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Donnerstag, 26. Juni 2014

Aërosophie



Des Morgens hat man schöne kalte Luft, ich ging aus. Am Dönhoffsplatz traf ich den Marsbewohner Myno Deusp, er hielt Vortrag vor ein paar Leuten, die Droschkenkutscher zu sein schienen; auch einige leichte Mädchen standen dabei und stenographierten eifrig. Aber kaum war das letzte Wort verklungen, da stellte ich mich ihm vor und bat ihn um einige Erläuterungen. „Sind Sie auch Droschkenkutscher?“ fragte er angestrengt. Ich sagte: „Logischer.“ Diese Antwort schien ihn mächtig zu rühren. „Sie haben unmenschlicher Weise nicht nein gesagt, und deswegen sollen Sie mich zu ,fassen’ kriegen. Ich will Ihnen den ganzen Zauber beibringen – aber nicht hier. Folgen Sie mir!“ Damit ergriff er mich bei der Hand, ich fühlte mein Eigengewicht, als ob mein Schwerpunkt sich verschoben hätte, wohltuend alteriert; wir erhoben uns in den Luftraum, standen einige hundert Meter über dem Kreuzberg still und leicht in der Luft, und Myno sprach: „Also, damit Sie den Vortrag von vorhin nachträglich besser verstehen, – das Zeichen ∞ bedeutet doch ,unendlich’? Na! Ich meine man bloß: man soll im ∞ so leben, wie man mit ∞ zählt! Nämlich nicht vom Anfang, den es nicht gibt, bis zum Ende, das es auch nicht gibt; sondern vom Nichts, von der Null als wie von der reinen Mitte aus, nach Minus und Plus des ∞ hin. Achten Sie nun wohl auf die Torheit der menschlichen Vernunft, daß sie das Nichts des Unterschieds im ∞ als Tod verstehe! Also, wenn die Weltkraft unerschöpflich wäre, so würde der Mensch sie doch ,fertig’ kriegen, ,konstant’ kriegen – ohne die leiseste Ahnung vom Leben dieses Scheintodes, dieser Lebensstarre, dieser Lebens-Null!!!! (Myno spie auf den Berg.) Verstehen Sie! Der Mensch begreift das ∞ niemals, weil er glaubt, es sei ohne Grenze; und die Grenze nicht, weil er wähnt, sie sei das ,Endliche’ im ∞ !!!! Daraus muß ein hübscher Blödsinn werden. Kraft, sagt er, nimmt nicht ab noch zu, daher ist sie nie gleich ∞. Himmel! Deswegen nur, wegen dieser elendigen logischen und sinnlichen Versündigung an seinem ∞ bleibt der Mensch der Mensch. Wir Martianer kennen eine sehr gefährliche Krankheit, nämlich das Sterben vor Lachen über den Menschen; über seine possierlichen Allüren im Umgange mit seinem persönlichen, leibeigenen ∞. Besonders der Tragik dieses Tieres widersteht so leicht kein Zwerchfell.
Hamlet ist bei uns eine Lachsalven erregende Parodie, ohne daß wir eine Silbe zu ändern brauchten. Ein Wort von Schiller bringt uns um. Unser witzigster Autor ist Schopenhauer aus Danzig. Das menschliche Lachen ist uns eher antipathisch; amüsanter ist der qualvolle Mensch, ich verrate Ihnen, daß die vereinigten Bewohner sämtlicher Planeten des Sonnensystems sich die Erde als unfreiwillige Lustspielbühne eingerichtet haben.“ Er gab mir einen Stoß in die Seite, daß ich in der Luft auf dem Kopfe stand; er drehte mich liebreich wieder um und wollte Abschied nehmen. „Erlauben Sie, Herr Deusp,“ sagte ich, „bevor Sie verreisen, möchte ich meine Erdschwere wiederhaben; und übrigens, nehmen Sie Rücksicht auf meine Fassungskraft! Erklären Sie, statt zu lachen!“
Myno winkte, plötzlich hatten wir mitten in den Lüften zwei Klubsessel unter uns; es war herrlich!
„Das ∞“, dozierte Myno, „scheint ne kolossale Sache, ist aber für Personen, die mit umzugehen wissen, man bloß ein Kinderspiel; ein Widerspiel. Es ist nämlich, wo und wie Sie es nur finden, ein Unterschied, ein Selbstunterschied, und sein Selbst ist Person, – denn ,Ich’ ist nur Pseudonym der ewig anonymen Person. Einen Selbstunterschied nennt man Polarität: Das ∞ ist eben nicht einfältig schlicht, sondern polargeschlechtlich. Sie werden begreifen, welchen Fehler man macht, wenn man, es zu erwägen, weder eine Wage benutzt noch den Wägenden in Betracht zieht! Und nur eine grobe Krämerwage würde, auf jeder ihrer beiden Schalen mit ∞ belastet, mit ihrer Zunge tödlich einstehen und uns vom Gleichgewicht eines ∞ eine leblose Vorstellung geben. Bei ,Konstanz’, bei ,Erhaltung’ hat der Mensch kein Arg daraus, daß doch hier ein ∞ gegen ein ∞ sich aufhebe. Diese Aufhebung ist doch ein kraftstrotzendes Drittes! Diese haarfeine Messerschneide, über die der Unterschied einer ganzen Welt balanciert, erachtet der Mensch als nichts! Er sieht den Unterschied dieses Nichts nicht! Sein Aberglaube an die Einartigkeit des ∞ verdirbt ihm das Auge für dessen wahre Übereinstimmung mit sich selbst, die aus dessen echtem Selbstwiderstreit hervorgeht, – und die sogenannte Erhaltung aller Kraft ist ja ein totgeborenes Kind, so lange man diesen Ehestand der Kraft (des ∞) verkennt! Mit einem Schlußwort: die Kraft wehrt sich nicht etwa gegen das ∞, also keineswegs gegen unermeßliche Verluste und Gewinne: sondern allein gegen das Fehlen einer sie ,erhaltenden’, das bedeutet aber: kompensierenden, balancierenden, also keineswegs toten, sondern blühenden Mitte.“
„Mitte! Mitte? ’s klingt so wunderlich“, meinte ich. Myno ließ die Klubsessel verschwinden; wir standen kerzengrade in der Luft, es briselte angenehm, der Himmel überzog sich mit leichten Wolken. Myno knöpfte sich den flatternden schwarzen Rock zu und sagte so laut, daß ich fürchtete man höre es bis unten: „Die echt lebendige Mitte des ∞ ist eben Person, ist eben persönlich. Da hat zum Beispiel auch die Zahlunendlichkeit in ihrer Mitte eine Lücke, ein Loch, das der Arithmetiker persönlich ausfüllen sollte; statt dessen zählt er nichts und wieder nichts = 0! – Oha! Der Mensch ist ein wahres Labsal für einen alten Martianer!“ Er winkte eine Wolke heran und verschwand in ihr, es guckte nur noch ein schwarzes Zipfelchen seines Rockes hervor. Ich sank wie im Lift glimpflich auf den Kreuzberg; die Kutscher sahen so vergnügt aus.

