Hitler liebte Hausmusik im engsten Kreise zur privaten Unterhaltung und zur Unterhaltung von Gästen auf dem Obersalzberg. Gerade zu dem Zeitpunkt, als Hanfstaengl die Bühne auf dem Obersalzberg verließ – Anfang 1937 – kommt ein weiterer Hauspianist ins Spiel, ein Künstler aus Java, der danach längere Zeit auf dem Obersalzberg wohnte und Hitler und Eva Braun mit seinen Klavierkünsten unterhielt. Der Journalist Iwan Ong Santosa und seine Mutter erinnern sich:
Anfang der 1990er Jahre wollte die Mutter von Iwan Ong Santosa ein Haus in Bogor in West-Java kaufen. Ihr wurde ein Haus in der Jalan Tajur angeboten. Iwan Ong Santosa, damals etwa 18 Jahre alt, begleitete seine Mutter zu einem ersten Besichtigungstermin. Das Haus machte einen etwas heruntergekommenen Eindruck, aber nach einer Renovierung hätte es ihren Ansprüchen genügt. Besonders gefiel ihnen der – ebenfalls etwas vernachlässigte – Garten. Die Mutter zeigte Interesse und es folgten noch weitere Verhandlungstermine in dem Haus des Eigentümers. Iwan Ong Santosa war von dem Hausherrn, seinen Erzählungen und der Einrichtung im Wohnzimmer des Hauses so beeindruckt, dass er seine Mutter bei jedem weiteren Besuch dorthin begleitete.
Der Hauseigentümer war ein gewisser Abu Bakar. Er war ein kleiner untersetzter Mann mit einem grauen Lockenkopf – so, wie ihn Albert Einstein hatte, eine echte Künstlernatur. Er gab Privatunterricht für Klavier und Violine und er konnte sich mit den Einnahmen gerade so über Wasser halten. Damals war er vermutlich schon an die 80 Jahre alt. Seine Hautfarbe war relativ hell, vermutlich die eines Indos, eines Mischlings. Was den jungen Iwan Ong Santosa besonders interessierte, war das Wohnzimmer. Das Möbelstück, das den großen Raum dominierte, war der mitten im Raum stehende mächtige Flügel. Violinen standen in den Ecken des Raums. Die Wände waren rundum mit vielen Fotos und Ausschnitten aus indonesischen und deutschen Zeitungen gepflastert. Sie zeigten Abu Bakar mit Hitler und Abu Bakar am Flügel spielend, mit Hitler und Eva Braun daneben. Abu Bakar habe stolz erzählt, dass er 1937 und während des Krieges in Deutschland gelebt habe, die längste Zeit davon in einem Nebengebäude von Hitlers Residenz auf dem Obersalzberg. Hier wäre er regelmäßig mit Hitler und Eva Braun zusammengetroffen, wenn sie am Abend bei seiner Musik Ent- spannung suchten. Als Junge war Iwan Ong Santosa tief beeindruckt, denn Hitler übte damals auch auf ihn – wie auf viele Indonesier – eine große Faszination aus.
Letztendlich kam der Hauskauf doch nicht zustande. Abu Bakar galt als sehr exzentrisch. Als die Verkaufsverhandlungen schon ziemlich weit fortgeschritten waren und kurz vor einem Abschluss standen, wollte er plötzlich sein trautes Heim doch nicht verkaufen. Die Mutter von Iwan Ong Santosa entschied sich für ein anderes Objekt. An mehr Details konnten sich Mutter und Sohn nicht mehr erinnern. Ich aber wollte noch mehr über Abu Bakar in Erfahrung bringen!
Im September 2011 begab ich mich mit Herrn Iwan Ong Santosa auf Spurensuche in Bogor. Zu der Zeit, als ich noch in Indonesien lebte, führte eine schmale Straße über Tjimanggis (heute: Cimanggis) nach Bogor, auf der man regelmäßig durch viele Verkehrstaus aufgehalten wurde. Heute gibt es eine Mautstraße mit Autobahncharakter, auf der man in einer halben Stunde im etwa 45 Kilometer entfernten Bogor ist.
Das Haus von Abu Bakar in der Straße Jalan Tajur war verschwunden. Wir fanden nur noch einen verwilderten Garten mit hohen Bambusstauden, Bäumen mit riesigen Papayas und ein paar Kokospalmen vor. Die älteren Nachbarn und ein pensionierter Verwaltungsbeamter des Distrikts wussten aber noch einiges über ihn: Abu Bakar sei um 1994 aus dem Haus ausgezo- gen und habe es an den jetzigen Nachbarn, einen Kraftfahrzeughändler, verkauft. Zu der Zeit sei er schon sehr alt gewesen und sei vermutlich in Jakarta in einem Altersheim verstorben. Abu Bakar war sein Leben lang Junggeselle und er sei im Alter sehr einsam gewesen. Verwandtschaft wurde nie bei ihm gesehen und es wurde vermutet, dass er keine Verwandten in Indonesien hatte. Seine einzige Ablenkung von der Einsamkeit seien das Klavierspiel und der Klavier- und Geigen-Unterricht gewesen. Bis zu seinem Auszug hätte er Jugendliche in seinem Haus unterrichtet.
