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Freitag, 22. April 2016

Ein ärgerlicher Vorfall


Personen:
Herr Hölderlin
Radioreporter
Regie
Spot

Reporter: Meine Damen und Herren, wir befinden uns im
21. Stockwerk des Freizeitzentrums "happy familiy" – und
zwar auf dem Balkon von Herrn Hölderlin, der, wir haben
es bereits in der Vorschau angekündigt, heute Selbstmord
begehen will und wird. Und zwar wird sich Herr Hölderlin
in die Tiefe stürzen, was seinen sicheren Tod bedeutet.
Ueber uns nur noch der Himmel und der Whirlpool
des Freizeitzentrums... und jetzt sind wir beide, Herr 
Hölderlin und ich ganz allein. 
Herr Hölderlin hat mir freundlicherweise ein letztes Interview gewährt...
(wird leiser)
Herr Hölderlin, wie ist es denn gekommen, dass Sie keinen
Ausweg mehr sehen und Ihrem Leben ein Ende setzen
wollen ?

Hölderlin: (Unsicher)
Ich bin mir eigentlich nicht mehr so sicher...

Reporter: Wie meinen Sie das ?...

Hölderlin: Naja.. . ich habe mir das alles noch einmal gründlich überlegt
und muss sagen, dass ich es nicht tun kann. 

Reporter: Was können Sie nicht tun, Herr Hölderlin ?...

Hölderlin: Na eben, mich umbringen. In die Tiefe stürzen. Aufprallen. 
Mausetot sein. 

Reporter: Sie haben also nicht die Absicht, sich umzubringen ?...

Hölderlin: Nein.

Reporter: Aber Herr Hölderlin - was ist passiert ?

Hölderlin: Ich glaube, das ist keine Lösung...

Reporter: Regie ! – Bitte einen Spot !

Spot: „Nervös ? Abgespannt ? Sie sehen keinen Sinn mehr ?
Dann nehmen Sie "Happy Pronto" ! Ein Dragée jede halbe
Stunde und die Sorgen verschwinden mit einem Schlag !
"Happy Pronto" – für den modernen Mann und die selbst-
bewusste Frau ! Weil wir es uns wert sind !“

Reporter: Wir sind wieder vor Ort und unterhalten uns mit Herrn
Hölderlin, der keinen Sinn mehr sieht ...

Hölderlin: Eben doch ! Ich sehe ihn wieder, den Sinn, meine ich.

Reporter: Aber Herr Hölderlin, machen Sie sich nichts vor. 
Sie sind praktisch ein toter Mann. 
Vor ein paar Sekunden hatten Sie doch mit dem Leben 
abgeschlossen !

Hölderlin: Mit mir ist eine Wandlung geschehen.

Reporter: (Etwas verärgert)
Soso, eine Wandlung. 
Was für eine Wandlung, bitteschön ?
Herr Hölderlin ! Wir sind live auf Sendung !
Jede Sekunde zählt  - vergessen Sie das nicht !

Hölderlin: Es tut mir leid ... aber ich kann es nicht tun. 

Reporter: Achja -  Sie können es nicht tun. 
Regie - - einen Spot !

(Im Hintergrund läuft wieder der gleiche Spot während sich der Reporter leise mit Herrn Hölderlin unterhält)

Denken Sie doch an Ihre Familie. Muss ich Sie auf unsere 
schriftliche Vereinbarung aufmerksam machen ? 
Sie haben im Beisein Ihres Anwaltes einen 
rechtsgültigen Vertrag unterschrieben, wonach der vereinbarte Betrag an Ihre Frau erst überwiesen wird, 
wenn Sie auf dem Pflaster liegen. 
Erfüllen Sie also bitte den Vertrag.
Wir haben nicht ewig Zeit. Ich kann Ihnen sagen, andere
Menschen, die in Ihrer Lage sind, würden sich die Finger
lecken bei einem derart lukrativen Angebot eines Senders, 
Herr Hölderlin !

Hölderlin: Jaja, ich weiss... aber ich kann nun mal nicht – 
überall die Leute da unten – was rufen die denn ?

Reporter: Dass Sie endlich springen sollen – was sonst !

