gehörte er zu jenen Ärzten, die sich mit prätentiöser Miene als Halbgötter aufspielen. Als er selbst Hilfe brauchte, ein Kollege ihn mit den Worten: „Guten Tag, Herr Doktor“ begrüßte, winkte er ab: „Lassen sie den Doktor mal weg.“ 1965 entschied er sich, in die Stadt zu gehen, in der die Leute nicht gleich hysterisch wurden, wenn ein Mann mit einem anderen zusammenwohnte. Er arbeitete als Assistenzarzt im Spandauer Krankenhaus, übernahm Notfalldienste und die Vertretung in der Praxis, die er später führte. Dass es in der Heilkunst um mehr geht als um Erkältungen und verdorbene Mägen, dass Rücken schmerzen und Herzen stolpern, weil es der Seele schlecht geht, war Garrelt früh schon klar. In der Zeit, die ihm blieb, viel Schlaf brauchte er nie, hörte er Vorlesungen in Psychologie. Meist waren alle Pulte besetzt, oft musste er stehen. So ergab sich hin und wieder im Gedränge ein Gespräch mit einem jungen Mann, der ihn eines Nachmittags zum Wannsee einlud, ein Kommilitone habe dort sein Segelboot. Mehr als 40 Jahre riss das Gespräch nicht ab, die beiden lebten und reisten zusammen bis zu dem Tag im Jahr 2002, an dem sich alles änderte, Garrelt nach Hause kam und zu Hartmut sagte: „Ich bin an Kamptokormie erkrankt.“ So heißt eine Variante der Parkinsonkrankheit, bei der sich der Rumpf tief nach vorn beugt. Man kann kaum stehen, gehen oder aufrecht sitzen, die Behandlung ist kompliziert. Garrelt ertrug die Schmerzen ohne Klage, ohne Missmut. Hartmut war für ihn da, all die Zeit. Eine Stecknadelreihe auf der Weltkarte im Gästebad zieht sich von Miami über die Karibik und den Panamakanal bis nach San Diego. Die letzte gemeinsame Reise über das Meer." - ; weitere Beschallungen mit "Atemlos" und "Heart of Gold" (Gast: "Es ist aber ziemlich laut hier. Eigentlich habe ich auf Usedom Ruhe gesucht:" - Hotelangestellter: "Das ist hier im Sommer so. Was soll ich denn erst sagen. Ich muss bei dem Lärm auch noch arbeiten"); einige Fotos vom Inventar des muffigen Aufenthaltsraums im Hotel Best Western Hanse-Kogge mit der Freizeit-Bibliothek ("Die Nebel von Avalon") und ein Hinweisschild an der hoteleigenen Schuhputzmaschine "bei Benutzung der Schuhputzmaschine übernehmen wir keine Haftung für eventuell entstehende Schäden an ihren Schuhen").
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Samstag, 26. Juli 2014
Best Western Hanse Kogge
Eine Bahnfahrt, völlig überfüllt mit Radfahrern und Kinderwagen von Berlin Südkreuz nach Züssow und von Züssow zur Insel Usedom; ein elektronisches Buch während der Bahnfahrt: John Lilly - Im Zentrum des Zyklons - mit Gurdjiewschen Schwingungszahlen; eine Hotel-Juniorchefin, vermutlich blondiert, überparfümiert mit etwa 5 cm langen angklebten Fingernägeln; eine Deutschlandfahne am Best Western Hotel Hanse Kogge, unsere Unterkunft; ein Appartement mit Blick auf Bahntrasse, Straße und Wellnessbereich "Bernstein Spa"; ungezählte Rollstühle und Rollatoren, die während des Frühstücksbüffets als Transportmittel dienen (Mortadella-Teller und halbierte Eier); der Chef des Hauses "Wald und Meer" einsam und Kreutzworträtsel lösend auf der Terrasse vor der Rezeption; ein geschlossener Imbiss rechts vom Hotel "Wald und Meer"; ein kariertes Thor Steinar-Hemd mit Steinar-Aufdruck, getragen von einem untersetzten Mann und in Begleitung einer adipösen Frau, deren fleischigen Schenkel aus den Shorts quellen; eine Adler-Tätowierung auf den Oberschenkeln eines jungen Mädchens; diverse Live-Konzerte nachgespielter Krach-Musik und kruden Mischungen: Udo Jürgens, Neil Young, Bob Dylan und Helene Fischer; diverse Undercut-Frisuren, die Seiten rasiert und oben Haupthaar oder wie bei der Chefin eines "mediterranen" Restaurants, eine Seite kahl, die andere rosa gefärbt und gelockt; eine Fahrradfahrt nach Zinnowitz. Geschäft mit "Marco Polo" - Klamotten und "Better rich", nicht besonders und völlig überteuert; diverse Nachmittage im Strandkorb Nr. 5 mit Blick auf die junge Familie Flodder (junger Vater mit "Lutscher"-Aufrduck zu seinem Kind: "Wenn du nicht gleich ruhig bist, stecke ich dich ins Bett"); diverse Reglementierungen im Hotel Hanse Kogge: es wird darum gebeten, nichts vom Frühstück-Buffet mitzunehmen. Das Hotel stellt (vermutlich kostenpflichtige) Lunch-Pakete bereit; die Wellnessabteilung darf nur mit Badelatschen betreten werden (Bademäntel kosten einmalig 5 Euro); ein Hinweisschild an der Tür zu den therapeutischen Anwendungen: "Diese Abteilung darf nur in Begleitung eines Therapeuten betreten werden"; weitere Adipositas-Studien am Strand - Bikinis mit Fettwülsten und tätowierten Innenschenkel-Ornamenten, Glatzköpfe mit grauen Ziegenbärten und Totenköpfen an den Gewichtheber-Oberarmen, ältere Herren mit dünnen Gesichtern und Blähbäuchen (Lübzer Pils hat diese Körper gebildet); Ostsee-Schwimmen von Buhne zu Buhne - 10 Bahnen = 1 Stunde); Hafenfest am Achterwasser mit normaler Schlagermusik, Rollstullfahrern und Heringsbrötchen; keine Kaiserbäder und keine weiteren Bernsteinbäder; kein Besuch in Peenemünde und in Trassenheide, der Hauptstadt der Schmetterlinge; ein