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Samstag, 10. Juni 2017

"Ich hasse weiße Handschuhe" – Kein Nachruf auf Peter Zitzmann

Mit Peter Zitzmann in Lauf vor dem geschlossenen Wappensaal

Bei manchen Menschen ist es nicht vorstellbar, dass sie sterben. David Bowie war so eine Persönlichkeit; Peter Zitzmann ist eine andere. Ersterer starb im letzten Jahr, letzterer am Donnerstag, den 8. Juni 2017. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf.

Peter war davon überzeugt, mindestens 90 Jahre alt zu werden. Das war aber vor der Diagnose einer unheilbaren Krankheit, deren Lebenserwartung nach gegenwärtigem medizinischem Stand 2 bis 5 Jahre beträgt. Ein Thema war das kaum zwischen uns. Über Krankheiten und Ängste zu sprechen, bedeutet Krankheiten und Ängsten Raum zu bieten.

Früher besuchte ich ihn häufiger in Nürnberg: Besichtigung des Reichsparteitagsgeländes und dem Dokumentationszentrum im Schneesturm. Ausflüge ins Nürnberger Umland. Fränkische Grillteller und Brotzeiten. Manchmal war er bei mir in Berlin. Und vor dem Poetenfest Erlangen fand die von ihm initiierte Triennale "Druck & Buch" im Germanischen Nationalmuseum statt. Damals war dort noch Dr. Isphording für den Erwerb der Künstlerbücher zuständig. Sein Nachfolger hat weder die Leidenschaft und Energie, die Sammlung weiter zu führen – was wieder einmal beweist, dass die Qualität einer Sammlung von demjenigen abhängt, der sie betreut. 

Natürlich kannte auch Peter Zitzmann einige dieser indifferenten und gesichtslosen Bibliotheks- und Museumsleiter – Menschen machen Sammlungen und nicht der Etat. Seine Sammlung ist mittlerweile so angewachsen, dass sie sich locker mit denen bekannter Museen oder Bibliotheken messen kann. Dabei war er immer offen, unprätentiös, nicht repräsentativ, warmherzig. Im besten Sinne heimatverbunden, ein fränkischer Patriot und anarchistischer Sammler, der sich für seine Erwerbungen begeistern konnte. Einfach auch ein großartiger Mensch. 

Vor fast genau einem Jahr war ich bei ihm, um mit ihm über seine Sammler-Leidenschaft zu sprechen. Wir sassen entspannt auf dem Sofa, das Aufnahmegerät zwischen uns – und :unterhielten uns etwa eineinhalb Stunden. Das Ergebnis unseres Gesprächs transkribierte ich vor einigen Wochen, schickte ihm den Text, den er korrigierte. Dann ging das Manuskript zur letzten Überprüfung noch einmal zu ihm und er schickte mir die finale Fassung zurück. Der dritte Band „Die Kunst des Sammelns – Peter Zitzmann“ kann also erscheinen und gegenwärtig zeichne ich zu seinen Aussagen in dem Gespräch und kommentiere sie mit eigenen Worten. „ich hasse weiße Handschuhe“ ist so ein Satz oder auch „Das könnte jetzt zu tagelangen Diskussionen führen, was Originalgrafik ist und was nicht“. Dazu notiere ich: „Siebdruck ist doch irgendwie Scheisse“. 

Juni 2016. Ausflug mit Peter in die Ortschaft Lauf. Er will mir dort in einer Burg einen aussergewöhnlichen Wappensaal zeigen, aber der Wappensaal hat geschlossen. Also fahren wir weiter nach Hersbruck, wo wir das Hirtenmuseum mit einer Ausstellung von Reiner Zitta besuchen. Die Werke des Künstlers gefallen mir. An diesem Ort hätte ich das nicht erwartet. Überhaupt hat Peter ein großartiges Gespür für gute Kunst. Während unseres Gesprächs über derzeit bekannte Nürnberger Künstler nennt er den Namen Harri Schemm. Ich recherchiere ein wenig, finde ein Buch mit dem Titel „Radikaler Provenzialismus“ und schaue nach dem Werk. Ja, Harri Schemm ist ziemlich gut. 

