Gespenster am Fenster von Detlef Thiel
Ja, gewiß doch wohl ist heute
die Zeit der Rekorde (sogar hat daraufhin jemand sein Töchterchen ,Rekordula’
genannt). Schon vermerkt der Kanal es übel, wenn ihn nicht täglich einer
zwischen die Blitzbeine nimmt. Immerfort übertrifft einer den Andern im Tanzen,
Radeln, Auteln, Flettnern, Fliegen usw. Redaktionsastrologen sorgen redlich
dafür, daß die Zeitungen die Berichte noch vor den Geschehnissen bringen.
Kopfhörer und weinerliche Lauthörer für Sterbende sind bereits erfunden. Thomas
Mann schlug neulich in der Preußischen Dichterakademie den Aussender für letzte
Worte großer Männer vor. An Abgesetztheit überbietet ein Fürst den andern. Der
allerrascheste Weltumflieger scheint sich nicht mehr vom Fleck zu bewegen, weil
sein Flugzeug im Bruchteil einer Sekunde um die Erdkugel zuckt. Werdende Mütter
wetteifern, die langweiligen neun Monate zwischen Erzeugung und Geburt bis auf
den schäbigsten Rest zu komprimieren. Man munkelt von einem Wettrennen, wobei
Nurmi den Dr. P. durch Trick erledigte: in optisch ihn nullender feldgrauer
Papierhülle stand er von vornherein am Ziel; in Gestalt einer Wachspuppe, die
beim Knallsignal explodierte, am Start; zugleich zerriß er jene Hülle – am
Beginn im Gewinn. P.s Wut war so ohnmächtig, daß er seitdem psychopathisch
hinkt und seine Villa ,Schneckenhaus’ nennt. – Verzeihung, daß ich erst jetzt
den erlauchten Namen Albert Einsteins in meinen unwürdigen Mund zu nehmen wage.
Dieser fast Unsterbliche kommt soeben mit dem genialen Vorschlag, die
zeiträumliche Prädisposition des menschlichen Hirns funktionell dermaßen zu
alterieren, daß (wie vermittelst eines rapiden Zeitraffers) alles Nacheinander
je nach Bedarf ins Zugleich verwandelt werden kann: so wird der Weltraum
erobert. Eine Moszkowski-Gesellschaft für Stern-Rundreisen ist gegründet. – Auf
dem Gebiete des Erlösungswesens, das bisher tief daniederlag, hat eine Fabrik,
die jede Minute gut und gern sechzig Heilande (Buddhas, Bubers, weise
Rabindranathans und andere Himmelswandervögel) liefert, jeden Ford-Schritt
übertrumpft. Jedermann erhält hier auf Bestellung seinen individuellen Erlöser,
keine fertige Ware, sondern Maßarbeit; eine Art Chasalla. – Elektrisch
betriebene Coué-Mühlen (Kontakt-Stecker) ersticken jeden Krankheitskeim im
Entstehen, rhabarbern unermüdlich ihr ,Vontagzutag’, und die armen Ärzte können
im Erfinden neuer Krankheiten kaum noch Schritt mit ihnen halten. – Wurden
vormals mit Leichtigkeit Rekorde im Lügen geschlagen, so daß es keinen Balken
gab, der sich nicht krumm bog: – was sagt man nun dazu, daß neulich Einer die
Wahrheit so stark sagte, daß diese selben Balken sich wieder automatisch grade
streckten? Den Rekord im herzhaftesten Stottern errang sich eine Dame, die ihn
zugleich in Unschuld davontrug (allerding bald darauf in einer
Häßlichkeitskonkurrenz siegte). Rekorde in Ehebruch, Dummheit, Invalidität,
Eitelkeit werden kaum noch beachtet.
Und sieheda! Trotzdem hat sich
an Rekord noch etwas schier Unglaubliches zugetragen, davor selbst Ben Akiba
reuig kapituliert: In der Frühe des ehegestrigen Tages starb ich ebenso langsam
wie ziemlich sicher, und selbstverständlich ließen meine Leute mich verbrennen;
das macht heute guten Eindruck, denn ein Toter, der nur beerdigt wird, scheint
immer noch zu spuken, das ist unerquicklich. Man sei nicht bloß tot, sondern
bitte mausetot. Erst die Asche des Verbrannten ruht so recht sanft. Wie aber
Gerhart Hauptmann seinem Eckermann mal vertraulich mitteilte, ist auch das
Krematorium kein Schutz vor Unsterblichkeit. Ich Ärmster sah mich plötzlich in
aschiger Schemenhaftigkeit mitten in einer schauerlichen Versammlung lebender
Leichname, die eine Wette miteinander austrugen: ,Wer ist am besten verwest?’
suchten sie zu ermitteln. „Achtung, Zwischenstufe!“ warnte mich Stolpernden ein
fauliger, blutiger Kunde, der den komischen Eindruck eines im frischesten
Ermordetwerden Steckengebliebenen machte, und der mich widerlich orientierte: „Bei
ehrlich Verwesten bildet sich das Geschlecht sächlich heraus. Wir haben sofort
gespürt, daß Sie jeden Rekord im Verwestsein schlagen. Sie stinken nicht mehr,
und die Würmer sind weg. Reinste Asche. Kommen Sie mal, daß ich Sie dem
Schiedsrichter präsentiere!“
Bevor ich nachdenken konnte,
stand ich purer Aschenmensch vor einem Kadaver aus jauchiger Gallerte, der mich
mit wurmstichigen Totenschädelaugen schneidend scharf prüfte, dann zwischen
mulmigen Kiefern grinste: „Gut. Gewonnen!“ Er drapierte sein Leichentuch frivol
dekorativ, ließ meine Asche kritisch durch die Knochenfinger rieseln:
„Tadellos! Wie haben Sie das gemacht? Waren Sie korpulent? Sie sind hier der
beste Verwesemann ... hießen Sie etwa Stresemann? Ich ernenne Sie zum
Weltmeister im Leichtverwesen – nonplusultra.“
Damit wollte er sich meine Asche aufs Haupt legen. Aber ringsum das gräßliche
Gewimmel der Leichen krächzte: „Schiebung! Schiebung! Gib ihm Saures!“ „Wieso?“
fragte der Allzu-Unparteiische, innehaltend. „Krematorium!!!“ heulten die Leichen,
„der hat sich ja verbrennen lassen, das ist keine Kunst!“ Und Jener warf mir
meine eigene Asche in mein beschämtes Schemenantlitz. Mit vereinten Kräften
bugsierten sie mich in die ebenhölzerne Urne zurück, aus der ich geisterhaft
aschig auferstanden war, um mich ausgerechnet in ihre Konkurrenz um den
höchsten Grad der Verwesung zu mischen. Man wird mir zugestehen, das ist zwar
heutzutage überaus aktuell. Aber schlägt das nicht doch jeden erdenklichen
Rekord in sämtlichen Rekordveranstaltungen?
Weiter möchte ich nichts
behauptet haben.
Mynona
Simplicissimus, Nr. 38:
„Höchstleistungen“ (20. Dez. 1926)
jetzt in Salomo
Friedlaender/Mynona: Grotesken II, books on demand 2008
Die Fotos entstanden neulich
nachts in der Wohnung von Detlef Thiel, und zwar blind: im stockdunklen Flur,
mit defekter Digitalkamera