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Samstag, 22. Februar 2014

Maulbronn

Eingemauerte Katze in der Klosteranlage als Abwehrzauber

Sehr geehrter Herr!
Da Sie sich so auffällig opferwillig zeigten, darf ich Sie vielleicht um 7 M oder gleich um den Revolver bitten. Nachdem Sie mich zur Verzweiflung gebracht, sind Sie doch wohl bereit, mich dieser und sich meiner rasch zu entledigen...
"Vater" ist doch ein seltsames Wort. Ich scheine es nicht zu verstehen. Es muß jemand bezeichnen, den man lieben kann und liebt, so recht vom Herzen. Wie gern hätte ich eine solche Person!...
Ihre Verhältnisse zu mir scheinen sich immer gespannter zu gestalten, ich glaube, wenn ich Pietist und nicht Mensch wäre, wenn ich jede Eigenschaft und Neigung an mir ins Gegenteil verkehrte, könnte ich mit Ihnen verkehren, könnte ich mit Ihnen harmonieren. Aber so kann und will ich nimmer leben und wenn ich ein Verbrechen begehe, sind nächst mir Sie schuld, Herr Hesse, der Sie mir die Freude am Leben nahmen...

(Brief des 15-jährigen Hermann Hesse an seinen Vater am 14. September 1892 aus der Heilanstalt Stetten - nach einem Aufenthalt im Kloster Maulbronn)

Weitere Informationen - "Der Spiegel 3/1967"
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45522536.html


Donnerstag, 6. Februar 2014

Geburt eines Igels

Von Facebook zensiert: "Geburt eines Igels", Endart (1982)


Von Wolfgang Müller

In der Kunstkritik wird das Wort ‚Grenzüberschreitung‘ gern verwendet, um etwas als innovativ, neuartig oder avantgardistisch zumarkieren. Die aktuellen „Überschreitungen“ von Santiago Sierra und Artur Žmijewski werden vom gesamten Feuilleton heute überwiegend positiv bewertet. So tätowierte Sierra gegen Heroin und Geld eine durchgehende Linie auf den Rücken drogenabhängiger mexikanischer Prostituierter oder beabsichtigt(e) Gas in eine ehemalige Synagoge zu leiten (in die dann Besucher mit Gasmasken gehen sollten). Artur Žmijewski erneuert die Tätowierung eines ehemaligen KZ- Häftlings, des 92-jährigen Josef Tarnawa und inszeniert im Video „Fang mich!“-Spiele in der Gaskammer. Wie ich über diese „Grenzüberschreitungen“ denke, habe ich in einigen Veröffentlichungen dargelegt, beispielsweise hier: http://jungle-world.com/artikel/2012/04/44765.html. Auch der jüngst berufene Leiter der documenta 14, Adam Szymczyk hebt im Interview neben dem Soziologen Lucius Burckhardt den Berliner 7.Biennale Leiter Artur Žmijewski als innovativen Künstler hervor – für mich, den ich Lucius Burckhardt sehr schätze, eine wahrlich groteske Kombination. 

Zu den Kunstwerken, die ich in „Subkultur Westberlin 1979 – 1989.Freizeit“ veröffentlich habe, gehört die Fotografie „Geburt eines Igels“ der Künstlergruppe Endart von 1982, im Buch auf Seite 204 zu finden. Das Foto zeigt den Körper eines auf dem Rücken liegenden Mannes mit Sonnenbrille, zwischen dessen gespreizten Beinen der stachlige obere Teil einer Haarbürste liegt, die seinen Anus verdeckt. Durch die Perspektive, in der das Foto aufgenommen wurde, verdeckt sein Hoden visuell den unteren Teil seines Kopfes im Hintergrund, der angehoben ist und nach vorne schaut: „Die Geburt eines Igels“. Schöne oder erbauliche Kunst ist das ganz sicher nicht. Das Bild an die Wand hängen? Das hält wohl kaum jemand aus, auch ich nicht. Doch die Fotografie hat etwas, etwas unauflösliches und daher wollte ich sie haben. Sie ist seitdem Teil meiner überschaubaren Kunstsammlung.

„Geburt eines Igels“ postete ich auf die FB-Seite der geschlossenen Gruppe „Freies Westberlin“ als Beispiel subkultureller Kunst aus dem Westberlin der 1980er Jahre. Dort rief das Kunstwerk heftige Diskussionen hervor. So abstoßend dieses Foto auch ist: es verherrlicht weder Gewalt noch ist es pornografisch oder sexistisch. Auch reproduziert es keine Hierarchien wie bei Žmijewski oder Sierra, wenn sie ihre Kunst mit "anerkannten" Außenseitern realisieren und sich damit selbst in ein normatives Zentrum setzen. Das ist Macho-Erlöserkunst.

Interessanterweise hat sich die irritierende, verstörende, nichterlösende Wirkung von "Geburt eines Igels" bis heute erhalten – und das sagt einiges über das Kunstwerk aus, über dessen Spannung, die sich hinter der (hässlichen) Oberfläche entfaltet. Möglicherweise hat jemand aus der geschlossenen Gruppe „Freies Westberlin“ das Foto „Geburt eines Igels“ bei Facebook angezeigt. Denn zuvor war es dort längere Zeit online. Nach seiner Entfernung durch Facebook wurde ich zur „Strafe“ wegen Verstoß der FB-Regeln für 24 Stunden von jedem öffentlichen Posting ausgeschlossen – bis 11: 49 heute.