Nach dem Besuch im Hirtenmuseum schauen wir uns das sogenannte „memorum“ an, also den Gerichtssaal, wo die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse stattfanden. Das Museum ist eine Konserve; ziemlich langweilig. Danach trennen wir uns. Am Abend schauen wir gemeinsam WM-Fußball. Peter sagt nichts, sitzt still da, wirkt irgendwie genervt. Bin ich der Grund? Eher nicht. Ich glaube, es geht ihm gesundheitlich nicht gut. 

Das folgende Jahr ist so wie immer: einmal im Monat telefonieren wir eine Stunde, ab und zu kauft er etwas, zwei- bis dreimal im Jahr sehen wir uns. 

Vor vier Wochen telefonieren wir noch einmal, sprechen über den Sammlerband und die bevorstehende "Druck & Buch" auf dem Poetenfest in Erlangen. 

Montag, 17. April 2017

Grönländische Reise



Begrüssungsrede von Hartmut Geerken auf Kalaallisut (Grönländisch) beim Arctic Sound Festival in Sisimiut/Grönland am 9. april 2017

kutaa arnat angutit!

qimuttut pinngarsimanerat nalunartulik ilisimatuunit qimuttat paasiuminaatsortaat alutornartut qulaajarniarneqalerput pisiffik sisimiut ilisimatuut nalunngilaat kingornuttakkatigut sananeqaatinik pigisaqarlutik, taakkualu quimuttut ukiut tuusintilikkuutaat ingerlaneranni qanoq ineriartortigisimanerannik imaluunniit qanoq paasisaqaatigineqarsinnaasut. pisiffik uummannaq kiarujussurarluniluq sialussuaroq. aasaanera kitaani isugutavoq, kangianili panerlunifik. ukiuunerata uummataata avannaani issittup inoqajuitsuani, kaperlaap qaammaterpassuarnik sivisussuseqarfigisaani, sulerulunneq, puisit neqaannik suaasatorneq, ilulissat koto pisiffik ulluinnarni suliassat bingortarnerlu atugaassapput. illoqarfilli aatsitassarsiorfiusoq avinngarussimasumiittoq angerlarsimaffittut sungiusimasatut ittuunavianngilaq. kangerlussuaq mittarfik ilulissat qaarsut nerisarfik sumiippa? qaarsut helikopteri uummannaq. sikkukut qamutit qimmeq. aallartussat nuuk. qujanaq! baaj takuss!

Freitag, 22. April 2016

Ein ärgerlicher Vorfall


Personen:
Herr Hölderlin
Radioreporter
Regie
Spot

Reporter: Meine Damen und Herren, wir befinden uns im
21. Stockwerk des Freizeitzentrums "happy familiy" – und
zwar auf dem Balkon von Herrn Hölderlin, der, wir haben
es bereits in der Vorschau angekündigt, heute Selbstmord
begehen will und wird. Und zwar wird sich Herr Hölderlin
in die Tiefe stürzen, was seinen sicheren Tod bedeutet.
Ueber uns nur noch der Himmel und der Whirlpool
des Freizeitzentrums... und jetzt sind wir beide, Herr 
Hölderlin und ich ganz allein. 
Herr Hölderlin hat mir freundlicherweise ein letztes Interview gewährt...
(wird leiser)
Herr Hölderlin, wie ist es denn gekommen, dass Sie keinen
Ausweg mehr sehen und Ihrem Leben ein Ende setzen
wollen ?

Hölderlin: (Unsicher)
Ich bin mir eigentlich nicht mehr so sicher...

Reporter: Wie meinen Sie das ?...

Hölderlin: Naja.. . ich habe mir das alles noch einmal gründlich überlegt
und muss sagen, dass ich es nicht tun kann. 

Reporter: Was können Sie nicht tun, Herr Hölderlin ?...

Hölderlin: Na eben, mich umbringen. In die Tiefe stürzen. Aufprallen. 
Mausetot sein. 