Hölderlin: Mit meiner Frau hab ich mich wieder versöhnt. 
Sie hat mir verziehen, dass ich mit dem letzten Roman keinen Bestseller gelandet habe... 
Reporter: Herr Hölderlin, wenn eine Ehe nicht mehr funktioniert, dann
ist das endgültig. Die Probleme werden wieder auftauchen –
in den ersten Wochen gibt man sich wieder Mühe, hält
ein freundliches Lächeln für den Partner bereit, um ihn bei
Laune zu halten. Aber das ist nur Fassade. Das Leben ist
eine schöne Fassade – das sollten Sie eigentlich wissen, 
Sie bekommen die einmalige Chance, sich einem breiten erwartungsvollen Publikum vorzustellen. 
Die Leser werden Ihre Bücher kaufen wie verrückt – aber was machen Sie ? Im letzten Moment ziehen den Schwanz ein. 
Das hat doch keinen Stil !

Regie: Sollen wir rübergeben ? - - Wir haben einen Familienvater, 
der droht seine Familie... 

Reporter: Wartet noch einen Moment ... ich glaube, er ist bald
soweit...

Hölderlin: Ich habe eine Idee für ein Exposé...
Ein Wissenschaftsschriftsteller findet, nach vielen privaten
Tiefen und beruflichen Erniedrigungen, wieder zu sich selber, 
glaubt an die Zukunft, seine Frau kehrt zu ihm zurück ...

Reporter: Das reicht. Das Publikum will das nicht hören. 
Es will Action !
Wann begreifen Sie das endlich ?

Hölderlin: Bis zur nächsten Buchmesse wird das Buch fertig !

Reporter: Denken Sie eigentlich nur an sich selber ?
Sind Ihnen Ihre Mitmenschen völlig gleichgültig ?
Und ich - bin ich denn niemand ?!
Ich habe Frau und zwei Kinder. Internat, Ferien, das Haus, 
zwei Autos, eine Freundin... was meinen Sie, was das alles kostet ?!
Meinen Sie, es sei leicht für mich, über Mörder, Selbst-
mörder, Vergewaltiger und korrupte Politiker zu berichten ? 
Da braucht es ein dickes Fell !

Hölderlin: Jaja, das tut mir auch leid.

Reporter: Dann seien Sie ein Mann !
Uebrigens, Ihre Frau betrügt Sie mit dem Cheflektor...

 Hölderlin: Dann habe ich keine andere Wahl... 

(Er springt – ein Aufschrei geht durch die Menge)

Regie: Alles in Ordnung ?...

Reporter: Jaja. 
Eigentlich kein übler Kerl... privat, meine ich. 
Was ist mit dem Familienvater ?...

Regie: Zu spät.

Reporter: Na dann.
Einpacken !

(Fritz Sauter)

Freitag, 4. März 2016

Orgie mit mir selber


orgie mit mir selber
eine radioautobiografie nach aufsteigender linie

ich ritze die jahreszahlen meines 'lebenslaufs nach aufsteigender linie' (theodor gottlieb von hippel) in die rinde der parititur. durch simultaneität, superimpositionen, konglomerierung & kontraktion wird die sonst ausufernde autobiografie gestaucht & der hörzeit angepasst.
von den frühkindlichen erinnerungen aus, ja aus dem fruchtwasser des atlantiks entwickelt sich eine sich selbst organisierende wort- & klanglandschaft ohne dramaturgisch aufgezwungene spannungsbögen. technische kontaktglieder wie schnitte, blenden, abbrüche sind synapsen, die all diese momente in beziehung zueinander bringen.
aus dieser nicht-erzählenden form heraus entsteht unwillkürlich & zwangsläufig eine art chronik aus den mehr oder weniger zufällig wiederentdeckten aufnahmen eines längst vernachlässigten privaten tonarchivs. 
es ergibt sich, unter dem parameter des zufalls, ein sprach- & klangkörper, der nichts mit chaos im landläufigen sinn zu tun hat, sondern es ist ein physisches & psychisches ganzes, eine untrennbare akustisch sich emanierende existenz. wie weit sich die autobiografie erschliesst, hängt genauso vom mündigen hörer ab wie vom wissenden autor. 