guter Nachruf zu unserem verstorbenen Freund Garrelt Weerts von Tajana Wulf im Berliner Tagesspiegel unter der Ùberschrift "Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar am liebsten. Ein Besucher, der über den Flur in das breite Berliner Zimmer tritt, weiter in das helle Balkonzimmer, über die Brüstung die Bundesallee entlangschaut und sich dann für einen Moment entschuldigen muss, ist verblüfft: Das Gästebad fällt nahezu kümmerlich aus. Man zwängt sich hinein, schließt die Tür – und steht vor der ganzen Welt. In der Karte an der Wand, über alle Kontinente verteilt, stecken Nadeln mit roten, gelben, grünen und blauen Köpfen. Eine Stecknadelreihe zieht sich von Berlin über Moskau und Jekaterinburg bis nach Peking. Die meisten Menschen sprechen nur darüber, das müsste man einmal machen, mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren. Garrelt und Hartmut stiegen tatsächlich in den Zug, mieteten ein Abteil mit Dusche, aus der das Wasser nur tropfenweise drang, fuhren durch Birkenwälder, den Ural, die mongolische Wüste, schliefen ein mit dem rhythmischen Rattern der Schienenstöße und wachten mit ihm wieder auf. Sie nahmen auch andere Züge, den luxuriösen Blue Train durch Südafrika, den Ghan in Australien. Sie flogen nach Afrika und Mittelamerika. Sie durchquerten Europa. Länger als zwei Wochen aber waren sie erst unterwegs, nachdem Garrelt seine Hausarztpraxis aufgegeben hatte. „Die Arbeit war für ihn das Wichtigste“, sagt Hartmut, „erst kam der Beruf, dann kam der Beruf.“ Er macht eine Pause. „Dann kam das Private. Ich musste lernen, damit umzugehen.“ Hartmut plante die Reisen. Die Urlaubszeit war knapp, 14 Tage im Jahr mussten reichen, länger sollten Garrelts Patienten nicht warten. Er war geduldig mit den Kranken – umgekehrt konnte man das nicht immer behaupten. Er hörte ihnen zu, auch mitten in der Nacht, am Telefon, sagte nie: „Nun beruhigen sie sich mal, ich komme morgen früh“, sondern machte sich sofort auf den Weg. Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar die liebsten, auch später, nachdem er die Praxis abgegeben und die Beratung bei der Telefonseelsorge begonnen hatte. Besonders mochte er den Sommer, wenn die Sonne am Abend, wenn er losging, noch nicht untergegangen, und wenn er wieder nach Hause kam, schon wieder aufgegangen war. Er lief dann durch die Straßen, ganz allein, atmete die klare, unverbrauchte Luft. So hatte er es früher schon getan, auf einem Bauernhof in der Nähe der Nordsee, wo er aufgewachsen war. Das platte Land, die Kühe, die Moore und Dünen, das war schön, doch fehlte eine höhere Schule. Niemand aus dem Dorf hatte bisher ein Gymnasium besucht, niemand sonst war je zur Universität gegangen. Garrelt immatrikulierte sich in Marburg und schloss sein Medizinstudium in Kiel ab. Aber nie gehörte er zu jenen Ärzten, die sich mit prätentiöser Miene als Halbgötter aufspielen. Als er selbst Hilfe brauchte, ein Kollege ihn mit den Worten: „Guten Tag, Herr Doktor“ begrüßte, winkte er ab: „Lassen sie den Doktor mal weg.“ 1965 entschied er sich, in die Stadt zu gehen, in der die Leute nicht gleich hysterisch wurden, wenn ein Mann mit einem anderen zusammenwohnte. Er arbeitete als Assistenzarzt im Spandauer Krankenhaus, übernahm Notfalldienste und die Vertretung in der Praxis, die er später führte. Dass es in der Heilkunst um mehr geht als um Erkältungen und verdorbene Mägen, dass Rücken schmerzen und Herzen stolpern, weil es der Seele schlecht geht, war Garrelt früh schon klar. In der Zeit, die ihm blieb, viel Schlaf brauchte er nie, hörte er Vorlesungen in Psychologie. Meist waren alle Pulte besetzt, oft musste er stehen. So ergab sich hin und wieder im Gedränge ein Gespräch mit einem jungen Mann, der ihn eines Nachmittags zum Wannsee einlud, ein Kommilitone habe dort sein Segelboot. Mehr als 40 Jahre riss das Gespräch nicht ab, die beiden lebten und reisten zusammen bis zu dem Tag im Jahr 2002, an dem sich alles änderte, Garrelt nach Hause kam und zu Hartmut sagte: „Ich bin an Kamptokormie erkrankt.“ So heißt eine Variante der Parkinsonkrankheit, bei der sich der Rumpf tief nach vorn beugt. Man kann kaum stehen, gehen oder aufrecht sitzen, die Behandlung ist kompliziert. Garrelt ertrug die Schmerzen ohne Klage, ohne Missmut. Hartmut war für ihn da, all die Zeit. Eine Stecknadelreihe auf der Weltkarte im Gästebad zieht sich von Miami über die Karibik und den Panamakanal bis nach San Diego. Die letzte gemeinsame Reise über das Meer." - ; weitere Beschallungen mit "Atemlos" und "Heart of Gold" (Gast: "Es ist aber ziemlich laut hier. Eigentlich habe ich auf Usedom Ruhe gesucht:" - Hotelangestellter: "Das ist hier im Sommer so. Was soll ich denn erst sagen. Ich muss bei dem Lärm auch noch arbeiten"); einige Fotos vom Inventar des muffigen Aufenthaltsraums im Hotel Best Western Hanse-Kogge mit der Freizeit-Bibliothek ("Die Nebel von Avalon") und ein Hinweisschild an der hoteleigenen Schuhputzmaschine "bei Benutzung der Schuhputzmaschine übernehmen wir keine Haftung für eventuell entstehende Schäden an ihren Schuhen").