Reporter: Sie haben also nicht die Absicht, sich umzubringen ?...

Hölderlin: Nein.

Reporter: Aber Herr Hölderlin - was ist passiert ?

Hölderlin: Ich glaube, das ist keine Lösung...

Reporter: Regie ! – Bitte einen Spot !

Spot: „Nervös ? Abgespannt ? Sie sehen keinen Sinn mehr ?
Dann nehmen Sie "Happy Pronto" ! Ein Dragée jede halbe
Stunde und die Sorgen verschwinden mit einem Schlag !
"Happy Pronto" – für den modernen Mann und die selbst-
bewusste Frau ! Weil wir es uns wert sind !“

Reporter: Wir sind wieder vor Ort und unterhalten uns mit Herrn
Hölderlin, der keinen Sinn mehr sieht ...

Hölderlin: Eben doch ! Ich sehe ihn wieder, den Sinn, meine ich.

Reporter: Aber Herr Hölderlin, machen Sie sich nichts vor. 
Sie sind praktisch ein toter Mann. 
Vor ein paar Sekunden hatten Sie doch mit dem Leben 
abgeschlossen !

Hölderlin: Mit mir ist eine Wandlung geschehen.

Reporter: (Etwas verärgert)
Soso, eine Wandlung. 
Was für eine Wandlung, bitteschön ?
Herr Hölderlin ! Wir sind live auf Sendung !
Jede Sekunde zählt  - vergessen Sie das nicht !

Hölderlin: Es tut mir leid ... aber ich kann es nicht tun. 

Reporter: Achja -  Sie können es nicht tun. 
Regie - - einen Spot !

(Im Hintergrund läuft wieder der gleiche Spot während sich der Reporter leise mit Herrn Hölderlin unterhält)

Denken Sie doch an Ihre Familie. Muss ich Sie auf unsere 
schriftliche Vereinbarung aufmerksam machen ? 
Sie haben im Beisein Ihres Anwaltes einen 
rechtsgültigen Vertrag unterschrieben, wonach der vereinbarte Betrag an Ihre Frau erst überwiesen wird, 
wenn Sie auf dem Pflaster liegen. 
Erfüllen Sie also bitte den Vertrag.
Wir haben nicht ewig Zeit. Ich kann Ihnen sagen, andere
Menschen, die in Ihrer Lage sind, würden sich die Finger
lecken bei einem derart lukrativen Angebot eines Senders, 
Herr Hölderlin !

Hölderlin: Jaja, ich weiss... aber ich kann nun mal nicht – 
überall die Leute da unten – was rufen die denn ?

Reporter: Dass Sie endlich springen sollen – was sonst !

Hölderlin: Mit meiner Frau hab ich mich wieder versöhnt. 
Sie hat mir verziehen, dass ich mit dem letzten Roman keinen Bestseller gelandet habe... 
Reporter: Herr Hölderlin, wenn eine Ehe nicht mehr funktioniert, dann
ist das endgültig. Die Probleme werden wieder auftauchen –
in den ersten Wochen gibt man sich wieder Mühe, hält
ein freundliches Lächeln für den Partner bereit, um ihn bei
Laune zu halten. Aber das ist nur Fassade. Das Leben ist
eine schöne Fassade – das sollten Sie eigentlich wissen, 
Sie bekommen die einmalige Chance, sich einem breiten erwartungsvollen Publikum vorzustellen. 
Die Leser werden Ihre Bücher kaufen wie verrückt – aber was machen Sie ? Im letzten Moment ziehen den Schwanz ein. 
Das hat doch keinen Stil !

Regie: Sollen wir rübergeben ? - - Wir haben einen Familienvater, 
der droht seine Familie... 

Reporter: Wartet noch einen Moment ... ich glaube, er ist bald
soweit...

Hölderlin: Ich habe eine Idee für ein Exposé...
Ein Wissenschaftsschriftsteller findet, nach vielen privaten
Tiefen und beruflichen Erniedrigungen, wieder zu sich selber, 
glaubt an die Zukunft, seine Frau kehrt zu ihm zurück ...