(Mynona)


Der Sturm 2, Nr. 89 (Dez. 1911), 709; Ndr. in: Grotesken I, waitawhile 2008, 159 ff.

Dienstag, 10. Juni 2014

Onkel Albert übersterbensgroß


Fanny, meine damalige Geliebte (dummer Ausdruck), ließ ihre vollschlanken Beine trillern: „Warum hast du das Auto verkauft? Können wir jetzt wenigstens ausreiten?“ – „Die Pferde mußte ich auch verkaufen“, – ich schlang diesen Seufzer wie ein Lasso um ihre zappelnden Füße. „Jetzt, was soll das?“ stoppte sie, „dein Erbonkel Albert ist doch schon siebenundneunzig Jahre. Kannst du keine Hypothek auf ihn ziehen?“ Sie trillerte weiter. Sie unterschätzte Onkel Alberts Vitalität, die um so erstaunlicher war, als er sich nie auch nur die allergeringste Mühe darum gegeben hatte. Während die ganze Welt, selbst beträchtlich unjunge Leute durch Mensen-Dickunddünn gingen, sich auf Mord trainierten, hatte Onkel Albert sich von Kindes-O-Beinen an wie absichtlich verhutzeln lassen; er hatte sich so mickerig gemacht, daß es dem Tod nicht lohnte. Jedenfalls war ich sein einziger Erbe, als solcher nicht schlecht gestellt. Ich wenigstens hatte mich nach jeder Richtung trainieren können. Aber Fanny und ihre Vorgängerinnen taten immer so, als ob ich den Onkel Albert längst beerbt hätte; und schließlich war mir der dahintergekommen. Er drohte mit Enterbung, wenn ich mich nicht einschränkte. So daß ich grade überlegte, ob ich Fanny nicht abschaffen ...

„Ein Telegramm!“ Fanny nahm es dem Diener ab, riß es auf: „Hurra!“ schrie sie und kitzelte den Kronleuchter mit der Fußspitze, „Onkel Albert ex! Wir erben!“ Onkel Albert berief mich tatsächlich an sein Sterbebett. Eine Stunde später lag ich im Abteil. Fanny, die durchaus mitwollte, hatte ich fast unsanft abgewehrt. – Schon am selben Abend saß ich an Onkel Alberts Lager. War diese Ruine von Mensch jemals lebendig gewesen? Hier konnte der Tod nichts mehr demaskieren. Aber das Skelett murmelte, murmelte. Zuerst hörte ich gar nicht drauf hin. Denn gut, er würde rasch tot sein. Kriegte ich dann seine Millionen? Plötzlich wurde ich hellhörig; er röchelte ’was vom Testament: „Sonst enterbe ich dich,“ sagte er, „der Notar kommt jeden Augenblick. Mit der Behörde ist es schon vereinbart ...“ – „Wiederhol’ mir’s nochmals, lieber Onkel, ich fasse noch nicht, daß du –“ Ich mimte Schluchzen. „Ei Schock,“ schnarchte Onkel Albert, „an deiner Stelle würde ich mich freuen. Wenn du mich doch so sehr liebst, kann es dir nur desto angenehmer sein, mich zu konservieren.“ Himmel, was wollte er? „Wiederhol’ mir’s, lieber Onkel, was meinst du?“ „Junge,“ schrie er plötzlich auf, um die Stimme sogleich tief sinken zu lassen, „mein Leben versäumt ... beinah’ ein Jahrhundert! Ich Mißgeburt! In Häßlichkeit leben und sterben ist das Allerschlimmste. Seele, pfui! Seele ist nur Ausrede der Häßlichen vor der Schönheit. Meine Rückgratsverkrümmung, meine O-Beine! Nie getanzt, geschwommen, geflogen, geturnt. Nie gelebt. Für meinen Kadaver deshalb nie ’was getan. Kaum gebadet, kaum Odol genommen – auf Ehre! – ... Nie gegirlt wie du! Ohne diesen Neid auf dich, auf alle diese raffiniert kosmetischen, mondänen, durchtrainierten Leiber wäre ich mindestens hundertfünfzig Jahre geworden ...