Sonntag, 13. Juli 2014
Bauruinen in Brasil (ab dem 14. Juli 2014)
Brasilien weint? Seit letztem Dienstag, als die Fußball-Nationalmannschaft in einem WM-Halbfinalspiel 1:7 verlor? „Ich wollte dem Volk doch nur Freude bereiten und muss mich für die Leistung entschuldigen“, sagte der in Tränen aufgelöste teuerste Abwehrspieler der Welt, David Luiz. Zuvor hatte er beim Absingen der Nationalhymne noch das Trikot Nr. 10 des verletzten Messias Neymar hochgehalten. Welche Hybris angesichts großer Teile des leidenden Volks, deren Heimat durch die Bulldozzer plattgemacht wurde, um dem Bau neuer Stadien für die Weltmeisterschaft zu weichen – und welche Erniedrigung. Vor einem Jahr erklärten sich die Spieler noch mit dem brasilianischen Volk solidarisch. Diese Mannschaft wäre legendär geworden, wenn sie aus diesem Grunde gar nicht erst angetreten wäre – sozusagen den Generalstreik ausgerufen hätte.
Vielleicht wäre der legendäre kolumbianische Drogenboss Pablo Escobar der bessere FIFA-Präsident gewesen. Zu Lebzeiten hat der zumindest den Müllhalden-Bewohnern in Bogota ein neues Zuhause finanziert.
Mittwoch, 9. Juli 2014
DIE HAND
Unsere Hand heisst Rex. Sie ist gutgebaut, kräftig und von elegantem Profil; je nach Rasse fällt die Eleganz kleiner oder grösser aus, bleibt aber meist am Boden eines Weinglases liegen und setzt sich dort langsam aber sicher, um zu immer mehr Reife zu gelangen, ab.
Viel geschüttelt oder gefackelt wird hier nicht. Unvorteilhaft wäre das Ausbleiben von Vorteilen; unsere Hand Rex hat damit aber keine Schwierigkeiten: je älter sie wird, umso leichter schleicht sich die Gicht in ihre verwelkende Schönheit und Eleganz ein – für den Moment aber lassen wir diesen Aspekt besser beiseite, denn noch ist sie jung, frisch, stark und kräftig, unsere und Matthias Hand, denn sie heisst Rex, ist ein König und voller Grosszügigkeit, Kraft, Eleganz und Schönheit, und noch springt sie jeder anderen, ihr vertrauensvoll entgegengestreckten Hand entgegen: mit wedelnden Ellenbogen, freundlich und immer aufs Ganze gehend.
Jede Hand ist verschieden, jeder König ist anders, es gibt kleine, dicke, dünne, lange oder kurze. Eines aber ist allen gemeinsam: sie wissen was sie wollen, immer haben sie ihr Ziel vor Augen. Das Fassen oder besser das Zufassen. Mäuse fassen und fangen ist schwer für eine Hand, zwei Hände sind da schon besser, denn zwei starke, feste und kräftig zupackende Hände braucht der Mensch, sie sind sein bester Freund. Mit ihnen kann er allen Gefahren trotzen, sich gegen jedweden Angreifer, Eindringling, Räuber und dergleichen verteidigen.
Aber Vorsicht! Hier ist Erziehung vonnöten, denn sie brauchen Drill, müssen abgerichtet werden, sie, die Hände eines jeden, damit sie nicht einmal ihm selbst, dem Hand- und Händehalter an die Gurgel springen. Nicht jeder hat eine Hand, auch das muss hier gesagt werden, die meisten Menschen besitzen zwei, zumal ich hier nicht über Füsse und dergleichen spreche – auch sie könnte man als sogenannte “zweite Hände” oder gar “linke Hände” ansehen, da ihnen und dergleichen das Zupacken und Fassen nicht so leicht fällt, dass es auf dem Boden jedweden Weinglases seine reifende Ruhe finden könnte.
Bleiben wir also bei den Händen: eine rechte und eine linke. Oft kommt es vor, dass sie sich bekriegen: jede Hand braucht ihren ganz eigenen Regierungsbezirk, nicht ohne Grund nennen die Menschen sie am liebsten Rex. Jede Hand ist ein Rex, egal, ob es die linke oder die rechte ist, jede Hand ist ein König, der sein Gut verteidigt und Zähne fletschend noch jedem Hirsch oder Kaninchen nachstellt. Die Lust des Jagens, die Jagdlust beider Hände steht seit Jahrtausenden tief eingegraben und aufrecht im Meer der Handinnenflächen, das jeden Moment über seine unzähligen Ufer und Strände brechen oder schlagen kann, denn manchmal jagen sie zweifelhaften Formen nach, die mehr als Gefahr in sich bergen. Die weiblichen und die männlichen Formen, denen sie mit der Zunge liebevoll über andere neue und unbekannte Hände fahren, andere und fremde Könige von unten bis oben abschlecken: speicheltropfend rahmen sie das angebetete Opfer mit all ihrer Liebe und Zuneigung ein, mach einer schon hat eine Hand geküsst, wenn nicht, sogar auf den Mund.
Ohne eigene Hand ist einer machtlos.
Einer, der etwas zu verteidigen hat – nicht alle haben das - einer, der sein Herrschaftsgebiet erweitern will oder zumindest nicht von anderen eingeschränkt sehen will. Somit versteht es sich von selbst, dass sie gut abgerichtet sein müssen: allerlei Arbeit ist zu verrichten. Dafür fordern sie, unsere Hände, aber auch das, was ihnen zusteht.