Reporter: Das reicht. Das Publikum will das nicht hören. 
Es will Action !
Wann begreifen Sie das endlich ?

Hölderlin: Bis zur nächsten Buchmesse wird das Buch fertig !

Reporter: Denken Sie eigentlich nur an sich selber ?
Sind Ihnen Ihre Mitmenschen völlig gleichgültig ?
Und ich - bin ich denn niemand ?!
Ich habe Frau und zwei Kinder. Internat, Ferien, das Haus, 
zwei Autos, eine Freundin... was meinen Sie, was das alles kostet ?!
Meinen Sie, es sei leicht für mich, über Mörder, Selbst-
mörder, Vergewaltiger und korrupte Politiker zu berichten ? 
Da braucht es ein dickes Fell !

Hölderlin: Jaja, das tut mir auch leid.

Reporter: Dann seien Sie ein Mann !
Uebrigens, Ihre Frau betrügt Sie mit dem Cheflektor...

 Hölderlin: Dann habe ich keine andere Wahl... 

(Er springt – ein Aufschrei geht durch die Menge)

Regie: Alles in Ordnung ?...

Reporter: Jaja. 
Eigentlich kein übler Kerl... privat, meine ich. 
Was ist mit dem Familienvater ?...

Regie: Zu spät.

Reporter: Na dann.
Einpacken !

(Fritz Sauter)

Freitag, 4. März 2016

Orgie mit mir selber


orgie mit mir selber
eine radioautobiografie nach aufsteigender linie

ich ritze die jahreszahlen meines 'lebenslaufs nach aufsteigender linie' (theodor gottlieb von hippel) in die rinde der parititur. durch simultaneität, superimpositionen, konglomerierung & kontraktion wird die sonst ausufernde autobiografie gestaucht & der hörzeit angepasst.
von den frühkindlichen erinnerungen aus, ja aus dem fruchtwasser des atlantiks entwickelt sich eine sich selbst organisierende wort- & klanglandschaft ohne dramaturgisch aufgezwungene spannungsbögen. technische kontaktglieder wie schnitte, blenden, abbrüche sind synapsen, die all diese momente in beziehung zueinander bringen.
aus dieser nicht-erzählenden form heraus entsteht unwillkürlich & zwangsläufig eine art chronik aus den mehr oder weniger zufällig wiederentdeckten aufnahmen eines längst vernachlässigten privaten tonarchivs. 
es ergibt sich, unter dem parameter des zufalls, ein sprach- & klangkörper, der nichts mit chaos im landläufigen sinn zu tun hat, sondern es ist ein physisches & psychisches ganzes, eine untrennbare akustisch sich emanierende existenz. wie weit sich die autobiografie erschliesst, hängt genauso vom mündigen hörer ab wie vom wissenden autor. 


hartmut geerken
Soeben im Hybriden-Verlag erschienen. Hörspiel im Deutschlandradio mit Texten von Sabine Küchler und Hartmut Geerken. Auflage: 75 Exemplare, Reihe ELEKTRONIKENGEL. CD: 1:01:57, Berlin 2016