hartmut geerken
Soeben im Hybriden-Verlag erschienen. Hörspiel im Deutschlandradio mit Texten von Sabine Küchler und Hartmut Geerken. Auflage: 75 Exemplare, Reihe ELEKTRONIKENGEL. CD: 1:01:57, Berlin 2016

Freitag, 26. Februar 2016

Die Amsel

Foto von Wolfgang Müller

Die Erzählung „Die Amsel“ von Robert Musil wurde 1936 veröffentlicht. In mehrfachen Spiegelungen wird von zwei Jugendfreunden berichtet, genannt Aeins und Azwei Dabei werden drei Geschichten erzählt: Auf dem Dach eines Berliner Mietshauses singt eine Nachtigall. Am Ende heißt es: „Es war gar keine Nachtigall, es war eine Amsel.“ 
Meine kleine (wahre) Amselgeschichte hat sich heute zugetragen. Und sie beginnt so: Gegen 13.00 klingelte es. Der Paketbote fragte über die Sprechanlage, ob ich eine Sendung für eine Nachbarin annehmen würde. Ich sagte zu und kurze Zeit später öffnete ich die Wohnungstür. Der junge Bote stand da mit einem grauen Karton und einem Gerät für die elektronische Signatur. Beim Unterzeichnen fiel mein Blick auf ein dunkles starres Federknäuel, welches nur wenige Zentimeter entfernt von seinen Füßen stand, völlig bewegungslos. „Was ist denn das?“, sagte ich. Der Bote schaute ebenfalls nach unten. Es war eine Amsel, die mit aufgeplusterten Federn in Richtung meiner Tür stand, vollkommen starr, wie ein ausgestopftes Präparat. Wir schauten sie näher an. Sie rührte sich nicht, blinzelte nur kurz mit dem Augenlid.
Offensichtlich war das Tier ins Treppenhaus geflogen, hatte den Ausgang nicht mehr gefunden und war nun gelähmt vor Angst oder Verwirrung. Wir planten eine Rettungsaktion. „Ich hole eine Bahne Küchenpapier und werfe sie über den Vogel“, sagte ich, „wenn er nichts mehr sieht, dann kann man ihn ergreifen“. 
Doch die Rettungsaktion missglückte. Das Papier bedeckte zwar den Vogel, doch bei meinem ersten Zugriff schlüpfte er vorn aus der Papierbahn und hüpfte vier Treppenstufen hoch. Zwei weitere Fangversuche des DHL-Boten missglückten: „Ich möchte ihn nicht verletzen.“, sagte er. Ich ermutigte ihn: „Nein, so empfindlich sind die nicht, greifen sie einfach beherzt zu, mit beiden Händen.“ Tatsächlich gelang der vierte Versuch. Mit dem Vogel unter dem Papier in der Hand stieg der Bote die Treppe auf, öffnete das kleine Lüftungsfenster (Foto) und setzte den Vogel auf den Sims.
„Komisch. Er fliegt ja gar nicht weg“, wunderte er sich und drückte mir das zerknüllte Papier in die Hand. Ich meinte: „Vielleicht ist die Amsel noch benommen und muss sich erst mal neu orientieren?“ „Schauen Sie später noch mal nach?“, fragte der Bote, bevor er ging. Ich versprach das zu tun.

Wolfgang Müller

Freitag, 19. Februar 2016

Der die das Dada

Valeska Gert, Performance-Standbild
 nach einem Video von Ernst Mitzka

Centennial Die Kunstgeschichte ist bis heute damit beschäftigt, die Vielseitigkeit der Bewegung einzusortieren. Aber Dada erscheint immer dort, wo niemand es erwartet