Sie wollen gefüttert sein, sie brauchen Ausgang.
Stadthände, Landhände: ein gutes fettes Hühnchen wird ungern verschmäht, so, dass es vorkommt, dass sogar der Besitzer, der Hand- und Händehalter kurzzeitig auf seine Macht verzichten muss, weil er sie in einem der üblichen Restaurants und Kioske verliert und nicht einmal mehr seiner eigenen Hand nachkommt, da diese längst und ohne viel zu fragen, zugepackt und zugefasst hat, um sich in herrlich saftiges Hühnchenfleisch zu verbeissen.
Die Hand verstärkt die eigene Macht. Vergrössert das eigene Hoheitsgebiet. Die Wellen und Linien, geborgen in den Handinnenflächen, sagen alles über das Leben der Hände aus. Vor Jahrtausenden darin eingeritzt und vom Lauf der Zeit verformt, spiegeln sie das Schicksal jeden Hand- und Händehalters wieder, sagen ihm voraus, um welche neue Hand er anhalten wird, ja, welche Hände er in der Gesamtheit seines langen oder kurzen Lebens jemals halten wird. Auch die Ringe, die man ihm an die Finger steckt, spielen ihre Rolle. Die Finger, mit der einer seine Hände bedient und sie damit trainiert, verstärken die Kraft des Zuschlagens, Zupackens, können sie bei Gelegenheit aber auch schwächen. Manch einer schon hat einen Kugelschreiber umfasst und Verträge unterschrieben, die er lieber nicht unterschrieben hätte. Aber all dies steht in den Handinnenflächen geschrieben, Wellen und Linien, die das Leben eines jeden nach- sowie vorzeichnen. Auch hängt all dies von der jeweiligen Kraft und dem jeweiligen Willen des betreffenden Hand- und Händehalters selber ab, das soll heissen: die Hand hat viel Macht über ihn, aber nicht alle.
Die Hand ist das Werkzeug, das den eigenen Willen unterstützt, ungewollte Eindringlinge (in die Hand oder anderswo) abschreckt oder ihnen den Garaus macht. Ja, man muss es hier sagen: schon manch eine Hand hat der anderen die Gurgel umgedreht. Entweder durch zu starkes Zupacken, Beissen, Reissen und das zu hohe Wellenschlagen der Handinnenflächen oder sogar durch böses Blut, das allzugerne schäumt und seinen Schaum durch die im Wind flatternden Fahnen hindurchbläst, dass es nur so bellt und sich am Ende noch mehrere Länder bekriegen. Gründe gibt es immer, immer tritt einer dem andern auf den Schlips. Deshalb auch braucht einer Hände, um den eigenen Schlips zu verteidigen, ja, um ihn zuerst einmal um den eigenen Hals zu binden, gerade so, als sei der Hand- und Händehalter seine eigene Hand selbst. Wer hatte nicht einmal Probleme mit dem Krawatte-Binden? Das Halsband einer jeden Hand, die sich damit den Anschein gibt, sie habe ihre eigenen Hände unter Kontrolle? Das ist Täuschung, auch hier ist Vorsicht geboten.
Hände lieben Sport. Was wäre ein Ball ohne Hände, um ihn zu werfen, zu schlagen oder gar zu fangen? Hände spielen leidenschaftlich gern mit einem Ball, ja, mit mehreren Bällen: wirft man einen Ball hinaus, ins Freie, springen sie lustvoll bellend, umgehend hinterher, fassen ihn mit unglaublicher Fleischeslust bald mit der Faust, bald mit dem Handrücken, um ihn Zähne fletschend und so rasch wie möglich dem Ball- und Händehalter zurückzubringen und unterwürfig vor die Füsse zu legen. Handball, Tennis, Federball: Hände lieben jede Art von Ballspiel. Natürlich muss trainiert werden. Sie müssen beweglich bleiben, schnell wie ein Sturm sein: Reaktionsfähigkeit ist gefragt. Spielt eine Hand mit einem Ball, ist es schön zuzuschauen, weil, zumal darauf dressiert, ihr kaum ein Ball entgeht.
Aber ein und noch einmal ist hier Vorsicht geboten. Man darf es nicht vergessen: Hände werden auch geschlagen. In die Mitte welliger und bergiger Handinnenflächen, auf die Schultern, auf die Pfoten, ein Handschlag besiegelt Verträge, Versprechen, ehrenhafte Worte oder untolerierbares Betragen.
Hände sind ein lieber Begleiter beim Spazierengehen; gern reissen sie den Bäumen Blätter aus und ab vom Wegesrand, gern reissen sie den Wegbegleitern Haut und Haare aus, gern turnen sie auf Baumkronen, so, dass einen Angst und Bewunderung wie vom Baum fallende Blätter befällt. Manchmal büchsen sie auch einfach aus und lassen einen allein auf unsicherem Wiesengrund stehen; allzugern öffnen sie den Hals von Kaninchen oder sonstigem Getier und dergleichen, weshalb man sie freilaufen lassen muss, denn Hände müssen das Gefühl von Freiheit spüren, sonst werden sie duckmäuserisch und sind nicht mehr schön anzusehn. Stolz müssen sie sein, leuchten und strahlen müssen sie, die stolzen Hände, auf die wir so stolz sind, und mit denen wir wie Insekten mit zerbrechlichen Fühlern über noch jedes Blatt Papier fahren, über jeden Geländewagen, der seine sanften Handinnenflächen in die trockene Erde geschickt eingraviert. Unsere geliebten Hände, sie legen leuchtende Gedanken frei, um sie in Natur, Wildnis und Papier mit dem eigenen Blut für die Ewigkeit zu versiegeln.