Freitag, 26. Februar 2016

Die Amsel

Foto von Wolfgang Müller

Die Erzählung „Die Amsel“ von Robert Musil wurde 1936 veröffentlicht. In mehrfachen Spiegelungen wird von zwei Jugendfreunden berichtet, genannt Aeins und Azwei Dabei werden drei Geschichten erzählt: Auf dem Dach eines Berliner Mietshauses singt eine Nachtigall. Am Ende heißt es: „Es war gar keine Nachtigall, es war eine Amsel.“ 
Meine kleine (wahre) Amselgeschichte hat sich heute zugetragen. Und sie beginnt so: Gegen 13.00 klingelte es. Der Paketbote fragte über die Sprechanlage, ob ich eine Sendung für eine Nachbarin annehmen würde. Ich sagte zu und kurze Zeit später öffnete ich die Wohnungstür. Der junge Bote stand da mit einem grauen Karton und einem Gerät für die elektronische Signatur. Beim Unterzeichnen fiel mein Blick auf ein dunkles starres Federknäuel, welches nur wenige Zentimeter entfernt von seinen Füßen stand, völlig bewegungslos. „Was ist denn das?“, sagte ich. Der Bote schaute ebenfalls nach unten. Es war eine Amsel, die mit aufgeplusterten Federn in Richtung meiner Tür stand, vollkommen starr, wie ein ausgestopftes Präparat. Wir schauten sie näher an. Sie rührte sich nicht, blinzelte nur kurz mit dem Augenlid.
Offensichtlich war das Tier ins Treppenhaus geflogen, hatte den Ausgang nicht mehr gefunden und war nun gelähmt vor Angst oder Verwirrung. Wir planten eine Rettungsaktion. „Ich hole eine Bahne Küchenpapier und werfe sie über den Vogel“, sagte ich, „wenn er nichts mehr sieht, dann kann man ihn ergreifen“. 
Doch die Rettungsaktion missglückte. Das Papier bedeckte zwar den Vogel, doch bei meinem ersten Zugriff schlüpfte er vorn aus der Papierbahn und hüpfte vier Treppenstufen hoch. Zwei weitere Fangversuche des DHL-Boten missglückten: „Ich möchte ihn nicht verletzen.“, sagte er. Ich ermutigte ihn: „Nein, so empfindlich sind die nicht, greifen sie einfach beherzt zu, mit beiden Händen.“ Tatsächlich gelang der vierte Versuch. Mit dem Vogel unter dem Papier in der Hand stieg der Bote die Treppe auf, öffnete das kleine Lüftungsfenster (Foto) und setzte den Vogel auf den Sims.
„Komisch. Er fliegt ja gar nicht weg“, wunderte er sich und drückte mir das zerknüllte Papier in die Hand. Ich meinte: „Vielleicht ist die Amsel noch benommen und muss sich erst mal neu orientieren?“ „Schauen Sie später noch mal nach?“, fragte der Bote, bevor er ging. Ich versprach das zu tun.

Wolfgang Müller

Freitag, 19. Februar 2016

Der die das Dada

Valeska Gert, Performance-Standbild
 nach einem Video von Ernst Mitzka

Centennial Die Kunstgeschichte ist bis heute damit beschäftigt, die Vielseitigkeit der Bewegung einzusortieren. Aber Dada erscheint immer dort, wo niemand es erwartet

Dada, das steht bis heute für Nonkonformismus, für Revolte, Anarchie und Anti-Kunst. Dada ist die Irritation aller Gewohnheiten, ist Grenzüberschreitung und die Infragestellung von Gewissheiten. Die Kunstgeschichte ist bis heute damit beschäftigt, die damals entstandene Vielfältigkeit einzusortieren, hat sich aber darauf geeinigt, dass Dada am 5. Februar 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire das Licht der Welt erblickte. Mitten im Ersten Weltkrieg, in der friedlichen Schweiz. Die ins Land emigrierenden Künstler verband eine radikal pazifistische Haltung. Offenbar gingen sie dem von Politikern und Militärs allenthalben gepredigten Fortschrittsglauben und politischen Notwendigkeiten nicht auf den Leim. Dada-Bewegungen entstanden zeitgleich auch in anderen europäischen Staaten und in New York. In den USA bildete sich eine Dada-Zelle aus exilierten Pazifisten wie Marcel Duchamp, Francis Picabia und der Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven.
Eigentlich widerspricht es dem Geist von Dada, ein 100-jähriges Jubiläum zu feiern. Denn die Kunstbewegung, die dem Wahnsinn der Realität einen Spiegel vorhalten wollte, stellte jedes Jubiläum in Frage – entlarvte es als Konstruktion oder Instrument von Machterhalt. Dada wusste: Vernunft und Rationalität, die die Politik für sich in Anspruch nimmt, sind längst abgeschafft, die Welt ist durchgeknallt. Wie grotesk klingen Worte von Gottes unendlicher Liebe, wenn die Bischöfe dabei die Waffen für das kommende blutige Gemetzel segnen? In Berlin unterbrach der Prä-Aktionskünstler und religiös-okkultistische Johannes Baader 1918 eine Dompredigt mit dem Zwischenruf „Was bedeutet euch Jesus Christus? Er ist genau wie ihr – ihm ist alles egal!“ und verteilte in seiner Funktion als Oberdada im Reichstag Flugblätter zur „Grünen Leiche“.
Offiziell heißt es, dass der „Künstler Hugo Ball mit seiner Freundin Emmy Hennings“ in der Zürcher Spiegelgasse 1 das Cabaret Voltaire gründete. Schon bald stießen der deutsch-französische Hans alias Jean Arp, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und die Tänzerin Sophie Taeuber hinzu. Und es wird deutlich, dass selbst der die das anarchische Dada eine ziemliche Männerwelt war. Also, deshalb an dieser Stelle anlässlich des Jubiläums mal ein wenig anders formuliert: „Die Sängerin und Schriftstellerin Emmy Hennings gründete 1916 mit ihrem Freund Hugo Ball das Cabaret Voltaire.“ Wie klingt das?