Dada, das steht bis heute für Nonkonformismus, für Revolte, Anarchie und Anti-Kunst. Dada ist die Irritation aller Gewohnheiten, ist Grenzüberschreitung und die Infragestellung von Gewissheiten. Die Kunstgeschichte ist bis heute damit beschäftigt, die damals entstandene Vielfältigkeit einzusortieren, hat sich aber darauf geeinigt, dass Dada am 5. Februar 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire das Licht der Welt erblickte. Mitten im Ersten Weltkrieg, in der friedlichen Schweiz. Die ins Land emigrierenden Künstler verband eine radikal pazifistische Haltung. Offenbar gingen sie dem von Politikern und Militärs allenthalben gepredigten Fortschrittsglauben und politischen Notwendigkeiten nicht auf den Leim. Dada-Bewegungen entstanden zeitgleich auch in anderen europäischen Staaten und in New York. In den USA bildete sich eine Dada-Zelle aus exilierten Pazifisten wie Marcel Duchamp, Francis Picabia und der Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven.
Eigentlich widerspricht es dem Geist von Dada, ein 100-jähriges Jubiläum zu feiern. Denn die Kunstbewegung, die dem Wahnsinn der Realität einen Spiegel vorhalten wollte, stellte jedes Jubiläum in Frage – entlarvte es als Konstruktion oder Instrument von Machterhalt. Dada wusste: Vernunft und Rationalität, die die Politik für sich in Anspruch nimmt, sind längst abgeschafft, die Welt ist durchgeknallt. Wie grotesk klingen Worte von Gottes unendlicher Liebe, wenn die Bischöfe dabei die Waffen für das kommende blutige Gemetzel segnen? In Berlin unterbrach der Prä-Aktionskünstler und religiös-okkultistische Johannes Baader 1918 eine Dompredigt mit dem Zwischenruf „Was bedeutet euch Jesus Christus? Er ist genau wie ihr – ihm ist alles egal!“ und verteilte in seiner Funktion als Oberdada im Reichstag Flugblätter zur „Grünen Leiche“.
Offiziell heißt es, dass der „Künstler Hugo Ball mit seiner Freundin Emmy Hennings“ in der Zürcher Spiegelgasse 1 das Cabaret Voltaire gründete. Schon bald stießen der deutsch-französische Hans alias Jean Arp, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und die Tänzerin Sophie Taeuber hinzu. Und es wird deutlich, dass selbst der die das anarchische Dada eine ziemliche Männerwelt war. Also, deshalb an dieser Stelle anlässlich des Jubiläums mal ein wenig anders formuliert: „Die Sängerin und Schriftstellerin Emmy Hennings gründete 1916 mit ihrem Freund Hugo Ball das Cabaret Voltaire.“ Wie klingt das?

Bretons Fabrikmarke

Verglichen mit der Bewegung der Futuristen scheint Dada zumindest etwas offener für Künstlerinnen gewesen zu sein. Zumal fehlende Kriegsbegeisterung bei Männern bis heute als irgendwie unmännlich gilt. Die Futuristen, eine Männergruppe, waren hingegen fasziniert vom Krieg, schwärmten von dessen kathartischer Kraft und steckten voller Fortschrittseuphorie. Das Gegenteil verkörperte die prä-queere Tänzerin Valeska Gert, die in ihrer Biografie Ich bin eine Hexe über eine Matinee der Dadaisten in Berlin schrieb: „Der Höhepunkt des Programms war ein Wettrennen zwischen einer Nähmaschine und einer Schreibmaschine. An der Schreibmaschine saß George Grosz. Kaum im Saal entdeckt, schleifte man mich auch schon auf die kleine Bühne, und ich tanzte zu den Geräuschen der beiden Geräte, eine Tüte aus Zeitungspapier mit zwei Pfund Spargel im Arm – also, es gab schon damals Happenings.“

Einige Jahre später, 1926, gerät ein von Valeska Gert als „Surreale Tänze“ angekündigter Auftritt in Paris zum Desaster. Die Schriftstellerin Claire Goll erinnert sich: „Kaum erschien Valeska Gert auf der Bühne, so machten sich die Surrealisten mit gellenden Pfiffen und faulen Eiern Luft. Im Zuschauerraum entstand ein unbeschreibliches Getümmel. André Breton sprang auf einen Sitz und beanspruchte laut für sich das alleinige Recht, das Wort Surrealismus zu gebrauchen. Es war kein Dichter mehr, der da gestikulierte, sondern der Exklusivbesitzer einer Fabrikmarke.“

In den Dada-Zentren Berlin, Hannover und Köln führt das Vorhaben, die Ideologien, Ismen und Bluffs von Religion, Politik und Kunst zu entlarven, letztlich zu eigenwilligen Ästhetiken. Auch „Anti-Kunst“ wird spätestens mit zeitlicher Distanz wieder Kunst – das müsste inzwischen bekannt sein. Ist es aber nicht. Bis heute wird ein stundenlang „Heil Hitler“ kreischender Performancekünstler in Kunst und Medien als „provokanter Dada-Künstler“ und „Tabubrecher“ bezeichnet. Ob sich durch solch fade Effektkunst die gegenwärtige Macht des Neo-Individualliberalismus bestätigt, in dem die zeitgenössische Kunst inzwischen als Beleg grenzenloser Freiheit funktionalisiert wurde? Das wird kaum hinterfragt.