“ (hier brach mir der Angstschweiß hörbar aus) ... „aber posthum will ich desto schöner werden. Unter der Bedingung, daß du meinen Leichnam genau nach Art der modernsten Lebenstechnik immerzu pflegst, wirst du mein“ (hier hüstelte das alte Scheusal lächernd) ... „mein Leib-Erbe. Du kriegst meine Millionen nur, wenn du mich nicht nur konservierst, sondern meinen Leichnam vom Orthopäden, Friseur, Zahnarzt, Präparator, Marionettenfabrikanten usw. usw. scheinlebendig in allermodernster Art machen läßt. Meine Spezialwünsche sind schöne Nase, schöne grade Beine, blonde Perücke, feinste, der jedesmaligen Gelegenheit entsprechende Garderobe. Du nimmst mich selbstverständlich überall hin mit, aufs Rennen, in die Theaterloge, auf Reisen ... Und dein Mädel wird wenigstens zum Schein auch meines sein ...“ Er röchelte. Der Notar erschien, bevor ich zur Besinnung kam. Er hielt ein demgemäßes Testament zur Unterschrift bereit. Onkel Alberts Lebenslicht flackerte letztlich hell auf. Der Notar hielt ihm die Hand, die ordentlich mit Schwung unterschrieb. Onkel Albert fiel entseelt (leider nicht entleibt) ins Kissen. Der Notar sagte: „Nun? Natürlich willigen Sie ein! Die Überwachung liegt mir ob. Wir lassen den Konservator kommen.“ Zunächst wurde Onkel Albert gut ausgestopft, aber so, daß er geschmeidig blieb. Dann bekam er das feinste Gebiß, eine wundersam blonde Frisur, Glasaugen von feurigstem Blau zum Rollen, Auf- und Zuklappen. Er ähnelte Poincaré. Man bog ihn zur Normalfigur, transplantierte ihm streng kosmetisch behandelte Haut, eine blendende Nase. Seine Garderobe war comme il faut. – – – Das Leben mit dieser Marionette machte Fanny tollen Spaß. Sie tanzte, schwamm, ritt mit ihr. Ja, ich will es gestehen. Es wurde der seltsamste Fall Nekrophilie. Oder bin ich nur eifersüchtig? Sie bevorzugte diese Totenpuppe. Und eines schönen Tages mußte man steckbriefen. Fanny war mit dem Alten auf und davon. Man ertappte beide auf Norderney, als sie grade im Begriff war, die etwas fahlen Lippen Onkel Alberts zu schminken. Die braven Norderneyer hatten an Onkel Alberts Überlebendigkeit nie gezweifelt. Mir aber wurde zumut, als ob die Puppe über mich grinste. Ich zog meinen Browning und schoß ihr das linke Glasauge weg. Der Notar zwang mich später, es zu ersetzen. Fanny begnügte sich mit einer Onkel-Attrappe. Übrigens entnehme ich soeben dem Journal des Onkels, daß er ursprünglich aus Rache an seiner künftigen Leichenwäscherin niemals gebadet hat; sie sollte sich so recht mit ihm abrackern. Wären die Millionen nicht, würde ich herzlich gern mit ihr tauschen ...

