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Donnerstag, 8. November 2012
Das Geisterhaus von Mennighüffen
Eine sehr angenehme Zugfahrt mit dem IC über Stendhal, Wolfsburg, Hannover, Bückeburg nach Bad Oeynhausen. Der Zug ist beinahe leer, pro Abteil sitzen vielleicht 3 - 5 Reisende. In Bad Oeynhausen muss ich umsteigen. Im Bahnhof halten sich an einem Kiosk drei oder vier Männer auf, lesen Bild-Zeitung, essen Würste und trinken Bier. Ich mache ein Foto von dem Bahnhofsgebäude und sende es an I. W. mit der Notiz: "Schau mal, wo ich gerade bin." I. ist in Bad Oeynhausen aufgewachsen und antwortet einige Stunden später: "Was machst du denn da? Ich hoffe, du ziehst da nicht hin". Einige Minuten später geht mein Zug nach Löhne. Die Fahrt dauert nur vier Minuten. Ein Mann auf dem Nebensitz beginnt mich gleich heftig zu duzen und fragt mich, ob ich in Löhne wohnen würde und wo ich da hin wolle. Er selbst kommt auch aus Löhne. Sind die Einwohner hier alle so diskret? Am Bahnhof erwartet mich mein Freund R.M. mit grauem Mantel, Lesebrille und einer schwarzen Mütze. Ich habe ihn ein Jahr nicht gesehen und er hat sich kaum verändert. Seine Haare sind etwas grauer geworden. Er ist mit dem Fahrrad gekommen und wir gehen dann zu Fuß bis zum Haus seiner Eltern - vorbei an der Musikschule, der kurzen Fußgängerzone dieses Ortes und einem Fluss entlang. Obwohl die Landschaft eigentlich sehr schön ist, findet man keine Ruhe. Überall hört man Verkehrslärm und die Autobahn, die diese Landschaft durchschneidet, nimmt man an jedem Flusslauf, jeder Wiese und Hügelkette wahr. Wald gibt es hier kaum. Wir durchqueren ein kleines Waldstück und gehen dann weiter auf den Feldwegen und Landstraßen bis zum Löhner Ortsteil Mennighüffen, besuchen das Grab seiner Eltern. Großvater, Großmutter, Vater und Mutter liegen auf einer kleinen Fläche und auf dem Grabstein steht einfach nur der Nachname M. als kollektives Sterbeereignis. Kein Vorname, kein Geburts- oder Sterbedatum. Auf Schleichwegen geht es vom Friedhof aus zu dem Haus seiner Eltern in der Werster Straße. Der Verkehr ist katastrophal und ich kann mir nicht vorstellen, hier dauerhaft zu wohnen. Das ganze Haus wirkt wie ein Museum mit seinen handgemachten Schränken und den vielen Pokalen und Medaillen vom Vogelzüchterverein, den holzverkleideten Decken, Tapeten aus den 1970er Jahren, den monströsen Kleiderschränken, Gardinen und Wohnzimmergarnituren. Das Wohnzimmer hat keine gute Ausstrahlung. Es wirkt wie ein Sarg, in dem man weich sitzen kann. Vielleicht ist das so, weil seine Fenster zu dieser Horrorstraße führen. Wir sitzen in der gemütlichen Küche an einem Tisch, den R. mit nach Berlin nehmen will - als einzige Erinnerung an das Haus seiner Eltern. Mitte des Monats muss er hier ausziehen und der neue Besitzer wird wohl all diesen Krempel übernehmen. Vielleicht sollte man in seinem ganzen Leben nicht so viele Dinge anhäufen. Das meiste von all diesen Sachen braucht man gar nicht und wird vermutlich ohnehin auf den Müll landen. Und es hat eine gewisse Traurigkeit, wenn die Pokale, die ein ganzes Leben lang als Anerkennung der Vogelzucht-Leidenschaft einfach fortgeworfen werden. R. fragt mich dauernd, ob ich etwas brauchen würde. Nein, ich brauche nchts. Obwohl es hier einige schöne Dinge in der Holzwerkstatt seines Vaters gibt, eine Truhe, antiquarische Schränke und ein sehr merkwürdiges Bild mit einer Ölmalerei auf Samt, die einen Hirsch zeigt.