Während der Berliner Dadaismus der 1920er mit John Heartfield, Richard Huelsenbeck und Raoul Hausmann seinen politischen Anspruch betonte, stellte Hannah Höch zusätzlich unbequeme Fragen nach den tradierten Geschlechterrollen. Auch die moderne Kunst entwickelte sich in einer Gesellschaft guter Kumpels, die über entsprechende Netzwerke verfügten. Während die Dadaisten aus Berlin dem Hannoveraner Künstler Kurt Schwitters politisches Bewusstsein absprachen und ihm die Rolle eines spießbürgerlichen Ästheten zuwiesen, blieb er zeitlebens freundschaftlich eng mit Höch verbunden. Für die langjährige lesbische Beziehung zwischen Hannah Höch und der niederländischen Schriftstellerin Til Brugman zeigten allerdings auch die Dadaisten kaum ein größeres Verständnis als Otto und Anna Normal.

Und Post-Dada? In den 1960ern waren Yoko Ono und Joseph Beuys im Fluxus aktiv. Beuys reproduzierte die Zeitungsannonce „Künstler für die SPD“, druckte darüber in altdeutschen Lettern „Kitschpostkarte“ und fügte sie ein in die Postkartenedition seines Kollegen Klaus Staeck. In den 1970ern war SPD-Mitglied Staeck mit Plakaten in der aufklärerischen Tradition des Dadaisten John Heartfield bekannt geworden. Heute wirken ernstgemeinte Wahlplakate, auf denen die SPD „soziale Gerechtigkeit“ fordert, wie groteske Wiedergänger von Klaus Staecks satirischen Politplakaten der 1970er. Die sich in den Betrachtern vollziehende Interaktion zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen Form und Inhalt scheint einen elementaren Teil seiner Kunst aufgelöst zu haben. Die Realität hat sie eingeholt. Was bleibt übrig?

Überdies sehr vernünftig

Ein weiteres Mal tauchte Dada 1977 im Gewand des Punk auf: als Anti-Popmusik. Auf dem grellfarbigen Cover der Sex-Pistols-LP Never Mind the Bollocks prangte der Bandname in unterschiedlichen Buchstabenfonts – ein Erpresserbrief, Identität verschleiernd. Solches Design wird bis heute sofort mit Punk identifiziert. Die Ästhetik der Linksalternativen, die im gleichen Zeitraum Selbstverwirklichung und Individualität propagierten, ist dagegen in der Bionadebiedermeier-Ästhetik spurlos aufgegangen und diese im Mainstream. Auf euphorisch bunten taz-Sonderseiten zum Schlagerwettbewerb ESC verschwindet jede ästhetische Differenz beim Versuch homonationaler Identitätskonstruktion.

Das Verschwinden oder Erscheinen von Kunst und Ästhetik haben Marcel Duchamp und Valeska Gert früh thematisiert. Während Erstgenannter mit industriell hergestellten Readymades wie einem Urinal 1917 darauf hinwies, dass die Kunst im Betrachter selbst entstehe, brach Valeska Gert die damalige Konvention vom Fortschrittsglauben 1919 mit Tänzen wie Pause. Und während Gert 1920 das Boxen erlernte, um es als Frau im modernen Tanz umsetzen zu können, verwandelte sich Duchamp für einen Parfumflakon in Madame Rrose Sélavy.