Salomon Friedlaender (1928)



Mittwoch, 4. Juni 2014

fliegt schnell laut summend

The 1960 in Dresden born art student Dagmar Dimitroff, was drummer of the legendary 1st LP "Die Tödliche Doris" (1982). Her voice interprets the unforgetable 'fliegt schnell laut summend' and she performed at the "Festival of Ingenious Dilletants" in Westberlin 1981 together with Nikolaus Utermöhlen (1958 - 1996) and Wolfgang Müller with a wig-hair-bikini. 

KN präsentiert:

Fliegt schnell laut summend
Hommage an Dagmar Dimitroff
(1960 – 1990)
 
Eröffnung: 6 Juni 2014, 18 Uhr
              
Book Release/
Die Tödliche Doris - Interviews (1981 - 1982) 
Hybriden Verlag, mimas atlas # 16, Book - Wolfgang Müller
Fotografie - Anno Dittmer
Video - Adi Schroeder
Kuratiert von Jana Nowack

Die Galerie KN, liegt genau zwischen Risiko, Anderes Ufer, Penny Lane Frisörladen und dem Merve-Verlag – zentralen Spielstätten von Wolfgang Müllers Kultreader „Subkultur Westberlin 1979 – 1989 Freizeit“. Im Mai 2014 wird das Buch in 4. Auflage erscheinen.
 
Der Anlass der Ausstellung fliegt schnell laut summend ist die Veröffentlichung von mimas atlas # 16 „Die Tödliche Doris – Interviews“. Die im Hybriden-Verlag erscheinende Audio-Edition (www.hybriden-verlag.de )
enthält seltene, teils unveröffentlichte Tondokumente, Texte und Fotos von und mit Dagmar Dimitroff, Nikolaus Utermöhlen, Wolfgang und Max Müller aus dem Jahr 1981 - 1982.
 