Zeit, ein wenig Fahrrad zu fahren. Mit zwei Damenrädern fahren wir an der grauenhaften Werster Straße bis zum Edeka-Markt, kaufen dort einige Kleinigkeiten ein und fahren dann auf Feldwegen weiter. Die werden aber wieder von verkehrsreichen Straßen durchschnitten. Ich staune, wie weitläufig hier alles ist, eine völlig zersiedelte Gegend. Das Auge findet keine Ruhe in der Landschaft, die eigentlich sehr schön ist - in der Nähe der Porta Westfalica und des Wiehengebirges. Es ist heute ein diesiger, melancholischer Tag mit einer verblassenden Landschaft, deren Farben ausgewaschen sind. Und hinter, neben, vor jeder Hügelkette steht irgendeine Fabrik, ein Einkaufszentrum, eine Tankstelle. Wir radeln zu einem Restaurant an der Landstraße. Den Namen habe ich vergessen, aber es ist gut. Vorwiegend deutsche, gutbürgerliche Küche, Salatbüffet. Wir bestellen Wildschweingulasch im Restaurant, in dem wir die einzigen Gäste sind. Die Wirtin schlägt uns vor, in der Gaststube zu essen. Dort können wir auch rauchen und wechseln die Plätze. Eine Frau, die im Moment der einzige Gast zu sein scheint, fragt mich, was mein Beruf sei. ich antworte ihr "Psychiater." Aber ihre Neugier ist damit noch nicht zu Ende. An R. und mich richtet sie die Frage, ob wir verheiratet sind. Ich antworte ihr: "Nein, wir sind schwul und ungebunden." Ende der Befragung. "Na, dann noch einen schönen Abend." - "Danke gleichfalls." Das Wildschweingulasch ist gut und reichlich. Gegen 19 Uhr 30 fahren wir zurück - diesmal meiden wir die Werster Straße. Ich präge mir den Weg von hier bis zum Bahnhof Löhne ein. Morgen werde ich mir ein Rad ausleihen und gegen 8 Uhr 30 aufbrechen.
Im Geisterhaus schauen wir Fußball-Champios-League. Gruppenphase: Bayern München vs. OSC Lille. Ergebnis: 6:1, ein langweilges Spiel. Danach sehen wir noch ein wenig die Talkshow von Markus Lanz. R. fragt, worüber die eigentlich reden. Sie reden über nichts und das eigentlich ziemlich lange. Ausdauernd nichts sagen und nichts zu sagen haben wird vermutlich sehr gut bezahlt. Zwischendurch kommt R. mit einem Holzstock seines Großvaters in die Küche. Der Hirsch auf dem silberen Emblem hat eine platte Nase. R. putzt seine Lesebrille mit einem Brillenputztuch und meint anschliessend: "So platt ist die Nase des Hirsches doch nicht." Dann gehe ich im Schlafzimmer seiner Eltern in einem vollautomatischen Bett schlafen. Ich schlafe gut, obwohl das Fenster direkt neben der Landstraße ist.
Am Morgen mache ich noch einige Fotos vom Haus. Gegen 8 Uhr 30 fahre ich zum Bahnhof Löhne. Die Fahrt dauert etwa eine halbe Stunde. Ich sehe kaum jemanden, der mir entgegen kommt. Eine Frau mit zwei Hunden. Die Ohren des einen reichen bis zum Boden. Die Geschäftsstraße in Löhne ist wie ausgestorben, der Bahnhof traurig und verweist. Offenbar ist das noch immer ein großer Güterbahnhof. Der Tunnel, der zu den Gleisen führt, ist gewaltig. Eine nackte, graue Scheußlichkeit. Zurück nach Berlin geht es wie bei der Hinfahrt. Über Bad Oeynhausen und Hannover. Ab Hannover habe ich aber wieder den ICE gebucht. Und hier ist wieder alles wie sonst: Großraumwagen, dicht gedrängte Personenbeförderung mit der betonten Nicht-Kommunikation in der Smartphone-, Laptop- und Tablet-Legebatterie.
http://de.wikipedia.org/wiki/Mennighüffen
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