Dada erscheint seither in immer wieder anderer Gestalt, vor allem dort, wo es niemand erwartet. Der Komiker Jón Gnarr gewann 2010 nach dem Bankencrash mit seiner „Besten Partei“ unerwartet die Bürgermeisterwahl in Reykjavík und setzte dann konsequent Dada-Politik um. Er versprach, besonders korrupt zu sein – und brach sein Wahlversprechen. Beim isländischen Gay Pride hielt der fünffache Familienvater verkleidet als Ehefrau Jóga die Rede: „Ich vertrete heute meinen Mann, den Bürgermeister.“

Gnarrs Beispiel zeigt: Das Provokante ist auch heute selbstironisch, liebevoll, human, pazifistisch und überdies sehr vernünftig. Nach vier Jahren Dada-Regierung war Reykjavík schuldenfrei und Jón Gnarr dermaßen beliebt, dass er laut Umfragen sogar Präsident von Island werden könnte. Falls er es denn wollte.


Wolfgang Müller

Donnerstag, 28. Januar 2016

"wir sind der pöbel..."

Abb. aus: herman de vries, ali baba visits marrakech

„wir sind der pöbel“ oder: ein deutscher text in arabischer sprache.   (alle kursiven wörter sind arabischen Ursprungs)

wo, fragt sich der arabische admiral in seinem auberginefarbenen sakko, kann ich mich besser massieren lassen, auf einem sofa oder auf einer matratze? aber vorher will ich noch eine tasse  bohnenkaffee zu mir nehmen. er betritt eine konditorei. er nimmt seine mütze ab, stellt seinen koffer mit der gitarre neben den tandur & trinkt erst eine limonade & ein soda. dann erst einen mokka mit viel zucker. zum schluss noch einen kümmel & eine zwetschge. dazu  etwas marzipan. auf dem lackierten ebenholztresen sitzt ein papagei & sagt dauernd ‚hadschi! hadschi!‘. matt wie eine mumie verlässt er das café wieder. vor der tür wächst unter einer hohen  lärche spinat, boretsch, estragon, ingwer & safran. – oder hat er wegen des alkohols eine art fata morgana? er sieht auch plötzlich orangen rumliegen & aprikosen, artischocken, zibeben! – eine fanfare weckt ihn aus seinen träumen auf. er hatte nämlich zusammen mit dem alkohol auch haschisch zu sich genommen. seine schritte unter seinen kamelfarbenen gamaschen sind wie auf watte.


hartmut geerken

Sonntag, 17. Januar 2016

Omniverse im Voodoo Altar


die erste ausgabe meines buches 'omniverse sun ra' (1994) hat sein ihm zustehendes magisches environment gefunden. entdeckt anlässlich der gerade zu ende gegangenen haitianischen 'ghetto biennale' im gemenge eines voodoo altars, just in dem moment, in dem nach über zwanzig jahren die zweite auflage dieses buches, grosszügig erweitert in bild & text, auf den markt gekommen ist, in hongkong hergestellt, in london (artyard) verlegt.

in der haitianischen zeitschrift 'port-au--prince & around' stand folgender artikel: "there are a few stories that you might hear in port-au-prince: that sun ra lived here on and off for a few years in the 1960s. that he owned a gingerbread house that you now can stay in, or maybe it's a restaurant you can eat at. he stayed in quite a few other places.... he compost 'rocket number nine take off for the planet venus' in port-au-prince. he signed a photo of himself that now graces the walls of a local restaurant. he wanted to adopt a haitian boy. he sired various children. he shard a room with graham greene...."

(hartmut geerken)

https://www.facebook.com/ArtYardRecords/

Donnerstag, 14. Januar 2016

Tatortskizze für einen Roman...

Visuelles Gedicht von Cristian Forte

Cuadro de situación para una novela
dedicada a un agente editorial

                                               
                                                                                                            a Pablo Katchadjian


escribo vestido de escritor

– vestido -
croto y fresa                a la vez
veo
y en
todo lugar encuentro
            un lugar del crimen

esta obra de arte promete actuar contra
la criminalidad vacilando a la industria de editores,
pero la criminalidad
es su desarrollo económico, porque el desarrollo
económico
no es ya otra cosa que criminalidad

estas palabras no son mías
estas palabras me fueron dadas por fuerzas
aéreas

también amplifico altura de hojas,
(a partir de ahora hablaré solo
para mis traductorxs)

al desvestirme
EMBISTO AL COMPLETO HUÉSPED
DEL OTRO
que sale de mi ropa
y se queda sin ganas
saltando a mi lado
de un otro al lado