In den 1930er Jahre sei sein Leben allerdings viel aktiver gewesen. Er sei oft auf verschiedenen Plantagen rund um Bandung engagiert worden, um dort für die einsamen weißen Pflanzer und deren Familien, gegen eine Entlohnung Klavier-Konzerte zu geben. Hauskonzerte dieser Art waren damals bei den Plantagenverwaltern allgemein üblich und beliebt.
Abu Bakar war – wie von Herrn Iwan Ong Santosa richtig vermutet wurde – ein Indo, ein Mischling von einem islamischen Vater aus Westjava und einer holländischen Mutter. Dies erklärte auch seine hellere Hautfarbe. Diese hellere Hautfarbe war unter den gebräunten Menschen eigentlich sehr wertvoll und geschätzt. Schwangere Frauen aßen sogar Safranblüten und Blätter der Hibiskusblüten, da nach einer alten Überlieferung die Kinder dadurch hellhäutiger werden würden. Auch in Apotheken werden bis heute Cremes und andere Mittelchen hergestellt, um die dunkle Haut zu bleichen.
Im Netzwerk der indonesischen Gesellschaft saßen die Mischlinge jedoch immer zwischen zwei Stühlen: Von den weißen Niederländern wurden sie nicht für voll genommen und mussten um Anerkennung kämpfen; unter den Einheimischen wurden sie als überheblich und eher der weißen Rasse zugetan eingestuft. Für Indos war es weit schwieriger auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben zu kommen als für die Blanken, wie die ‚Weißen‘ von den Einheimischen genannt wurden. Die Indos bekamen nur selten von den Blanken und von den Einheimischen Anerkennung. Wie Abu Bakar wurden diese Menschen oft von Einsamkeit geplagt. Daher war seine Gastrolle bei Hitler für ihn etwas ganz Besonderes.
Wie die Nachbarn erzählten, hätte Abu Bakar im Alter immer wieder stolz von seinem Aufenthalt bei Hitler auf dem Obersalzberg erzählt und Fotos mit Hitler und Eva Braun gezeigt. Nach den Erzählungen der Nachbarn schien dies die wichtigste Periode seines Lebens gewesen zu sein.
Leider waren die Fotos und Zeitungsausschnitte bei unserem Besuch in Bogor verschwunden. Kontaktpersonen oder Anhaltspunkte über seinen letzten Aufenthalt konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Vermutlich sind diese Zeitdokumente mit Abu Bakar ins Grab gegangen, oder beim Abriss seines Hauses unter den Trümmern begraben worden.
Aber wie kam Abu Bakar nach Deutschland zu Hitler und durch wen? Diese Frage kann wohl nicht mehr eindeutig geklärt werden. Aber der Schlüssel zu dieser Antwort kann meiner Ansicht nach nur bei Walther Hewel liegen. Hewel lebte bis zum Jahre 1936 auf der Plantage ‚Neglasari Estate‘ bei Garoet (heute: Garut) in Westjava, nicht weit von Bandung entfernt. Hewel war ein großer Freund von klassischer Musik. An mehreren Stellen seines Tagebuches findet man Hinweise dazu. Liegt es da nicht auf der Hand, dass Hewel bei Konzerten auf der von ihm verwalteten Plantage Abu Bakar kennenlernte und nach Deutschland kommen ließ? Denn nur kurze Zeit nach Walther Hewel verließ auch Abu Bakar Niederländisch-Indien mit dem Ziel Deutschland. Wenn Hewel vor seiner Abreise aus Niederländisch-Indien erfuhr, dass Ernst Hanfstaengl geflüchtet war, hätte er noch alle Vorkehrungen für eine Übersiedlung Abu Bakars nach Deutschland treffen können.
Hewel war, wie anscheinend auch Abu Bakar, meist auf dem Obersalzberg. Bei privaten Filmaufnahmen, die Eva Braun dort machte, ist immer wieder Walther Hewel mit Hitler oder Gästen zu sehen. Einen Indonesier habe ich auf diesen Aufnahmen nie entdecken können. Zufall oder wollte man Abu Bakar nicht zeigen? Ein Nicht-Arier und dazu noch ein Mischling in Hitler Nähe? Das wäre doch unerhört gewesen! Andererseits hatte Abu Bakar gegenüber Hanfstaengl auch große Vorteile: Abu Bakar war neutral. Er sprach wohl Niederländisch, konnte aber kaum verstehen, was im ‚Inneren Kreis‘ gesprochen wurde. Nur mit Hewel konnte er sich in seiner Landessprache verständigen.
Nach 1950 kam Abu Bakar wohlbehalten in seine alte Heimat, nach Indonesien, zurück. Reich ist er durch seine musikalische Unterhaltung der Nazi-Elite nicht geworden, aber er war in Bogor durch seinen Aufenthalt in der Umgebung von Hitler hoch geachtet und seine Erzählungen über Hitler und den Obersalzberg wurden in der Nachbarschaft immer gerne gehört.
Text aus: Horst H. Geerken, Hitlers Griff nach Asien. Zwei Bände, Books on Demand, 2015