|
Hitler hört die VOYAGER GOLDEN RECORD |
„Du sollst dir kein Bildnis machen!“, hat es einmal geheißen, aber das ist lange her. Das Bilderverbot, einst zum Schutz vor falschen Götzen ergangen, hat in der Postmoderne ausgedient. Keines der zehn Gebote, muss man wohl feststellen, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem derart eklatanten Misserfolg entwickelt wie das zweite. Jedenfalls überflutet uns der spätkapitalistische Lebensstil mit endlosen Bilderströmen, und da mutet die durchaus ansehnliche wissenschaftliche wie metaphorische Karriere von etwas prinzipiell Unsichtbaren schon erstaunlich an. Und doch hat sich eine bestimmte Klasse von ziemlich abstrakten astronomischen Objekten, deren präzise Bedeutung naturgemäß kaum ein Laie versteht, zu einem ziemlich lebendigen Teil dessen gemausert, was einmal Allgemeinbildung hieß und sich inzwischen in einen kunterbunten Fundus aus Junk-Wissen verwandelt hat, der beim Magazin-Lesen oder abendlichen TV-Zapping irgendwie hängengeblieben ist.
Die Rede ist von Schwarzen Löchern, jenen geheimnisvollen End- oder Angelpunkten der Fantasie und des Universums, deren theoretische Möglichkeit vor zweihundert Jahren erstmals von dem französischen Physiker Pierre Simon Laplace in Erwägung gezogen und zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts von dem deutschen Astronomen Karl Schwarzschild aus der einsteinschen Relativitätstheorie hergeleitet worden ist. Allerdings hat es danach noch sechs Jahrzehnte gedauert, bis 1971 der Röntgensatellit UHURU im Sternbild des Schwans ein Objekt aufgespürt hat, dessen eigenartiges Verhalten sich als indirekter Beweis für die Anwesenheit eines Schwarzen Lochs interpretieren ließ. Und genau vor zwanzig Jahren, am 9.1.1983, gaben die Amerikaner Anne Cowley und David Crampton die (freilich ebenso indirekte) Entdeckung des ersten extragalaktischen Schwarzen Lochs in der Großen Magellanschen Wolke bekannt, das seither den charmanten Namen LMC X-3 trägt.
Schwarze Löcher sind unsichtbar, aber sie sind nicht wirkungslos – im Gegenteil: Sie dominieren und verschlingen alles in ihrer Nähe, und wahrscheinlich liegt es daran, dass sie unsere Fantasie so hartnäckig in Gang setzen. Sie sind das Gespenst in der Dunkelheit oder das verdrängte Trauma, der grundlose Luftzug oder die vermeintliche Kraft aus dem Jenseits. Und wenn die Zeiten es hergeben, dann entpuppen sie sich sogar als die gefräßigen Bewohner von Staatskassen oder als populärwissenschaftliche Verkaufsschlager. Selbst im Cyberspace ist – wie eine schnelle Google-Recherche ergibt – bereits ein Schwarzes Loch ausgemacht: der Irak.
Der metaphorische Clou bei Schwarzen Löchern ist aber vielleicht weniger ihre ewige Dunkelheit, sondern vielmehr ihre naturgesetzlich garantierte Unerforschbarkeit. Darin liegt übrigens ein durchaus ernsthaftes und vieldiskutiertes theoretisches Problem: Wenn nämlich Information in Form von Licht oder Materie in ein Schwarzes Loch hineinzufallen vermag, aber prinzipiell keine Nachricht aus diesem herauszubekommen ist, dann stört diese Asymmetrie von Geben und Nehmen nicht nur das theorieästhetische Empfinden von weltbekannten Kosmologen wie Stephen Hawking, sondern auch die Gültigkeit bestimmter fundamentaler Sätze der Thermodynamik. Der einzige Ausweg aus dieser Zwickmühle besteht denn auch in der Annahme, dass überhaupt keine Information in Schwarze Löcher zu fallen vermag, sondern alles Ankommende auf deren Oberfläche abgespeichert wird, um gegebenenfalls (beim sogenannten Verdampfen der Löcher) wieder freigesetzt zu werden.
Dies mag irgendwie verstiegen und unwahrscheinlich klingen, doch man überlege sich die Konsequenzen für unsere nicht nur von Bildern, sondern mit Unmengen von Informationen überschwemmte Zivilisation. Was, wenn am Ende der Zeiten – wie es die Theorie vom entropischen Tod des Universums voraussagt – alle Schwarzen Löcher verdampften und die von uns produzierte und auf deren Oberflächen gefangene Information, sämtliche Sportnachrichten, die „Lindenstraße“ und noch der flaueste Comedywitz, wieder freigesetzt würde, um erneut das Universum und unsere darin herumtreibenden Seelen zu überschwemmen? So unwahrscheinlich ist das vielleicht gar nicht, denn zumindest unter dem Gesichtspunkt, dass Schwarze Löcher ebenso sehr Metaphern wie astronomische Objekte sind, dürfte es eine präzisere Charakterisierung dessen, was uns einst als Fegefeuer für unsere Sünden angedroht worden ist, kaum geben.
Ulrich Woelk
(2003)
Eine neue Künstleredition von Ulrich Woelk (soeben erscheinen):
Das letzte Buch von Ulrich Woelk