Ja, Hände lieben Geschwindigkeit, sie lieben das Ziel, angelegte Ohren, denen sie nachlaufen wenn sie auf der Jagd sind: am liebsten verfolgen sie etwas, ein Kaninchen, einen Straftäter, jedwelches Getier und dergleichen. Man benutzt sie zum Jagen, Bogenschiessen, Hand- und Korbball und sogar als Spürhände, da ihr Geruchssinn besonders ausgeprägt ist: sie wissen, wie Angst riecht, erkennen sie sofort und schon haben sie zugebissen.
Immer kann man sich auf sie verlassen, mit ihnen davonreiten, in wilder Fahrt und mit wehenden Fahnen. Sie lieben es, nützlich zu sein, das macht den besten Freund des Menschen in ihnen aus, auch sind sie in der Lage, sich für ihn zu opfern, für ihn, ihren Hand- und Händehalter, ihren Besitzer, denn sie lieben es, treu und anhänglich zu sein, denn sie hängen an jedwedem Herrn wie ein Gürtel ohne Schloss.
2 – MATTHIAS
Matthias hatte die Hand voller Wellen und Linien; ein grosses und aufgewühltes Meer, das ihm Angst machte, denn jeden Moment konnte es über ihn, Matthias sowie über seine eigenen Ufer und Strände brechen und schlagen. Matthias Hand war stark, auch hatte er sie unter Kontrolle: sie, seine geliebte Hand Rex hielt ihm die Welt auf schöne und schützende Distanz.
Das war aber nicht selbstverständlich.
Oft sprang, hüpfte und wedelte sie allzu gern in fremder Luft herum, vergass Matthias, ihren Besitzer, Hand- und Händehalter und sah sich plötzlich und ungewollt einer fremden Hand gegenüber.
Damit ging es los.
Matthias Hand Rex war mit einer guten Portion Misstrauen gesegnet und, obschon sie sich allzugern ausgab, sich freundlich anderen Händen entgegenstreckte oder ganz einfach gern winkend die Luft bewegte, behielt sie diese gute Portion Misstrauen immer für sich; eine Portion, die so gut war, dass sie sie mit keiner anderen Hand jemals teilen sollte.
Im Falle einer gewaltsamen Konfrontation mit einer anderen, starken und fordernden Hand jedoch, reagierte sie geistengegenwärtig und hielt jene dann siegessicher und mit fester Faust umschlossen.
Im Ganzen gesehen jedoch könnte man aber sagen, sie war lebenslustig, sprang gern in Wäldern und Parkanlagen herum und biss ab und zu auch gerne zu - man muss es ihr nachsehen: Lebenslust hat viele Farben und ist facettenreich.
Schlussfolgerung: die Hand gehorcht zuerst, greift danach an und beisst, wenn nötig, jeder ihr entgegengestreckten Hand rasch und zielsicher ins Gesicht.
Der jeweilige Hand- oder Händehalter hat Macht über sie, Rex, den König, weil er ihr Besitzer ist.
Er gibt ihr zu fressen, trainiert sie, richtet sie ab, rollt sie zuweilen und als Ausgleich liebevoll zur Schnecke ein und kann sich so sicher sein, dass, sobald sich eine fremde Hand nähert, die seine ohne zu zögern, rasch und ohne zu fragen: zufasst. Zuerst freundlich, aber distanziert. Auf Abstand.
Hält eine Hand die andere zu lange umfasst, ist Vorsicht geboten: hier geht es um Territorialansprüche, Gebiets- und Geistesaufteilungen.
An jenem Tage ging mir Matthias einfach nicht zur Hand, er war nicht zu bremsen. So nah ich Rex auch zu ihm hinbrachte, er verschmähte ihn, wandte sich ab, schnöde, zog an der Leine, presste mir das Blut im Handgelenk ab. Mit seinen Beinen, die ihm am Körper hingen wie Würste. Alles war unklar. Matthias gehörte gar nicht mir, aber er gab mir die Pfote, als sei ich sein ständiger Begleiter. Er gehörte der Nachbarin, die ihn liebte und aufzog, ihn mit ihrem Handgelenk festhielt, so sehr, dass sich ihre Handinnenflächen immer mehr verbogen, sich ihr Leben stetig veränderte. Weshalb die Unruhe? fragte mich am Abend der Freund der Nachbarin, gab mir seine Hand Rex und Matthias heimlich einen Tritt, sodass sein Rex und mein Rex lächelte - wir wussten, was gemeint war, der Nachbar und ich.
Dazu kam, dass der Nachbar gern anderen die Hand zerquetschte und danach wie weiche Knochen zerbiss. Er war ein Haudegen. Zusammen mit seiner Hand Rex, die er immer ganz nah bei sich trug, meist hing sie ihm vom Handgelenk schlaff herunter und schaukelte in der Luft, als sei Matthias jederzeit bereit, einen enormen Satz auf alle zu zu machen: “Du musst den Hund ganz nah bei dir halten”. Der Hundesachverständige hatte es erklärt: die Hand Rex muss immer ganz nah am Hund gehalten werden, sodass er nicht einfach davonstürzen kann, dich rücklings an deiner eigenen Hand Rex hinter sich herziehen kann, sodass dir unter Umständen noch deine eigene Hand abfällt. Nein, nicht wirklich abfällt, natürlich, aber der Druck der Leine kann so gross werden, dass die Blutzufuhr gesperrt wird, dir die Hand Rex für eine Weile tatsächlich abstirbt. Matthias wusste natürlich instinktiv, was der Nachbar da mit ihm vorhatte und nahm meine oder die Hand des Nachbarn in die seine und sprang dann mit einem grossen Satz so plötzlich auf und davon, dass die Nachbarin auf ihr eigenes Gesicht fiel. “So geht es nicht”, sagte entsetzt der Nachbar, zog Matthias zuerst an den Ohren und dann wieder an seiner eigenen Hand Rex zu sich heran und tätschelte ihm den Bauch, um ihn vorerst zu beruhigen. Die Nachbarin lag leblos und stumm auf dem Boden, auf ihrem eigenen Gesicht, die Hände ganz nah bei den Augen: “Die Gefahr ist zu gross!” rief da plötzlich jemand, wir, die wir alle im Aufzug, und wie Vieh zusammengepfercht standen. Danach sagte erst einmal niemand mehr etwas; alle liessen wir uns, gelähmt von den orkanartig anschwellenden Wellenbergen der sich immer stärker ausbreitenden Angst wiegen und schaukeln. Normalerweise wusste der Nachbarn was in Extremsituationen zu tun sei. Er zog dann auch Matthias an seiner Hand Rex ganz nah zu sich heran, hielt beide im Augenblick von der wie tot daliegenden Nachbarin, der eigentlichen Hundehalterin, fern. “Könnte ich den Hund einklappen wie meine Hand, wäre alles leichter. Einfacher.” Er atmete einmal tief durch. Einen kurzen Moment lang und so tief, dass Matthias laut aufjaulte, dem Nachbarn an die Hand Rex sprang und sie mit einem kurzen und raschen Biss durchtrennte. Sie fiel einfach von ihm ab. Sprühregen spritzte sein Blut auf die jetzt am Boden liegende Hand Rex, Matthias, die Nachbarin und uns, die restlichen Aufzugbesucher. Alle waren wir entsetzt.