Die Post-Punkband Die Tödliche Doris wurde 1980 von dem Kunststudent Wolfgang Müller (*1957) und seinem Kommilitonen Nikolaus Utermöhlen (1958 – 1996) in Westberlin gegründet. Einige Monate später schloss sich die Kunststudentin Chris Dreier dem Projekt als Drummerin und Bassistin an. Bereits nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt 1981 im besetzten Kulturzentrum Kuckuck – das Repertoire der Tödlichen Doris umfasste da gerade mal vier Songs – bot Produzent Alfred Hilsberg den Performern einen Schallplattenvertrag über drei Alben auf seinem Zickzack-Label an.
 
Ein Jahr nach der Gründung verließ Chris Dreier die Band, tourte mit einem Zirkus und arbeitete als Hummerfischerin in Schottland. Heute lebt und arbeitet die Künstlerin in Berlin (http://www.chrisdreier.de). Die Kunststudentin Dagmar Dimitroff, welche nach 10 Monaten Haft in der DDR nach Westberlin exilierte und ursprünglich aus Dresden stammte wurde nun Schlagzeugerin der Tödlichen Doris. 
 
Im gleichen Jahr, 1981 erstellte die Modeschöpferin und Schauspielerin Tabea Blumenschein für das Tödliche-Doris-Audiotape „Tabea und Doris dürfen doch wohl noch Apache tanzen“ Songtexte und Zeichnungen. Sie sang und designte Kostüme für Walther Bockmeyer, Ulrike Ottinger und für Auftritte der Tödlichen Doris. Unter den von Tabea Blumenscheins entworfenen und geschneiderten Kostümen befand sich auch das kurze, schwarze-weiße Batikkleid, welches kürzlich neben dem legendären Knochen-Bikinikostüm von Nikolaus Utermöhlen in der Ausstellung „Danke - Die Tödliche Doris“ zu sehen war.
 
Das Leben des Sid Vicious
 
Dagmar Dimitroffs Sohn, der 2jährige Oscar spielte die Hauptrolle in einer der bekanntesten Super-8-Filme der Tödlichen Doris „Das Leben des Sid Vicious“ (1981). Der Film wurde realisiert von Nikolaus Utermöhlen und Wolfgang Müller. Er entstand nach einer Idee von Max Müller, der heute Kopf der Band MUTTER ist (http://muttermusik.de)
 
Im Jahr 1982 erschien die zweite Vinylproduktion der Tödlichen Doris: Auf dem längst vergriffenen Album mit dem Nicht-Titel  „                  “, stammen die Schlagzeugtracks von Dagmar Dimitroff. Zudem röchelt sie Urlaute in „Stümmel mir die Sprache“ und sang das Lied „fliegt schnell laut summend“, welches Nikolaus Utermöhlen und Wolfgang Müller für ihre Stimme getextet und komponiert hatten. Poptheoretiker Diedrich Diederichsen empfahl in der Musikzeitschrift Sounds das heute als Rarität hochgehandelte Album (als MP3 hier kostenlos zum Download: http://home.arcor.de/rattenjule/dorismp3.htm#pantoffeltieramoebe) in höchsten Tönen, nannte es unvergleichlich – machte zugleich darauf aufmerksam, dass der Musikhörer von der Tödlichen Doris wohl kaum musikalische Kompromisse erwarten dürfe.
 
MERVE-Verlag
 
Nach der Teilnahme am Festival der Genialen Dilletanten, verfasste Dagmar Dimitroff für das von Wolfgang Müller herausgegebene MERVE-Manifest „Geniale Dilletanten" das philosophische Essay „Energiebeutel und Zeitblase“. Ein Jahr darauf wurde es von Müller/Utermöhlen als gleichnamiger Super-8-Film verfilmt.
 