„ hermano,  si tengo un hijo vos vas a ser el padrino
y además, ando con una idea fija. Voy a comprar tierras
en Catamarca. Tengo plata. Vos vas a ser el padrino de
mi hijo y después vamos a crear una secta. “

Estos son los cuatro
estados de la Materia:


1 – peronismo de derecha
2 – peronismo de izquierda
3 – peronismo de centro
4 – peronismo este



yo dormí durante un año
en una carpa
            en el jardín de una familia
australiana – ajeno
yo aprendí a cocinar ahí en
microondas – y en las noches
 escribía emails a mi hija
 en india – y
en mi país me decían todavía:
Sergio
me recordaban a lo ajeno
yo, hijo de Ramón Nonato

yo manejaba un bus de chicos
discapacitados en Kings Cross

y cuando tenía cerca el camión de la basura
 sentía que los dos tíos podían venir a levantarme
 para dejarme adentro del cono metálico

luego escribia en mi cuaderno:

„el sol es un físicoculturista“

soy un imbécil
soy un imbécil
soy un imbécil
pero en su gesto
                                                 un final posible:

 - mis sentimientos corren a la velocidad
de un paisaje marino -

este arte es estar
simulando un oficio
que me da  ganas

un mundo gestual que da  la vida y un mundo
material que lo manifiesta -


---       

Cristian Forte

Ago. 2015 Berlin           



Tatortskizze für einen Roman, einem Verlagsagenten gewidmet.

                                                                                                für Pablo Katchadjian


ich schreibe gekleidet als Schriftsteller

– gekleidet –
clochardhaft und glamourös  zugleich
ich sehe
und finde
an jedem Ort den
            Tatort eines Verbrechens

dieses Kunstwertk verspricht vorzugehen gegen
kriminelle Machenschaften, indem es der Verlagsindustrie spottet,
doch die kriminellen Machenschaften
sind längst ihre wirtschaftliche Entwicklung geworden, denn die wirtschaftliche
Entwicklung
ist ja nichts anderes mehr als kriminell

diese Worte stammen nicht von mir
diese Worte kamen zu mir durch die Luft
Waffe

zusätzlich verstärke ich die Höhe der Blätter,
(von jetzt an spreche ich nur noch
für meine Übersetzer)

während ich mich entkleide
ERSTÜRME ICH DEN VOLLENDETEN GAST
DES ANDEREN
der meinen Kleidern entsteigt
und ohne Lust/Gewinn
neben mir springt
von einer anderen zur Seite

„Wenn ich ein Kind bekomme, wirst du, mein Bruder, der Pate und außerdem habe ich einen festen Plan. Ich werde Land kaufen in Catamarca. Ich habe Geld. Du wirst der Pate meines Kindes und danach gründen wir eine Sekte.“

Dies sind die vier
Stadien der Materie:

1.    Peronismus der Rechten
2.    Peronismus der Linken
3.    Peronismus der Mitte
4.    Östlicher Peronismus

Ich habe ein Jahr lang
in einem Zelt geschlafen
            im Garten einer australischen Familie
australisch – als Fremder
ich lernte dort in einer Mikrowelle
zu kochen – und nachts schrieb ich E-Mails an meine Tochter
in Indien – und
in meinem Land nannte man mich noch immer:
Sergio
man erinnerte mich an das Fremde
ich, Sohn des ungeborenen Heiligen Ramón Nonato

ich lenkte einen Bus voller
behinderter Kinder in Kings Cross

und wenn sich der Laster der Müllabfuhr näherte,
hatte ich das Gefühl, die beiden Typen könnten mich nehmen
und ins Innere des metallenen Zylinders befördern

daraufhin schrieb ich in mein Heft:

„die Sonne ist ein Bodybuilder“

ich bin ein Dummkopf
ich bin ein Dummkopf
ich bin ein Dummkopf
aber in seiner Geste
                                    ein mögliches Ende:

– meine Gefühle laufen in der Geschwindigkeit
einer Meereslandschaft –

diese Kunst besteht darin,
ein Gewerbe vorzutäuschen
das mir Lust/Gewinn verschafft

eine Gebärdenwelt, die Leben spendet und eine materielle
Welt, die sie darstellt –


---
Cristian Forte

August 2015 Berlin

Übersetzung: Christiane Quandt

Blog von Cristian Forte