Matthias hatte dem Nachbarn seine Hand Rex abgebissen. Das Blut spritzte wie Regen auf die Köpfe, die Leiber, verschiedene Kleider und alle alten und neu hinzugekommenen Hände, die ihre Besitzer schnell am Kopf kratzten. Alles geschah rasend schnell; ausserdem trug jeder noch an seinen eigenen Beinen, die separat neben Matthias Korb einen Platz gefunden hatten. Matthias hatte seinen Korb nie gemocht; die immer noch am Boden und wie tot daliegende Nachbarin hatte ihn vor einem Jahr gekauft und Matthias daran wie ihre eigene Hand Rex hinter sich hergezogen: es war ein unwürdiges Schauspiel gewesen, als der Korb an der Hand der Nachbarin einfach so im Aufzug umgefallen war.
“Und was machen wir jetzt mit Matthias, bzw. der abgebissenen und heimatlos gewordenen Hand Rex des Nachbarn?” Sagte irgendein anonymer Aufzugbesucher, bekam aber keine Antwort.
Zum Glück rappelte sich jetzt die Nachbarin, die eigentliche Hundebesitzerin, vom Boden auf. Alles deutete daraufhin, dass sie keinen grossen Schaden erlitten hatte. Kurz sah sie mich an, verdrehte mir das Handgelenk und versprach, jedes Problem sofort zu lösen.
Dann zog sich der Nachbar mit seiner verbleibenden Hand Rex die Hosenbeine nervös nach oben und liess sie sofort wieder fallen. Matthias schnappte natürlich prompt danach. “Dieser Hund ist so gefährlich wie meine Hand!” rief er dann aufgeregt und sah die Nachbarin vorwurfsvoll an: “Jeden Moment kann sie voller Wucht ausschlagen, wie eine Wünschelrute und dann weiss neimand mehr, welches Stündlein den armen Hund nun geschlagen hat. Ich habe diesen Hund niemals geschlagen, meine Hand Rex auch nicht, denn immer schlafen meine beiden Hände willig in meiner Hosentasche. Ich kann es also nicht gewesen sein. Ausserdem fehlt mir jetzt eine Hand, ich weiss nicht, wo ich sie hingesteckt habe”, worauf die Nachbarin ihren Oberarm entblösste und eine Tättowierung herzeigte, die Matthias, lächelnd und sich in ihrem Arm wiegend, darstellte. Daraufhin fing Matthias zustimmend zu bellen an, sodass sich alle nach ihm umdrehten, zur gegenüberliegenden Wand, an die Matthias in hohem Bogen neuen Sprühregen hinpinkelte.
“Diese Schweine,” räusperte sich der Hausmeister zu Wort und suchte nach einem sauberen Schwamm, um das Blut von Matthias und der Hand Rex des Nachbarn aufzuwischen. “Wo ist meine Hand denn nur geblieben” liess dieser sich jetzt mit schwacher Stimme vernehmen; er war , nachdem ihm Matthias die Hand Rex abgebissen hatte, erheblich schwächer geworden und lag jetzt auf dem Boden wie die Nachbarin vorher: Matthias schleckte ihn von oben bis unten ganz ab. “Sie ist doch da”, säuselte diese, offenbar zu neuem und besserem Leben erblüht, nahm ihn liebevoll in den Arm und wiegte ihn sanft hin- und her, um an die Tättowierung auf ihrem Oberarm zu erinnern und dann mit dem Zeigefinger auf Matthias zu zeigen. Der schleckte und schleckte. “Da! Da! Liegt sie doch, da liegt Rex, deine Hand und bewegt sich, schleckt dir die Zunge ab, wird glatt und seidig!” Riefen wir dann alle auf einmal und begannen die Hand Rex des Nachbarn zu studieren: sie bewegte sich selbstständig vor Matthias hin und her.