Bretons Fabrikmarke

Verglichen mit der Bewegung der Futuristen scheint Dada zumindest etwas offener für Künstlerinnen gewesen zu sein. Zumal fehlende Kriegsbegeisterung bei Männern bis heute als irgendwie unmännlich gilt. Die Futuristen, eine Männergruppe, waren hingegen fasziniert vom Krieg, schwärmten von dessen kathartischer Kraft und steckten voller Fortschrittseuphorie. Das Gegenteil verkörperte die prä-queere Tänzerin Valeska Gert, die in ihrer Biografie Ich bin eine Hexe über eine Matinee der Dadaisten in Berlin schrieb: „Der Höhepunkt des Programms war ein Wettrennen zwischen einer Nähmaschine und einer Schreibmaschine. An der Schreibmaschine saß George Grosz. Kaum im Saal entdeckt, schleifte man mich auch schon auf die kleine Bühne, und ich tanzte zu den Geräuschen der beiden Geräte, eine Tüte aus Zeitungspapier mit zwei Pfund Spargel im Arm – also, es gab schon damals Happenings.“

Einige Jahre später, 1926, gerät ein von Valeska Gert als „Surreale Tänze“ angekündigter Auftritt in Paris zum Desaster. Die Schriftstellerin Claire Goll erinnert sich: „Kaum erschien Valeska Gert auf der Bühne, so machten sich die Surrealisten mit gellenden Pfiffen und faulen Eiern Luft. Im Zuschauerraum entstand ein unbeschreibliches Getümmel. André Breton sprang auf einen Sitz und beanspruchte laut für sich das alleinige Recht, das Wort Surrealismus zu gebrauchen. Es war kein Dichter mehr, der da gestikulierte, sondern der Exklusivbesitzer einer Fabrikmarke.“

In den Dada-Zentren Berlin, Hannover und Köln führt das Vorhaben, die Ideologien, Ismen und Bluffs von Religion, Politik und Kunst zu entlarven, letztlich zu eigenwilligen Ästhetiken. Auch „Anti-Kunst“ wird spätestens mit zeitlicher Distanz wieder Kunst – das müsste inzwischen bekannt sein. Ist es aber nicht. Bis heute wird ein stundenlang „Heil Hitler“ kreischender Performancekünstler in Kunst und Medien als „provokanter Dada-Künstler“ und „Tabubrecher“ bezeichnet. Ob sich durch solch fade Effektkunst die gegenwärtige Macht des Neo-Individualliberalismus bestätigt, in dem die zeitgenössische Kunst inzwischen als Beleg grenzenloser Freiheit funktionalisiert wurde? Das wird kaum hinterfragt.