Als Die Tödliche Doris 1981 eine Einladung zur documenta 7 und ins Musée d’Art Moderne nach Paris erhielt, schloss sich Dagmar Dimitroff einem esoterischen Guru aus Ungarn an, der in Westberlin die Subkulturszene unsicher machte. Ihre Kunstproduktion stellte Dagmar Dimitroff in der Folge mehr und mehr ein. Ob von ihren Bildern und Objekten heute noch etwas existiert, ist unsicher. (Die Galerie KN würde sich über diesbezügliche Meldungen von Sammlern freuen: E-mail: kn.info.art@gmail.com).
 
In der Ausstellung fliegt schnell laut summend werden teils unveröffentlichte Fotografien von Anno Dittmer und unbekannte Videos mit Dagmar Dimitroff gezeigt. Darunter das vom ZKM restaurierte, bisher öffentlich nie gezeigte schwarz-weiß Video von Adi Schroeder vom Auftritt der Tödlichen Doris auf dem Festival der Genialen Dilletanten im Tempodrom. Auf diesem Video lässt sich dann auch der legendäre Perückenhaarbikini bewundern, mit dem Dagmar Dimitroff seinerzeit auftrat und der sich heute in der Kunstsammlung von Anton Henning befindet. Zudem wird eine Aufnahme der „Wassermusik“, die einzige gemeinsame Performance von den Einstürzenden Neubauten und der Tödlichen Doris im Risiko 1982 zu sehen sein. Hartmut Andryczuk vom Hybriden-Verlag wird anwesend sein und eine Einführung geben.
 
Im Jahr 1990 kam Dagmar Dimitroff mit ihrer Schwester Verena und ihrem Sohn Oscar bei einem Autounfall ums Leben. Die Herausgabe von mimas atlas  # 16 – Die Tödliche Doris, Interviews im Hybriden-Verlag, ist für Wolfgang Müller, Gründungsmitglied der Tödlichen Doris auch seine persönliche Hommage an Dagmar Dimitroff. 
Die Ausstellung ist vom 7 Juni bis zum 11 Juli 2014, Mittwoch bis Samstag von 14 – 18 Uhr zu sehen.

mimas atlas # 16
Auflage: 100, Preis: 50.- Euro
Mit einer Originalzeichnung von Wolfgang Müller
Fotografien: Anno Dittmer 
www.hybriden-verlag.de

Mehr Marcus: Natürliche Magie


Der Fehler der Magie, der sie in Gegensatz zur anerkannten Wissenschaft brachte, lag darin, daß sie von vornherein, statt an bloß unbekannte, an unerkennbare (übernatürliche) Willenswirkungen dachte. Wir dürfen daher die Bezeichnung des „Magischen“, um dieses Wort zu Ehren zu bringen, auf verborgene, vielleicht aber praktisch verwertbare, natürliche Willenswirkungen anwenden. [...] Selbst der streng auf dem Boden der Gesetzmäßigkeit aller uns erkennbaren Erscheinungen stehende Kant nimmt solche Kräfte an in der kleinen Schrift: „Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein.“

Alle Materie, daher auch unser Leib und der ihm zugrundeliegende raumerfüllende Äther wird durch Kants Lehre zum intraorganischen Vorstellungsgebilde. [...] Nun gibt es wirklich eine, aber auch nur eine einzige uns erkennbare übersinnliche Kraft, und diese Kraft ist unser eigener Intellekt, und zwar der von Kant entdeckte apriorische Organismus der Vernunft. Er steht über der ganzen Natur, über Zeit und Raum. [...] Er ist übersinnlich (metaphysisch). Dieser Organismus, das Wesen, dem er angehört (das „Ich“) müßte somit jene verborgene Ursache sein, die vermöge der physischen Wirksamkeit der ursprünglichen organischen Vorstellungen unserm Körper im Mutterleibe seine Organisation verleihen würde. [...] Es fragt sich also zunächst, ob das Wesen, welchem der Organismus der Vernunft angehört, und das wir als unser „Ich“ denken, ebenso wie die Natur die bloße Wirkung eines Ding an sich, oder ob es selbst ein Ding an sich, ein absolut unabhängiges, ein mit selbsttätiger Wirkenskraft ausgestattetes Wesen sei. Die Antwort Kants lautet: Der Mensch als Vernunftwesen – also das „Ich“, das Subjekt der reinen Vernunft, hat im Gegensatz zur Natur, die eine bloße Erscheinung ist, wirklich den Charakter eines Ding an sich, eines überzeitlich und überräumlich existierenden Wesens.