Es war Rex gewesen, er hatte Matthias eins übergewischt und war dann schwanzwedelnd hin und her über den Fussboden gefahren, gerade so, als wolle er ihn auf-putzen. Putz? Sitz! Rief der Nachbar, nahm seine Hand wieder in die Hand und schnallte sie sich ans Handgelenk. “So eine Hand habe ich noch nie gesehen, tanzt, springt, bellt und schleckt und tut doch auch ihren gewohnten Dienst. Unglaublich!” Dann sagte der Nachbar: “Hab ich doch gesagt: so einen Hund muss man beidhändig bedienen, ihn straff am rechten Oberkörper ansetzen, dann spannen und einfach loslassen.” Daraufhin sprang die Hand Rex mitten in den Satz des Nachbarn, während der zu ihr, der Hand Rex sagte:“Du kannst nicht auf den Knopf mit der Aufschrift “5” drücken, wenn du in den ersten Stock, nach unten, fahren sollst.” Alle nickten, nur die Hand tat immer noch nicht, was sie sollte. Stattdessen sprang sie Matthias an den Hals, umklammerte ihn am Hand- und Halsgelenk und würgte ihn. Währenddessen floss dem Nachbarn wieder das Blut aus dem Handgelenk heraus, seine Hand Rex machte sich jetzt an den Aufzugknöpfen zu schaffen. Die Nachbarin insistierte, es müsse ein Arzt gerufen werden, denn wer weiss, wo die Hand Rex, bevor all das hier geschehen war, noch überall herumgelungert hätte – sie wolle das natürlich nicht wirklich wissen, es ginge sie ja auch nichts an, eigentlich, aber der Hund Matthias, den ginge es etwas an, schliesslich sei es wichtig zu wissen, was und wen er denn den ganzen Tag so zusammenbeisse.
“Matthias! Wo ist nur der Hund geblieben?” Die hundehaltende Nachbarin rief jetzt mit solch erstaunlicher Ausdrucks- und Nachdruckskraft, dass der Aufzug sofort und abrupt stehenblieb, sich die Türen endlich öffneten und alle hinaus, ins Freie traten, während der Nachbar versuchte, das Vorgefallene zu erklären und den davonströmenden Aufzugbesuchern nachrief: “Was ist geschehen? Meine Hand machte einen Satz, um Matthias zu bezwingen, leider fiel das Ergebnis so aus, dass sich meine Hand samt seiner Buchstaben selbstständig machte und sich das Maul von Matthias derart verbiss, sodass beide nicht mehr voneinander loskamen. Die beteiligten Buchstaben schwirrten nur so herum, formierten sich zu einem grossen und gelben Nebel, der schliesslich sanft über dem kleinen Flusslauf jenseits des Aufzugs schwebte.” - “Dann müssen beide dort sein”, folgerte die Nachbarin folgerichtig und stiftete Matthias sowie alle anderen davonströmenden Aufzugbesucher an, ihren Weg nach dorthin einzuschlagen, wenn es sein müsse, sogar mit Pferdepeitschen.” “Nein”, rief jetzt Matthias, der Hund, lachte und wickelte sich Rex, die Hand des Nachbarn, verkehrt um den Kopf herum, sodass er wie ein Inder aussah und ging aus dem Gebäude hinaus, geradeso, als sei überhaupt nichts geschehen.
Moral: Keine Hand ist frei. Immer sie steht sie unter Stress und Drill. Deshalb wird sie jeden Tag trainiert (damit sie den Mut nicht verliert). Vom Kugelschreiber, der sie führt, von den Wörtern, die sie mithilfe des Kugelschreibers ausführt und ausfährt, in Kreisen, Parkanlagen und geraden und schrägen Pinselstrichen fährt sie ganze Welten zu Buchstaben und Aussagen aus. Als sei sie für nichts anderes gemacht worden. Die Hand ist auch zum Schreiben da, zum Umklammern des Kugelschreibers, ja, sogar zum Zwiebelschälen. Immer will sie sich bewegen, stillsitzen liegt ihr nicht, sie braucht Bewegung, sie braucht viel Bewegung. Immer will sie etwas tun. Entweder sie tobt im Garten herum und wühlt die Erde auf oder sie reisst andere Hände an sich. Nie ist sie zufrieden. Diese Hand, die Rex heisst und ein König ist, beisst, schnappt zu, schliesst sich wie Stahl, gibt nicht nach, lässt nicht locker. Verbissen hält sie den Kugelschreiber fest und schreibt und schreibt. Warum schreibt sie, warum beisst sie? Sie ist verrückt geworden, die Hand Rex ist verrückt geworden, greift nach allem, was sich bewegt: die Wörter. Überall fliegen sie herum, beissen sich durch die Luft wie ein Hund, schnappen nach allem, was es gibt, beissen sich an jeder Sache fest und haben sie für immer in der Hand. Heisst sie beispielsweise “Matthias”, denken wir natürlich an Matthias, mal grösser, mal kleiner, mal mehr Rex, mal weniger, aber immer denken und sehen wir dasselbe Bild, dann, wenn die Hand zuschnappt und einfach plötzlich Matthias heisst.