Während der Berliner Dadaismus der 1920er mit John Heartfield, Richard Huelsenbeck und Raoul Hausmann seinen politischen Anspruch betonte, stellte Hannah Höch zusätzlich unbequeme Fragen nach den tradierten Geschlechterrollen. Auch die moderne Kunst entwickelte sich in einer Gesellschaft guter Kumpels, die über entsprechende Netzwerke verfügten. Während die Dadaisten aus Berlin dem Hannoveraner Künstler Kurt Schwitters politisches Bewusstsein absprachen und ihm die Rolle eines spießbürgerlichen Ästheten zuwiesen, blieb er zeitlebens freundschaftlich eng mit Höch verbunden. Für die langjährige lesbische Beziehung zwischen Hannah Höch und der niederländischen Schriftstellerin Til Brugman zeigten allerdings auch die Dadaisten kaum ein größeres Verständnis als Otto und Anna Normal.

Und Post-Dada? In den 1960ern waren Yoko Ono und Joseph Beuys im Fluxus aktiv. Beuys reproduzierte die Zeitungsannonce „Künstler für die SPD“, druckte darüber in altdeutschen Lettern „Kitschpostkarte“ und fügte sie ein in die Postkartenedition seines Kollegen Klaus Staeck. In den 1970ern war SPD-Mitglied Staeck mit Plakaten in der aufklärerischen Tradition des Dadaisten John Heartfield bekannt geworden. Heute wirken ernstgemeinte Wahlplakate, auf denen die SPD „soziale Gerechtigkeit“ fordert, wie groteske Wiedergänger von Klaus Staecks satirischen Politplakaten der 1970er. Die sich in den Betrachtern vollziehende Interaktion zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen Form und Inhalt scheint einen elementaren Teil seiner Kunst aufgelöst zu haben. Die Realität hat sie eingeholt. Was bleibt übrig?

Überdies sehr vernünftig

Ein weiteres Mal tauchte Dada 1977 im Gewand des Punk auf: als Anti-Popmusik. Auf dem grellfarbigen Cover der Sex-Pistols-LP Never Mind the Bollocks prangte der Bandname in unterschiedlichen Buchstabenfonts – ein Erpresserbrief, Identität verschleiernd. Solches Design wird bis heute sofort mit Punk identifiziert. Die Ästhetik der Linksalternativen, die im gleichen Zeitraum Selbstverwirklichung und Individualität propagierten, ist dagegen in der Bionadebiedermeier-Ästhetik spurlos aufgegangen und diese im Mainstream. Auf euphorisch bunten taz-Sonderseiten zum Schlagerwettbewerb ESC verschwindet jede ästhetische Differenz beim Versuch homonationaler Identitätskonstruktion.

Das Verschwinden oder Erscheinen von Kunst und Ästhetik haben Marcel Duchamp und Valeska Gert früh thematisiert. Während Erstgenannter mit industriell hergestellten Readymades wie einem Urinal 1917 darauf hinwies, dass die Kunst im Betrachter selbst entstehe, brach Valeska Gert die damalige Konvention vom Fortschrittsglauben 1919 mit Tänzen wie Pause. Und während Gert 1920 das Boxen erlernte, um es als Frau im modernen Tanz umsetzen zu können, verwandelte sich Duchamp für einen Parfumflakon in Madame Rrose Sélavy.

Dada erscheint seither in immer wieder anderer Gestalt, vor allem dort, wo es niemand erwartet. Der Komiker Jón Gnarr gewann 2010 nach dem Bankencrash mit seiner „Besten Partei“ unerwartet die Bürgermeisterwahl in Reykjavík und setzte dann konsequent Dada-Politik um. Er versprach, besonders korrupt zu sein – und brach sein Wahlversprechen. Beim isländischen Gay Pride hielt der fünffache Familienvater verkleidet als Ehefrau Jóga die Rede: „Ich vertrete heute meinen Mann, den Bürgermeister.“

Gnarrs Beispiel zeigt: Das Provokante ist auch heute selbstironisch, liebevoll, human, pazifistisch und überdies sehr vernünftig. Nach vier Jahren Dada-Regierung war Reykjavík schuldenfrei und Jón Gnarr dermaßen beliebt, dass er laut Umfragen sogar Präsident von Island werden könnte. Falls er es denn wollte.


Wolfgang Müller