Es ist keine Wundermagie, sondern eine mit dem Naturgesetz harmonierende.... Materialisten haben versucht, Begriff und Sprache als Produkte einer materiellen Entwicklung hinzustellen. Unsere Hypothese zeigt umgekehrt, daß Gehirn, Kehlkopf, Hände aus den ursprünglichen Vorstellungen des Noumenon („Ich“) hervorgehen .... hätte das Tier Vernunft, so würde ihm auch die Sprache nicht fehlen.


Marcus: Theorie einer natürlichen Magie. Gegründet auf Kants Weltlehre, München: Reinhardt 1924, § 1, 9 u. 23

(weitergeleitet von Dr. Detlef Thiel)

Sonntag, 1. Juni 2014

Mehr Marcus: Sex


Entstehung der Sympathie (Anziehungskraft) der Geschlechter (sexus): Hypothese: Männliches und weibliches Individuum sind ursprünglich auf gemeinsamen Mutterboden (aus ein und demselben Ei) entsprungen, mit ursprünglicher organischer Verbindung, die erst mit der Reife aufgehoben wurde. Infolgedessen eine Verwandtschaft der Nerven und damit ein lebhaftes Gefühl für die sexuellen Eigenschaften und Gefühle des anderen Teiles, die auf eine physische Vereinigung vermöge des Mitgefühls (Gefühl für die Wollust des anderen Teils) dringen. (Man fühlt die eigene Wollust in der antizipierten Wollust des anderen Geschlechtes). 

(Tagebuch, 7.1.1922)

1. Bei normaler physischer Konstitution, bei derjenigen, die Bedingung der Existenz des Lebens ist, hat die Sexualverbindung die Wirkung der Zeugung. [...]
4. Die Geschlechtslust ist ein Naturfaktor, welcher ohne den Willen der Personen als Trieb, ja gelegentlich wider ihn, diese Vereinigung verursacht, und zwar ohne den Willen der Zeugung. [...]
5. Nun greift der Sexual-Akt ganz gewaltig in die Zwecksphäre jeder der Personen ein, die den Sexual-Organismus ausmachen. Es liegt also das Problem vor: Wie ist nach dem Gesetze des Willens dieser Eingriff als Naturhandlung ethisch einzuschränken? [...]
7. Nun ist mein Organismus mir ethisch unantastbar zu eigen. Jeder der Handelnden macht sich also den fremden Organismus zu eigen und veräußert das Ganze zugleich an den anderen. Es liegt also nicht bloß eine Leihe der Sexual-Organe, sondern eine Übereignung der Totalität des Organismus vor; denn die Sexual-Organe lassen sich technisch ersetzen. Der ganze Reiz des fremden Organismus, ja sogar der psychische Reiz wirkt mit. [...]
9. Doch läßt sich sagen, daß die Leistung des Mannes der des Weibes nicht äquivalent ist. (Ist auch das doppelte Moral, meine lieben Frauenrechtler von der freien Liebe? Nein, es ist einfache Natur.). Also formuliert: Du sollst den Leib der Frau als Mittel zu deinem Zweck weder gebrauchen, noch gebrauchen lassen ohne Übereignung des Leibes des Partners. [...]
Sich demgegenüber auf die Polygamie oder Sexual-Verhältnisse anderer oder früherer Völker berufen, ist lächerlich. Denn darauf gegründet, kann man auch die Sklaverei, die Hexenprozesse und was alles sonst noch rechtfertigen. Sittliche Irrtümer, die der Geschichte angehören, widerlegen nicht die sittliche Wahrheit.


Ernst Marcus: Das Rätsel der Sittlichkeit und seine Lösung. Mit besonderer Berücksichtigung des Sexualproblems (sog. Revolution der Jugend), München: Reinhardt 1932 (posthum), 164 ff.

(weitergeleitet von Dr. Detlef Thiel)