Die Galerie Endart, ein Westberliner Künstlerkollektiv um Klaus Theuerkauf, veranstaltete in den frühen 1980er Jahren viele damals „grenzüberschreitende“ Performances, die heute – dreißig Jahre später – risikofrei in kommerziellen Galerien ausgeführt werden können. Also, beispielsweise das Zeigen des Hitlergrußes in einer Performance, eine Geste, die dreißig Jahre später u.a. Jonathan Meese oft erfolgreich einsetzte, um Aufmerksamkeit im Feuilleton zu bekommen. Die einstige Provokation mit den verdrängten Symbolen der deutschen Vergangenheit, die im Punk der 1980er sichtbar wurde, ist heute, nach drei Jahrzehnten als „Pop“-Variante in der „Mitte der Gesellschaft“ angelangt. Nun "befreit" von der Last der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945, können die "Aufgeklärten" und neo-individualliberalen "Bescheidwisser" diese Kunst als Beweis einer aufgeklärten offenen flexiblen Gesellschaft lesen ( - eine Gesellschaft, die gleichzeitig den Druck auf das Individuum verstärkt, es diszipliniert und die sich im Ganzen mehr und mehr militarisiert).

Klaus Theuerkauf stellte seit 1980 in der Galerie Endart Kunst aus oder veranstaltete Performances, welche die damals diesbezüglich wesentlich strengeren Grenzlinien berührten: Beispielsweise die penibel ausgeführten Gemälde von Blalla W. Hallmann (http://de.wikipedia.org/wiki/Blalla_W._Hallmann), die den Holocaust thematisieren. In der endart-Galerie stellte auch Bruno S. bis zu seinem Tod 2010 regelmäßig aus. Erst wenige Monate vor seinem Tod, im Februar 2009, wurde der von einer kleinen Rente lebende Bruno S.(chleinstein) als Verfolgter des Nationalsozialismus anerkannt.

Auszug aus: „Subkultur Westberlin 1979 – 1989.Freizeit“, S. 410f:

„In einer auf Video dokumentierten Performance [von Endart] verbindet der unbekleidete, mit rechtem Seitenscheitel und Hitlerbärtchen ausgestattete endart-Künstler Wixfried Schüttelheimer (d. i. Ralph Arens) seinen schlaffen Penis mit einem langen schwarz-rot-goldenen Bindfaden. Er macht diesen an seinem rechten Arm fest. Dann reißt er den rechten Arm ruckartig zum Hitlergruß hoch, reißt dabei jedes Mal den Penis ein bisschen mit. Klaus Theuerkauf: „Dabei brüllte er: ‚Abspritzen, abspritzen!‘“ Das, so Klaus Theuerkauf, bezog sich auf den KZ-Arzt Josef Mengele, der bei seinen Experimenten mit Zwillingen beim Überleben eines der Zwillinge das Todesurteil mit dem Wort „Abspritzen“ gefällt habe. (…)“

Die Aktionen von Endart fanden damals Aufmerksamkeit in sehr begrenztem Umfang. Weder das bürgerliche, noch das linksalternative Feuilleton wurden zu Endart-Fans oder analysierten diese Aktionen. Zudem hatte sicher auch der martialische Stil und die starke Männerlastigkeit der Künstlergruppe Endart in den 1980er Jahren auf viele Kunstinteressierte eine etwas abschreckende Wirkung. Was mich auch persönlich interessierte, Fragen nach Geschlecht und Identität waren für Endart offenbar kein vorrangiges Thema. Die „Geburt eines Igels“ wäre jedoch ein guter Anlass, neu darüber zu reflektieren. Die Radikalität von Endart lag nicht an der Oberfläche, sie war vielschichtig und kümmerte sich wenig um den aktuellen Effekt in Medien oder Kunstbetrieb – das unterscheidet sie von der reinen „Provo“-Kunst, der zwanghaften Grenzüberschreitung, die heute Macho-Erlöserkünstler inszenieren, um kurzfristig mediale Aufmerksamkeitseffekte im Mainstream auszulösen. Die „Integration“ von Klaus Theuerkauf und Endart in den Kunstbetrieb ist bis heute auch deshalb nicht wirklich erfolgt. Die „Geburt eines Igels“ und dessen Zensur bei Facebook sind vielleicht ein gutes Beispiel dafür, warum das so ist.

Montag, 3. Februar 2014

Pierre Garnier

Pierre Garnier & Hartmut Andryczuk, Poetische Landschaften (1999)

Der französische Poet und Künstler Pierre Garnier ist am 1. Februar in Saisseval (Picardie) gestorben. 

Der Hybriden-Verlag verliert einen großartigen Künstler und Freund.

Ich kenne Pierre Garnier seit Anfang der 1990er Jahre. Seitdem sind viele Künstlereditionen mit ihm entstanden.

Zwei mal besuchte ich ihn und seine Frau Ilse Garnier in Saisseval in der Nähe von Amiens. 
Bei meinem letzten Besuch um die Jahrtausendwende sprach er bereits heiter von der Gegenwärtigkeit seines Todes. Der ließ noch lange auf sich warten – und trat erst 15 Jahre später ein. 

In den letzten Jahren schlief unser Kontakt etwas ein und die gegenseitigen Sendungen wurden weniger.

Geblieben ist jetzt eine umfangreichere Sammlung seiner großartigen Kunst und Poesie und die Erinnerungen an einen sehr besonderen und offenherzigen Menschen. 

(Hartmut Andryczuk)

Gesamtverzeichnis im Hybriden-Verlag mit vielen Künstlereditionen von Pierre Garnier:

http://www.hybriden-verlag.de/hybriden/seiten/buchkunst-archiv.html