Gundi Feyrer
(Der Text stammt aus dem Buch DAS RAUSCHEN DER TAGE. Phantastische Geschichten und anderes Irren, Texte und Zeichnungen)
http://www.ritterbooks.com/index.php?id=23&tx_ttnews%5Btt_news%5D=414&tx_ttnews%5Bpointer%5D=&tx_ttnews%5BbackPid%5D=3&cHash=4d167a7705
(Der Text stammt aus dem Buch DAS RAUSCHEN DER TAGE. Phantastische Geschichten und anderes Irren, Texte und Zeichnungen)
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Dienstag, 1. Juli 2014
Beschreibung meiner Braut
Welches Dasein! Ich kleidete mich in Sonnen, gürtete mir die Milchstraße um! Welche Kraft! Ich bin ein elektrisches Fluidum, durchsternt ätherisch. Frucht, Frucht auf allen meinen Himmelsbahnen. Schwingung, Sehnen, Erfüllen. Ich riesele von Licht, ich bin überall, immer, alles in allem ... Eines Nachts gegen eins – ich schlief im Umfange eines Planetensystems – höre ich in einem meiner Myriaden Ohren (meine Lokalisationsreflexe funktionieren exzellent) mich flehentlich genannt werden, in einem hinsterbenden Seufzer, den ich aber doch für eine Frechheit hielt: „Mein Seelenbräutigam!“ Wie wurde mir so übel! War ich, aus, Versehen, in irgendeiner meiner parties honteuses verlobt? Trotz dem scharfen Sicherheitsdienst meiner kosmisch trainierten Organe? – Und nochmals ertönte, hinsterbender noch, jener impertinente Anruf: „Mein Seelenbräutigam.“ Da riß mir die Geduld. Ich orientierte mich dynamisch – und siehe da, auf irgendeiner Winkelplanetenoberfläche stand eine in Abteilungen dividierte Kiste, „Haus“ genannt. In einer der Zellen dieses Hauses lag, auf einer dürren Pritsche, ein kleiner Gegenstand von länglicher Form, wenig mehr als ein Meter lang, aber nur etwa ein Drittelmeter breit und noch weniger dick. An dem einen Ende seiner Länge saß etwas Kugelähnliches, fast ganz mit einer strahlenartigen, fadenförmigen, blonden Masse bedeckt. Der Teil der Kugel, welcher frei von dieser Masse war, enthielt eine Art Loch von rötlicher Färbung. Inwendig in diesem Schlunde saß ein kleiner roter Körper, der sich gegen kleine elfenbeingelbe Stückchen bewegte und dabei die Töne hervorbrachte, welche mich in meiner Himmelstrunkenheit so sehr gestört hatten: „Mein Seelenbräutigam!“ erklang es wieder. Dabei zuckte der ganze längliche Apparat in der wunderlichsten Weise. Ja, seine Länge richtete sich halb aufwärts im rechten Winkel zur unteren, und ich bemerkte jetzt erst, daß die untere Länge in zwei zylinderartige Formen gespaltet war, und daß an der oberen Länge ähnliche, nur kleinere dünnere, Längskörper zum Vorschein kamen und seltsam ausgespannt wurden. – Dieses sonderbare Ding, obgleich es mich ja gar nicht wahrnehmen konnte, nannte mich also Bräutigam. Nicht genug aber damit! Über dem kleinen Schlunde saß ein bleicher Gipfel, Giebel oder Vorsprung, und über diesem rechts und links zwei kleine glatte, bläuliche, eigentümlich rollende Kugeloberflächenteile. Die Töne, mit denen es mich Bräutigam nannte, gingen in eine ganz andere, widerwärtig quietschige Lage über, und zugleich sickerte aus dem Giebel sowie aus der Umgebung jener bläulichen Globen eine tropfenartige helle Flüssigkeit. Der eine obere Längskörper drückte eine weiße, lappenartige Substanz dagegen und auf den Schlund, so daß nun die Töne ganz dumpf hervordrangen. Damit aber noch nicht genug, – das ganze corpus streckte sich senkrecht in die Höhe, bewegte sich auf den unteren getrennten Längskörpern von der Pritsche und fiel dann mit einem ziemlich lauten Geräusche um, etwa ein dutzend Mal „Seelenbräutigam“ ausstoßend. Dabei nahm ich die mir bis dahin verborgene Seite des Blockes wahr, nämlich diejenige, worauf er gelegen hatte; sie unterschied sich, wie es schien, wenig von der entgegengesetzten. Es fiel mir nur auf, daß zwei buckelartige Erhöhungen auf der einen Seite oben, auf der entgegengesetzten dagegen unten angebracht waren. Die Seitenflächen, einander ähnlich, waren viel schmäler. Ich behorchte und auskultierte nun diesen Körper und fand ihn von einem kurztaktigen Rhythmus erschüttert. Wie aber käme eine Uhr dazu, statt die Stunde zu schlagen, mich Bräutigam zu rufen?! Echtes, eigentliches Leben, das wußte ich, hatte niemand als ich allein. Es war also offenbar einer meiner magischen Reflexe und Echos, wodurch ich hier gleichsam Schabernack mit mir selber trieb. Diese Art treffe ich mitunter auf Planetenoberflächen; fühle mich unangenehm, ungezieferhaft davon berührt. Eine Sekunde später erblickte ich aber einen sehr ähnlichen Körper, dicht vor der „Hauskiste“. Dieser Körper unterschied sich von dem anderen besonders dadurch, daß er auch über und unter der schlundartigen Öffnung und zu deren Seiten mit jener faden- oder strahlenförmigen Masse bewachsen war. Diesem Körper spürte ich einen magnetischen Zug zu jenem ersteren sehr deutlich an. Es war mir ein erwünschter Wink, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Ich lenkte mit meiner gesammelten inneren Kraft jenen „Seelenbräutigam“ tönenden Körper zum Sturz aus der Hauskiste, um ihn mit jenem magnetischen Körper zu vereinigen. Tatsächlich fiel der Körper sehr geschickt mitten auf den anderen hinab. Beide Körper gerieten dabei aus der senkrechten mehr in die horizontale Lage, worin sie nur noch ein einziger zu sein und innigst aneinander zu haften schienen. Die verdammten Seelenbräutigamsgeräusche hörten sofort auf, wurden aber durch mir viel sympathischere, mehr schmatzige und zietschende ersetzt. Ich will mir dieses Mittel merken, falls noch einmal sich ein länglicher Körper für meine, der Seele, Braut halten sollte. Überhaupt Körper! Sie stören mich sonst nicht, aber wenn sie nicht ehrlich Körper, sondern lebendig, wohl gar liebevoll tun wollen, sind sie mir, ich kann es nicht zu Ende sagen, wie schauerlich, ekelhaft, tödlich zuwider. Glücklicherweise vermag ich sie, wie im besagten Falle, durchaus wieder zu mechanisieren. Denn ich bin das elektrische Fluidum, durchsternt ätherisch: Frucht, Frucht auf allen meinen Himmelsbahnen. Ich riesele von Licht. Ich allein, ich allein bin die Seele, und die Körper tönen mich nur wider und sind auch dann nur Körper, wenn aus ihrem lächerlichen Schlunde Seelenlaute zu dringen scheinen.
(Mynona)
Der Sturm 9, Nr. 8 (15. Nov. 1918), 110; Ndr. in: Grotesken I, waitawhile 2008, 404 ff.
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