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Montag, 26. Mai 2014
Ulrich Woelk, Wellen
ohne Anfang und Ende sagte ich so weit sagte ich zu wissen daß es keine Grenze gibt dort draußen nichts woran man sich festhalten kann nur Blau und wieder Blau und Wellen und wieder Wellen und daß es einfach immer weiter geht sagte ich zu Lisa diese ständige Bewegung wir leben auf dem Boden eines Gefäßes das vom Universum geschüttelt wird das fasziniert mich erfüllt mich mit Ehrfurcht und manchmal sogar religiöser Zuversicht diese Wellen diese endlose Oberfläche ein Spiegel des Ganzen von dem wir ein Teil sind sagte ich damals zu Lisa als ich hier saß an derselben Stelle soweit hier eine Stelle nach zwanzig Jahren noch dieselbe sein kann wie ehedem und ich frage mich was sie jetzt wohl macht manchmal frage ich mich das wann haben wir uns aus den Augen verloren ich kann es nicht sagen wenn ich zurückschaue sehe ich keine Grenzen keine Markierungspunkte nur Zeit und je mehr ich zurückdenke um so rein zeithafter wird diese Zeit aber ich weiß noch daß wir Lisa und ich irgendwann hier saßen und ich über das Meer geredet habe die Weite und daß ich immer wieder herkommen muß ein Seelenritual sagte ich und sie sah hinaus und fands auch schön aber vielleicht doch nicht ganz so bildhaft religiös wie ich oh ja sagte sie ich glaube ich weiß was du meinst keinen Halt keine Grenzen keine Regeln nur Freiheit ja Freiheit war ein Wort daß wir damals so gut verstanden wie kein anderes ein Wort voller Versprechungen ein Abenteuerwort ein Liebeswort ein Duundichwort erstaunlich wie wenige Worte unseren Sehnsüchten damals genügten ich redete noch lange über das Meer und die Weite und die Grenzenlosigkeit und die Wellen und all das die Farbe nicht zu vergessen die Farbe deiner Augen sagte ich was ungefähr stimmte an diesem Tag an einem andern wäre es anders gewesen und eigentlich kann ich mich an die Farbe von Lisas Augen nur noch erinnern weil es so war weil es die Farbe des Meeres war die man nicht vergißt denke ich zwei Farben die einander sehr gleich waren und ich habe geredet bis ich irgendwann nicht mehr geredet habe und wir ineinandergeflossen sind und ich dachte dabei was schaffen all diese Wellen heran was bringen sie mit sich Wasser dachte ich Wasser und Melancholie aber ich wußte ja daß es eigentlich nicht so war daß es eine Illusion war diese Bewegung dieses Strömen aufs Land und die weichen Dünen eine Illusion die durch Nähe und Berührung zustande kommt denn weit draußen da wo die Wellen nur Wellen sind sind sie nur ein Auf und Ab ein ewiges Treten auf der Stelle jede Welle eine Bewegung in sich selbst das wußte ich damals und ich weiß es heute weiß es jetzt da ich hier sitze und mich erinnere so eigenartig blaß an Lisa wie lange waren wir zusammen es mögen ein paar Monate gewesen sein und jetzt sind diese Monate ein Moment am Horizont der Erinnerung ein Punkt den es noch nicht einmal gibt der eine Illusion ist wie der Horizont selbst eine perspektivische Illusion ist die sich auflösten würde wenn man sich verlassen und über sich selbst erheben könnte doch wozu sagte ich damals zu Lisa weil ich mich wohl fühlte in mir selbst als wir sinnlose Figuren in den Sand malten und mit unseren Körpern wieder fortwischten wir lachten und lauschten wie unsere Stimmen im Wind verklangen die Maßeinheit unseres Glücks waren Sekunden das denke ich während ich hier sitze und an Lisa denke zum ersten Mal wieder seit so langem und das Universum zupft an der Saite des Wassers auf das ich hinaussehe und dessen Farbe vielleicht die Farbe von damals ist glaube ich mich zu erinnern vielleicht dieses bestimmte Blau an das ich mich erinnere mehr als an Lisa selbst dieses Blau ohne Anfang und Ende und
(Text aus VOKABELKRIEGER I WASSER, Berlin – Rantum/Sylt 2006)
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